Band 7: Die Lehre von den Zyklen
- Theosophische Perspektiven
Einleitung
Die Lehre von den Zyklen, wie sie in der theosophischen Literatur beschrieben wird, ist ein sehr wichtiges, fesselndes und erhellendes Thema. Wenn wir uns mit den Zyklen beschäftigen, erkennen wir, dass sie von logischen und umfassenden Gesetzen regiert werden, die nicht nur mit unserem täglichen Leben eng verknüpft sind, sondern auch einen universalen Wirkungsbereich haben. Außer auf unsere eigene Existenz beziehen sie sich ebenso auf jedes andere Wesen im Universum. Kurzum, das Gesetz der zyklisch wiederkehrenden Ereignisse erweist sich als Grundlage oder als der Regulator von Ereignissen und Handlungen – sichtbaren und unsichtbaren, spirituellen und materiellen, in Zeit und Raum. Es lehrt uns schließlich, warum die Dinge in einem bestimmten Moment geschehen. Im Altertum verstand man den mächtigen Einfluss des Naturgesetzes der Periodizität und wusste, dass es einen Bestandteil im kosmischen Plan der Einheit bildet, indem man sagte: „Wie oben, so unten.“
H. P. Blavatsky, die zur Reihe der großen Lehrer gehört, welche der Menschheit periodisch einen Teil der Alten Weisheitslehren wiederbringen, wies darauf hin, dass dieses Gesetz uns aufmerksam macht auf …
… die absolute Universalität des Gesetzes der Periodizität, von Bewegung und Gegenbewegung, von Ebbe und Flut, welches die Naturwissenschaft in allen Bereichen der Natur beobachtet und aufgezeichnet hat. Ein Wechsel wie der zwischen Tag und Nacht, Leben und Tod, Schlafen und Wachen, ist eine so allgemeine, so vollkommen universale und ausnahmslose Tatsache, dass es leicht zu verstehen ist, dass wir darin eines der absolut fundamentalen Gesetze des Weltalls erkennen.
– H. P. BLAVATSKY, The Secret Doctrine, I: 17
Zyklen sind so alltäglich, dass wir sie für ebenso selbstverständlich halten wie die Luft, die wir einatmen, das Wasser, das wir trinken und den festen Boden unter unseren Füßen. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne das alle vierundzwanzig Stunden stattfindende vertraute Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit und die regelmäßigen Jahreszeiten aussehen würde – Ereignisse, die mit der täglichen Rotation der Erde und dem jährlichen Lauf um die Sonne in Zusammenhang stehen. Auch wir folgen demselben rhythmischen Lauf der Dinge; am Abend gehen wir schlafen und erwachen am nächsten Morgen zu einer neuen Periode der Aktivität. So verläuft in etwas größerem Maßstab unser ganzes Leben. Wir beginnen in der nebelhaften Morgendämmerung eines Kleinkindes, erwachen allmählich zum Stadium des heranreifenden Kindes, gelangen in das volle Tageslicht der Jugend und so weiter, bis zur Mittagsstunde der Reife. Dann folgt die Umkehr auf dem Bogen dieses einen Lebens und wir werden allmählich langsamer, um in den länger werdenden Schatten des Alters Ruhe zu finden. Aber der Pulsschlag des spirituellen Selbst tief in uns hört nie auf, ob wir hier verkörpert oder von der Erde befreit sind. Wenn uns der Tod vom Körper erlöst, beginnt in der Heimat der Seele ein neuer Zyklus der Wiedergeburt.
Nach dem Tod erwacht unser besseres Selbst in höheren Regionen, wo es von erhebenden Visionen und einer segensreichen, erfrischenden Ruhe erfüllt wird, die für eine weitere Periode irdischer Erfahrungen Kraft und Mut verleihen. So kommen wir immer wieder zurück – mit dem frischen Körper und Gehirn eines Neugeborenen, bereit für die nächste Runde in jenem Prozess, der uns dem erhabenen Ziel entgegenführt. Alle unsere vielen Leben sind Mini-Kreisläufe auf dem majestätischen Bogen des Lebenszyklus des Sonnensystems. So kommen auch die unzähligen Universen ins Dasein. Nachdem die mächtige kosmische Bewegung einer manifestierten Lebensperiode ihren Höhepunkt erreicht hat, wendet sie sich dem Ende ihres Kreislaufs zu. Für eine kosmische Ruheperiode löst sich schließlich das gesamte Universum in das Meer des Raumes auf, wo sich alles für eine neue, großartigere Runde manifestierten Lebens bereit macht. „Wie oben, so unten.“
Die vorüberziehenden Augenblicke können wir sozusagen als Zeit-Atome betrachten, als sich drehende Zeiteinheiten. Ihre rhythmischen Wiederholungen sind während der Lebensperiode eines Universums wie ein ständiger Pulsschlag der Zeit, mit all seinen miteinander verbundenen Rädern innerhalb von Rädern der Zeit, des Raumes und des Bewusstseins. Der menschlische Pilger ist ein Funken der göttlichen Flamme, die durch alle Reiche der Materie herabsteigt, um später wieder durch ein vervollkommnetes Mensch-Sein zum Gott-Sein auf dem Weg zurück zum Göttlichen aufzusteigen.
Ein Zyklus bedeutet einen Ring oder eine Umdrehung. Er ist kein geschlossener Ring, sondern ein fortschreitender Kreislauf, der sich ausbreitet und vorwärts strebt, so dass der Pfad jeder vorhergehenden Runde durch einen größeren Bogen des Fortschritts überdeckt wird. Die Form eines Zyklus gleicht einer Wendeltreppe, und wenn wir hinauf- oder hinuntergehen, befinden wir uns immer oberhalb oder unterhalb des Niveaus der vorigen Stufe oder der verschiedenen Stufen, die gemeinsam eine Runde bilden. Ebenso erkennen wir die Form eines Zyklus in der Weise, wie sich das Gewinde einer Schraube von ihrer kleinen Spitze hochwindet. Wieder ein anderes Beispiel ist eine Spiralfeder oder die flache Feder, die in einer Armbanduhr oder Standuhr das Gleichgewicht aufrecht erhält.
Aber keine symbolische Form könnte auch nur einigermaßen die komplizierten Bewegungen und den komplexen Charakter der unzähligen Räder innerhalb von Rädern der Zeit, der Bedingungen und des bewussten, sich entfaltenden Lebens darstellen, die immer gemeinsam tätig sind. Universale Bewegung folgt auf allen Ebenen des Seins einer spiralförmigen Bahn, materiell und über-materiell. Derselbe evolutionäre Pfad setzt sich durch die materiellen, mentalen und spirituellen Reiche fort. Zeigt nicht auch das tägliche Leben ein Zusammenspiel der Aktivität von Körper, Seele und Geist im Menschen?
Wie wir sehen werden, umfassen die größeren Zyklen zahllose kleinere von unterschiedlichem Umfang, unterschiedlichem Charakter und aufeinanderwirkenden Einflüssen. Es gibt nichts Zufälliges bei alledem, denn alles bewegt sich mit der koordinierten Präzision intelligenter Führung. Wir befinden uns in einem Universum, das Naturgesetzen und einer natürlichen Ordnung untersteht. Wir wissen, dass die Natur in ihren Bewegungen keine unregelmäßigen und unbegründeten Sprünge macht. Das Kind wächst nicht an einem Tag heran, noch wird der Winter über Nacht zum Sommer. Jedes Ding und jedes Ereignis spielt seine Rolle in einer größeren Runde, geht jedoch trotzdem seinen eigenen Weg, der karmisch1 auf das Ganze abgestimmt ist.
Wie Zyklen ineinander greifen und sich vermischen, zeigt sich deutlich in der Geschichte der großen Rassen. Auch hier gilt dieselbe Regel. Das Ende eines großen Rassenzyklus verschmilzt mit dem Beginn einer neuen Rasse; und diese Veränderung findet am Höhepunkt der Existenzperiode einer dritten Rasse statt, so dass sich gleichzeitig mit der bestehenden Rasse Überreste der vorigen, verschwindenden Rasse und Vorläufer der neuen aufkommenden Rasse auf der Erde befinden. Alles verhält sich ebenso natürlich wie die ineinander greifenden Veränderungen und Geschehnisse im täglichen Leben. Gestern, heute und morgen folgen gemeinsam ihrem Weg – wie eine fortwährende Bewegung. Unser eigenes Identitätsgefühl, das jetzt vollständig entfaltet ist, ist auch der Schnittpunkt eines verschwindenden Selbst aus der Vergangenheit und eines aufkommenden zukünftigen Selbst.
Die Zyklen der Rassen werden weiter hinten in diesem Buch besprochen, wir beschäftigen uns zunächst mit einem etwas vertrauteren Beispiel von ineinander greifenden und sich vermischenden Einflusssphären. Die periodische Rückkehr karmischer Bedingungen aus früheren Leben erklärt einen Großteil der verwirrenden Zustände der heutigen Welt. Während unsere moderne Zivilisation einen gewissen Höhepunkt in einer hervorragenden intellektuellen und materialistischen Evolution erreicht hat, verschwindet im Allgemeinen allmählich die alte Ordnung der Dinge bezüglich Regierung, Wissenschaft, Religion und Wirtschaft. Die Kämpfe des zu Ende gehenden Zyklus vermischen sich mit den Geburtswehen eines neuen, der den Weg zu einem gesünderen und ausgeglicheneren Fortschritt eröffnen wird. Die Weisen unter uns sehen vielleicht in den Zeichen der Zeit eine deutliche Herausforderung. Es liegt eine Gefahr darin, wenn man zurückblickt und sich im individuellen und kollektiven Leben an veralteteten Richtlinien festklammert. Wer sich auf die feineren Kräfte seiner eigenen Natur beruft, wird vorwärtsschreiten und sich an der mächtigen Kraft des universalen Lebens beteiligen, das beständig durch alles, was ist, und alles, was lebt, fortfließt.
Die heutigen Umstände scheinen in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung dessen zu sein, was während des Höhepunkts der römischen Macht und Wissenschaft vorherrschte, vor dem Untergang und Fall des Kaiserreichs. Auch uns mangelt es an jenem ausgleichenden, spirituellen Wachstum, das für das natürliche Gleichgewicht zwischen den großen Errungenschaften auf mentalem und materiellem Gebiet wesentlich ist. Offensichtlich stoßen auch wir an die sicheren Grenzen der Kontrolle der Kräfte von Geist und Materie. Diese an sich neutralen Kräfte können eine große Macht ausüben –zum Guten oder zum Bösen. Zum Wohl der Menschheit angewendet sind sie ein Segen; selbstsüchtig angewendet führen sie zu Auflösung und Vernichtung. Wir brauchen die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Für die Menschheit ist die Zeit gekommen, vollständigere Menschen zu werden und aus ihrer eigenen Natur die dazu benötigten feineren und edleren Eigenschaften und Kräfte wachzurufen. Zweifellos leben wir in einer kritischen Zeit. Wenn wir jedoch der damit verbundenen Verantwortung offen entgegentreten, könnte sie zu einer Zeit mit außerordentlichen Möglichkeiten für uns werden. Der Mensch ist eigentlich ein spirituelles Wesen; und er kann die Kräfte beherrschen, die er in seiner Selbstsucht zum eigenen Untergang anwenden könnte. Dieselben Kräfte können angewendet werden, um eine bessere und fortschrittlichere Welt aufzubauen. Denn hinter den verdunkelnden Wolken bricht bereits die Morgendämmerung eines neuen Zyklus von innerem Licht, von Frieden und Fortschritt an.
Die Meister der Weisheit sahen die heutigen chaotischen Verhältnisse voraus, unter denen wir jetzt auf der Erde leben – aufgrund ihrer Kenntnis und Einsicht in die Wirkungsweise des zyklischen Gesetzes. Sie sandten ihre Botin, H. P. Blavatsky, um die Menschheit auf die unabwendbare Verwirrung vorzubereiten, die mit jeder Übergangsperiode einhergeht. Sie gründete die Theosophische Gesellschaft mit dem Ziel, die vergessene Wahrheit über unser göttliches Geburtsrecht, das alle in einer Universalen Bruderschaft vereinigt, zurückzubringen. In Hinblick auf den gemeinsamen Ursprung der Menschheit, ihre gegenseitigen Interessen und ihre letztendliche Bestimmung ist es an der Zeit, von unwichtigen Dingen Abstand zu nehmen und mit dem neuen Zyklus vorwärtszuschreiten – mit dem Großen Plan zu arbeiten.
Während dieses zwanzigste Jahrhundert sein Tempo zu erhöhen scheint, erzählen uns die Astronomen, dass unser planetarisches Zuhause – die gute Erde – auf ihrer Reise durch den Raum ebenfalls ein neues Gebiet betritt. Mutter Erde bringt uns dahin, wo – in dem Zodiak genannten zwölfspeichigen Rad – der Einfluss von Aquarius vorherrscht. Tatsächlich bewegt sich alles entlang eines konischen, spiralförmigen Aufwärts-Pfades. Deshalb ist es unmöglich, dass irgendetwas – wie kurz oder lang sein Lebenspfad auch sein möge – an dieselbe Stelle zurückkehren kann wie in einem geschlossenen Kreis. Wir können an unseren Mond auf seinem monatlichen Lauf rund um die Erde denken, die ihrerseits jährlich eine Bahn um die Sonne beschreibt, deren Umlauf ein größeres Zentrum einer Galaxie umkreist, die auf ihrem Weg durch den grenzenlosen Raum herumwirbelt. Jeder Himmelskörper folgt – abgesehen von seinem eigenen Lauf – auch der größeren Bahn eines anderen, sich bewegenden Zentrums. In dieser ewigen Bewegung eines göttlichen Mechanismus gibt es unendlich viele Räder innerhalb von Rädern, die sich alle dem universalen Plan und dem universalen Ziel entsprechend drehen. Der Verstand ist zu beschränkt, um dieses großartige Bild überblicken zu können, aber es ist deutlich, dass die Bahn eines Himmelskörpers an jedem Punkt, den er erreicht, auf seinem Wege im Kosmos weiter fortgeschritten ist als bei seiner vorigen Runde. „Es gibt weder einen Anfang, noch ein Ende.“
Es ist ein stimulierender und befreiender Gedanke zu wissen, dass wir alle in solch guter Gesellschaft durch das Universum reisen, denn jeder Planet und jede Sonne und jeder Stern ist der Körper oder der Wohnsitz eines erhabenen himmlischen Wesens. ‘Ein freundliches Universum’ ist nicht nur so eine Redensart, sondern eine buchstäbliche Wahrheit. Der ganze Zweck der Dinge ist so vollkommen, so gerecht und so natürlich, dass die einzige Frage lautet: „Wie könnte es anders sein?“