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Quelle des Okkultismus

II – Schulung geht den Mysterien voraus

Esoterische Schulung

Wir kommen nun direkt zur eigentlichen Ausbildung in der esoterischen Schulung. Hier wird zu Beginn jedem Neophyten vermittelt, dass der erste Schritt darin besteht, „zum Wohle der Menschheit zu leben“, und der zweite, im täglichen Leben die „sechs glorreichen Tugenden“ oder Pāramitās anzuwenden. Solange er nicht alle Wünsche nach persönlichem Profit oder Gewinn vollständig aufgegeben hat, ist er ungeeignet, auch nur zu versuchen, den Pfad zu betreten. Er muss damit beginnen, für die Welt zu leben. Sobald seine Seele von diesem unpersönlichen Verlangen entflammt ist, ist er bereit, wenigstens einen Versuch zu wagen.

Vielleicht das Wichtigste, was der neue Aspirant begreifen muss, ist die Tatsache, dass es lediglich eine Art ist, die Wahrheit auszudrücken, wenn der Chela-Pfad als ein düsterer, sorgen- und endlos opfervoller Weg vorgestellt wird. In Wirklichkeit ist er der erfreulichste Lebensweg und Leitfaden für das Verhalten, den sich die Menschen vorstellen können. Trotzdem habe ich oft gedacht, dass die Schwierigkeiten nicht ohne Grund etwas überbetont worden sind: um zu verhindern, dass der vom persönlichen Ehrgeiz Getriebene dorthin eilt, wo sich Engel zu wandeln fürchten. Auch das hat seinen guten Grund, denn die vielen Gefahren, die auf den ungeschulten und halbherzigen Bewerber um okkulten Fortschritt lauern, sind äußerst real. Die Wahrscheinlichkeit, einen Fehltritt zu tun oder seine Füße im Morast der eigenen niederen Natur zu beschmutzen, ist so gewiss, dass die Warnungen nicht nur menschenfreundlich sind und höchstem Mitleid entspringen, sondern auch sorgfältig erwogen wurden, um auf die notwendige Schulung, die jeder Einführung in die Mysterien vorausgehen muss, besonders hinzuweisen.

Um das eben Gesagte nochmals prägnanter auszudrücken: Der Pfad der Chelaschaft macht jene unbeschreiblich glücklich, die geeignet sind, ihn zu betreten. Er bedeutet, beständig im höheren Teil seiner Natur zu leben, wo nicht nur Weisheit und Wissen wohnen, sondern auch das sich in Mitleid und Liebe stetig erweiternde Herz, um das gesamte Universum in sein umfassendes Verstehen einzuschließen. Diese Schönheit des Chela-Pfades ist in der Tat so erhaben, dass sie nahezu immer von Schleiern verhüllt ist, um den Unvorsichtigen nicht in Versuchung zu führen, in jene Regionen vorzudringen, deren feinen und Leben spendenden Äther seine Lungen noch nicht atmen können. Wir im Westen haben trotz der edlen ethischen Lehren unserer allgemein anerkannten Religion schon viel zu lange vergessen, dass das geistige Leben während der Verkörperung das einzig würdige Leben ist. Es ist in Wirklichkeit die Vorbereitung für ein selbstbewusstes Leben jenseits der Portale des Todes, ohne dabei die Kraft und die Fähigkeiten zu verringern.

Deshalb bedeutet Chelaschaft zu lernen, in anderen Ebenen als den physischen „zu Hause“ zu sein. Es leuchtet gewiss ein, dass der Ungeübte hilflos wie ein Neugeborenes wäre, stünde er den stark veränderten Umständen gegenüber, denen er auf Schritt und Tritt begegnet, wenn er plötzlich in diese andersartigen Welten geworfen würde.

Esoterische Schulung ist das Ergebnis jahrtausendelanger gründlichster Studien, die die größten Weisen und die hervorragendsten Denker, die die menschliche Rasse je hervorgebracht hat, absolviert haben. Es ist kein beliebiges Studium von Regeln, die der Schüler zu befolgen hat, obwohl selbstverständlich angenommen und erwartet wird, dass er gewisse Regeln befolgt. Diese Ausbildung ist auch ein Umarbeiten – oder eine Konversion im ursprünglichen Sinne dieses lateinischen Wortes – des Persönlichen in das Geistige und ein Ablegen aller Begrenzungen, die zum gewöhnlichen Leben gehören. Damit werden die Fähigkeiten, die Kräfte und der Handlungsspielraum erlangt, die dem Wachstumsgrad des Initiierten oder Adepten entsprechen.

Nichts ist so täuschend wie die Irrlichter der Māyā. Oft enthalten schön aussehende Blumen, entweder in der Knospe oder im Dorn, tödliches Gift; ihr Honig bringt der Seele den Tod. Kein Chela darf jemals irgendwelche psychischen Kräfte entwickeln, solange nicht das feste Fundament gelegt ist, um die spirituellen und intellektuellen Energien und Fähigkeiten hervorzurufen: Vision, Willenskraft, äußerste Selbstkontrolle und ein Herz, das mit Liebe für alles erfüllt ist. So lautet das Gesetz. Deshalb ist es nicht nur dem Anfänger verboten, latente Kräfte zu aktivieren und anzuwenden oder noch schlafende Fähigkeiten zu erwecken, sondern auch jene, die aufgrund ihres vergangenen Karmas mit solchen erwachenden inneren Fähigkeiten geboren wurden, dürfen diese Kräfte mit Beginn ihrer esoterischen Schulung nicht mehr gebrauchen, weil diese Ausbildung alles mit einschließt, d. h. jeder Teil der Natur muss in harmonische und symmetrische Beziehung mit jedem anderen Teil gebracht werden, bevor der Pfad gefahrlos betreten werden kann.

Es kommt jedoch der Zeitpunkt, an dem der Schüler individuell betreut und darin unterrichtet wird, wie die Seele befreit werden kann, damit sie durch den Körper weniger behindert wird, und wie er durch ganz bestimmte Übungs- und Verhaltensregeln sowie durch die Art des Denkens in jeder Hinsicht edler wird. Dazu gehören erstens: die Philosophie, ein gewisses Maß an Wissen über das Leben im Universum; zweitens: die Schulung; und drittens: die Mysterien. So ist die Reihenfolge. Bis zu einem gewissen Grade überschneiden sich die Abläufe, obgleich auf jeden der drei Punkte besonders eingegangen wird, wenn seine Zeit gekommen ist.

Um alles noch einmal deutlicher hervorzuheben: Der erste Punkt, die Philosophie, enthält Lehren, die bereits die Art der Mysterien andeuten und ein gewisses Maß an Schulung und Intuition erfordern. Darauf folgt die Schulung, bei der zwar gleichfalls Lehren gegeben werden, durch die aber der Neophyt vor allem unterrichtet wird, wie er sich selbst kontrolliert, wie er sein muss und was er tun sollte, wobei die folgenden Mysterien stärker angedeutet werden. Danach kommen als Drittes schließlich die Mysterien, die man praktischen Okkultismus nennt. Dabei wird mit dem einzelnen Schüler gearbeitet und er wird unterwiesen, wie er den Geist in sich befreit und die eigenen Fähigkeiten freisetzt. Hierbei erfährt er eine noch größere Schulung, eine noch erhabenere Philosophie.

Die Initiation umfasst sieben Stufen. Die ersten drei Stufen sind die Schulen der Disziplin und des Lernens. Die vierte ist ähnlich, jedoch viel weitreichender, denn hier beginnt der edlere Zyklus der Einweihungsschulung. Es hängt allein von dem einzelnen Schüler ab, welchen Fortschritt er erzielt. Er ist ein freier Mensch mit freiem Willen. Seine Bestimmung ist es, ein Gott zu werden und eine selbstbewusste Aufgabe in der Führung des Universums zu übernehmen. Deshalb muss er seinen eigenen Weg wählen, wobei er sich aber davor hüten muss, dass sein Egoismus und seine selbstsüchtigen Neigungen, wenn diese noch vorhanden sind, ihn bei der Ausübung der göttlichen Fähigkeit des freien Willens auf den linken Pfad mitreißen. Gefahren lauern auf Schritt und Tritt, sie kommen nicht von außen, sondern von innen.1

Deshalb ist Disziplin auf der ganzen Linie unentbehrlich. Der Unterschied zu dem, was sonst in allen Bereichen der menschlichen Schulung vorherrscht, liegt nur darin, dass diese Lehren den Ursprung all jener spiri­tuellen und ethischen Grundwahrheiten bilden, von denen sich sowohl die Kul­turen der Vergangenheit als auch die Menschen, die diese Kulturen schufen, leiten ließen. Die Grundlage der Schulung ist Selbstvergessenheit, die mit Un­persönlichkeit gleichzusetzen ist. Um diese zu erlangen, haben die Weisen und Seher, die die Gründer der Mysterienschulen vergangener Epochen waren, weitere Regeln als Hilfe eingeführt.

Die Regeln selbst sind einfach, so einfach, dass der mit dem okkulten Gesetz nicht vertraute Neuling oft enttäuscht ist, nicht etwas Schwierigeres zu finden, und dabei vergisst, dass die tiefsten Wahrheiten immer die einfachsten sind. Eine dieser Regeln lautet, niemals zurückzuschlagen, nie zu vergelten, sondern lieber Unrecht schweigend zu ertragen. Eine weitere Regel besagt, sich niemals zu rechtfertigen, Geduld zu haben und den karmischen Ausgleich dem höheren Gesetz zu überlassen. Und noch eine Regel, vielleicht die wichtigste in dieser Schulung, lautet, vergeben und lieben zu lernen. Dann wird alles andere in natürlicher Weise kommen und sich unmerklich ins Bewusstsein einschleichen. Man wird die Regeln intuitiv verstehen und geduldig, mitfühlend und großherzig ausharren.

Sehen wir denn nicht, wie schön es ist, nicht zu vergelten, sich nicht zu rechtfertigen, Unrecht zu verzeihen und zu schweigen? Diese Regeln kann man sich nicht genug zu Herzen nehmen. Man sollte sie aber auch völlig unpersönlich befolgen, damit man nicht anfängt, über echte oder eingebildete Beleidigungen zu brüten. Jedes nagende Gefühl der Ungerechtigkeit wäre fatal und würde bedeuten, in passiver Weise gerade das zu tun, was – sowohl aktiv als auch passiv – vermieden werden sollte.

Der Grund, warum man im Falle eines Angriffs oder einer Anklage jeden Versuch einer Selbstverteidigung unterlassen sollte, ist Schulung: Schulung in Selbstkontrolle und Schulung in Liebe, denn keine Schulung ist wirkungs­voller als das eigene Bemühen. Dazu kommt, dass die Bereitschaft zur Verteidigung nicht nur den äußeren Rand des Aurischen Eies verhärtet, sondern das Aurische Ei selbst durch und durch vergröbert. Eine derartige Haltung betont jedesmal das niedere persönliche Selbst und entspricht der Schulung in ent­gegengesetzter Richtung, was zu Zerstörung, Unruhe und Hass führt. Lasst das karmische Gesetz seinen Lauf nehmen. Ist man sich der Wirksamkeit dieser Übung bewusst, dann wendet man ein sehr hohes Maß an Urteilskraft und Einsicht an. Je deutlicher ein Mensch fühlt, dass er seinem Gewissen nach richtig gehandelt hat, desto mehr schwindet das Gefühl der Ungerechtigkeit, verschwinden das Verlangen nach Vergeltung und der fieberhafte Drang zur Selbstrechtfertigung, denn diese Dinge werden überflüssig. Das Bewusstsein, richtig gehandelt zu haben, bringt Versöhnlichkeit und den Wunsch, voller Mitleid und Verständnis für andere zu leben.

Man darf jedoch die Regel über die Selbstrechtfertigung nicht mit der Verantwortung und mit den Verpflichtungen verwechseln, die jeder ehrbare Mensch erfüllen muss. Es kann sehr wohl unsere Pflicht sein, für ein Prinzip, das angegriffen wird, einzustehen oder jemandem zu helfen, der ungerecht angegriffen wird. Standhaftigkeit und die Weigerung, an üblen Taten teilzunehmen, sind ein Zeichen von Güte. Das feige Verbrechen, Böses vor unseren Augen geschehen zu lassen und somit daran teilzunehmen, aus Furcht, man könnte die Gefühle eines anderen verletzen, ist eine moralische Schwäche, die spirituelle Erniedrigung zur Folge hat. Werden wir jedoch selbst angegriffen, dann sollten wir es vorziehen, den Angriff schweigsam zu erdulden. Es ist nur selten notwendig, dass wir unsere eigenen Handlungen wirklich rechtfertigen müssen.

Es mag erfolglos scheinen, dem heftigen Verlangen unseres niederen Teils zu widerstehen, welcher beweisen will, dass „wir im Recht sind“. Doch bald werden wir entdecken, dass hierzu eine sehr positive innere Haltung erforderlich ist. Es ist eine bestimmte spirituelle und intellektuelle Übung, die uns Selbstkontrolle lehrt und Gleichmut bringt. Wendet man sie an, dann wird uns der Standpunkt des anderen Schritt für Schritt instinktiv klarer. Doch auch hier lauert eine subtile Gefahr, denn gerade dieses Handeln kann, wenn man es gewissenhaft durchführt, so reizvoll werden, dass man nach einer gewissen Zeit versucht sein könnte, einen spirituellen Stolz auf das bisher Erreichte zu entwickeln. Das ist etwas, auf das man achtgeben und das aus unserer Seele entfernt werden muss.

Ich kenne Menschen, die so schwer darum rangen und kämpften, gut zu sein, dass sie eine Menge zerbrochener Herzen hinter sich ließen, die Hoffnungen ihrer Mitmenschen zerstörten und durch ihren übertriebenen Wunsch, gut zu sein, anderen Leid zufügten. Sie wollten dermaßen schnell vorwärtskommen, dass sie darüber vergaßen, menschlich zu sein. Ist es falsch, ein gutes Buch zu lesen, gesund zu leben oder uns die Nahrung schmecken zu lassen? Ganz gewiss nicht. Wenn man jedoch sehr an den Dingen hängt, die einem besondere Freude bereiten, und darüber seine Pflichten vernachlässigt, so sollte man Herr über diese Neigungen werden, denn sie schaden uns. Sie sind nicht länger ein unschuldiges Vergnügen, sondern sie wurden eine Untugend. Die einfache Reaktion darauf heißt: sich selbst vergessen und nach besten Kräften anderen helfen. Auf diese Weise werden wir glücklich, spiri­tuell und intellektuell natürlich und stark werden und geachtet sein; vor allem aber achten wir uns dann selbst.

Das führt uns zu einer weiteren Überlegung. Selten begehen wir unsere schlimmsten Fehler aufgrund unserer Laster. Haben wir nämlich unsere Laster erst einmal als solche erkannt, werden sie uns kaum noch beherrschen; sie werden verabscheut und abgelegt. Tatsache ist, dass unsere gravierendsten Fehler, was die Empfindsamkeit und das Beurteilen angeht, für gewöhnlich unseren Tugenden entspringen – ein Paradoxon, dessen psychologische Wirkung wir spüren, wenn wir darüber nachdenken.

In der Geschichte des mittelalterlichen Europa kann man dafür anschau­liche Beispiele finden. Ich halte es für einen Irrtum, wenn man glaubt, dass die fanatischen Mönche oder kirchlichen Herrscher, die zu jenen schrecklichen religiösen Verfolgungen anstachelten, Teufel in Menschengestalt waren, die bewusst Foltermethoden ersonnen hatten, um die Seelen und die Körper ihrer unglücklichen Mitmenschen, derer sie habhaft werden konnten, zu quälen. Was sie taten, war diabolisch, es waren richtige unbewusste Teufeleien, die jedoch aus ihren Tugenden entstanden waren und durch den starken Missbrauch zu verabscheuungswürdigen Lastern wurden. Die grausamsten Menschen sind gewöhnlich nicht jene, die gleichgültig sind, sondern diejenigen, die von einem falsch verstandenen Ideal getrieben werden, hinter dem eine falsch angewendete moralische Kraft steht. Aus ihren Tugenden sind nicht erkannte Untugenden geworden, die diese Menschen zeitweise gänzlich kaltherzig erscheinen lassen.

Große Denker wie Laotse haben, zur Bestürzung so mancher Menschen, die nicht weiter nachgedacht haben, darauf hingewiesen, dass der aggressiv tugendhafte Mensch ein lasterhafter Mensch ist – ein übertriebenes Para­doxon, und doch beschreibt es eine tiefe psychologische Tatsache. Der wirklich gefährliche Mensch ist nicht der böse Mensch, denn er verletzt nur durch seine eigene intellektuelle und moralische Verderbtheit. Missverstandene und missbrauchte Schönheit ist es, die verleitet – nicht allein physische Schönheit, sondern auch der Glanz einer Tugend, die entstellt und missbraucht worden ist. Tugend an sich hebt uns zu den Göttern empor; und trotzdem lassen uns gerade unsere Tugenden, wenn sie selbstsüchtig angewendet werden, häufig unsere übelsten Handlungen begehen.

Dem alten Gebot „Liebet alle Dinge, die kleinen wie die großen“ liegt ein tiefer esoterischer Sinn zugrunde. Hass wirkt verengend und verhüllt den Hassenden mit dichten Schleiern. Liebe hingegen zerreißt die Schleier, löst sie auf und schenkt uns Freiheit, Einsicht und Mitleid. Liebe ist wie die kos­mische Harmonie, die sich im Gesang der dahinziehenden Sterne und Planeten als Sphärenmusik manifestiert. Liebe, unpersönliche Liebe, bringt uns mit dem Universum in Harmonie, und dieses Einswerden mit dem Universum ist das letzte und höchste Ziel aller Stufen des Einweihungszyklus.

Persönliche Liebe dagegen ist unbarmherzig und oft lieblos, denn sie konzentriert sich nur auf ein Objekt. Sie denkt mehr an das eigene Ich als an den anderen. Im Gegensatz dazu gibt sich die unpersönliche Liebe ganz hin; sie ist die wahre Seele der Selbstaufopferung. Persönliche Liebe ist Denken an sich selbst, unpersönliche Liebe ist Selbstvergessen – das ist der Prüfstein. Sentimentalität hat damit nichts zu tun; tatsächlich ist die persönliche Liebe schädlich, denn sie betont die Persönlichkeit. Das Gefühl der Liebe ist nicht Liebe, sondern gehört zur psycho-mentalen und animalischen Seite unseres Wesens. Wenn wir dem aus unserem Herzen fließenden Strom keine Grenzen und Beschränkungen setzen, wenn wir es nicht von Bedingungen abhängig machen, ob wir unsere schützende und hilfreiche Hand ausstrecken, gleichen wir der Sonne, die allen Licht und Wärme spendet. Wenn die Liebe ganz selbstlos ist, dann ist sie auch spirituell hellsehend, weil ihre visionäre Kraft bis zur wahren Essenz des Universums vordringt.

Eine Regel in einer Reihe guter und einfacher Regeln besagt, wir sollten immer unpersönlich denken und versuchen, in unserem täglichen Leben unser Interesse von möglichen Vorteilen für unsere eigene Person abzuwenden. Wenn wir unsere Arbeit, was sie auch sei, als ein Werk der Liebe verrichten, werden wir ganz natürlich unpersönlich sein, denn durch den Dienst am Nächsten haben wir uns aus unserer Selbstversunkenheit befreit. Das ist der königliche Weg zur Selbsterkenntnis, denn solange wir unsere Aufmerksamkeit und unsere Gedanken auf die begrenzte Sicht des Eigennutzes konzen­trieren, können wir nicht zum universalen Selbst werden.

Eine weitere ausgezeichnete Regel ist jene, die Buddha, der Herr, als seine besonders bevorzugte Lehre allen seinen Schülern gab:

Wenn böse und unwürdige Gedanken und Bilder der Lust, des Hasses und der Verblendung die Seele befallen, muss der Schüler diesen Gedanken andere, würdigere Bilder entgegenstellen. Wenn er in seinem Geist andere und würdigere Bilder hervorruft, dann entfliehen jene unwürdigen Gedanken, jene Bilder der Lust, des Hasses und der Verblendung. Und weil er sie besiegt hat, wird sein inneres Herz fest und ruhig, geeint und stark.2

Das alles heißt, dass, wenn wir von selbstsüchtigen und persönlichen Impulsen und Gedanken bedrängt oder gar gequält werden, wir unverzüglich an das Entgegengesetzte denken und es beständig vor unserem geistigen Auge festhalten sollten. Wenn wir einen Gedanken des Hasses hegen, sollten wir ein Bild der Liebe und Güte hervorrufen. Wenn wir an eine böse Handlung denken, sollten wir uns eine edelmütige, herrliche Tat vorstellen. Überkommen uns selbstsüchtige Gedanken, dann sollten wir uns vorstellen, dass wir etwas Mildtätiges tun, und das stets unpersönlich. Ich halte diese Regel für die beste aller Regeln. Es ist eine faszinierende Art des Lernens, abgesehen von dem Gewinn, den es bringt: Der Wille wird gestärkt, das geistige Schauen wird klarer, die Gefühle werden verfeinert, die Kräfte des Herzens werden angeregt und Charakterstärke sowie edle Gesinnung nehmen zu.

Ist ein Gedanke jedoch erst einmal gedacht, so ist es unmöglich, die Energie, mit der er geladen wurde, zurückzunehmen, denn er ist dann bereits ein Elementalwesen, das seine Reise nach oben antritt.3 Wenn jedoch „neu­tralisierende“ Gedanken gegensätzlicher Art unmittelbar nachgesandt werden, Gedanken der Schönheit, des Mitleids, der Versöhnlichkeit, des Wunsches und des Bestrebens zu helfen, so verschmelzen beide, wobei die Wirkungen der bösen Gedanken im Sinne von HPB in Die Stimme der Stille (S. 76) „unschädlich“ gemacht werden.

Ich wiederhole jedoch: Ein Gedanke kann niemals zurückgerufen werden. Er ist wie eine Tat, die, einmal begangen, für immer begangen ist, aber nicht für immer mit uns verbunden sein muss. Indem wir nach einem bösen Impuls an edle Dinge denken oder eine gute Tat vollbringen, können wir zwar den bösen Gedanken selbst nicht zurückrufen oder die Tat ungeschehen machen, aber wir können das durch unsere falschen Gedanken oder Handlungen bewirkte Übel in gewissem Maße mildern.

Wir Menschen sind in genau dem Maße persönlich, in dem sich die spirituelle Individualität in den Strahlen des niederen Teiles unserer Konstitution verteilt. Wenn wir das Persönliche aufgeben, lösen wir den Griff, mit dem diese unentwickelten Elemente unser wahres Wesen festhalten. Die Folge davon ist eine Konzentration der Strahlen, die bislang in den verschiedenen atomaren Wesenheiten unserer niedrigeren Prinzipien verstreut waren. Das bedeutet, sie in einem Bündel der Selbstheit zu sammeln und auf diese Weise wieder unser wahres Selbst zu werden. „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ Einheitsübersetzung, Matthäus 10,39

Wenn wir versuchen, in jedem Augenblick selbstlos zu sein, werden wir unsere persönlichen Wünsche vergessen. Es ist unsere Pflicht, unseren Bedürfnissen Rechnung zu tragen, aber im Allgemeinen lähmen sie den Geist nicht. Wenn wir uns bemühen, unpersönlich zu sein, werden wir mit der Zeit in das universale Bewusstsein eingehen. In diesen wenigen Sätzen liegen das Geheimnis und die Essenz der esoterischen Schulung. Wir wollen jedoch unsere Persönlichkeit nicht abtöten, sondern wir wollen sie gebrauchen und dabei die Richtung ihrer evolutionären Neigungen verändern, sodass die Ströme ihrer Vitalität in das höhere Bewusstsein unserer Individualität ein­fließen können. Es ist ein wunderbarer Gedanke, dass wir genau in dem Maße, in dem unsere Individualität stärker und unsere Persönlichkeit schwächer wird, auf der Lebensleiter zu einer individuellen Vereinigung mit der kosmischen Göttlichkeit im Herzen unseres Sonnensystems emporsteigen. Das trifft nicht nur auf die große Masse der Menschheit zu, sondern auch auf jede andere Wesenheit vergleichbaren evolutionären Fortschritts, die Selbstbewusstsein und all die anderen Eigenschaften besitzt, die den Menschen erst zum Menschen machen.

Unpersönlichkeit, Altruismus und Selbstlosigkeit – diese Eigenschaften haben auf unsere Mitmenschen eine magische Wirkung. Wenn wir lernen können, aufrichtig zu vergeben und zu lieben, dann wird sich unsere Seele nach selbstlosem Dienst an der Menschheit sehnen. Niemand ist zu gering, das zu tun, und niemand steht so hoch, dass er es ignorieren könnte. Je höher die Stellung, desto zwingender wird der Ruf der Pflicht. Vielleicht müssen wir ganz allein gegen die Welt kämpfen. Aber auch wenn wir immer und immer wieder unterliegen, können wir dennoch aufstehen und daran denken, dass die Kräfte des Universums hinter uns und an unserer Seite stehen. Das wahre Herz des Seins ist mit uns. Wir werden schließlich siegen, denn nichts vermag dem feinen, alles durchdringenden Feuer der unpersönlichen Liebe zu widerstehen.

Der Weg zur Weisheit liegt im Menschen selbst. Wer sich selbst kennt, wessen spirituelle Natur klarer hervorscheint, der vermag die Bewegungen der Planeten zu begreifen. Ein Mensch, dessen inneres Selbst noch weiter entwickelt ist, kann sich mit den Wesen, die unser Sonnensystem regieren und leiten, vertraut unterhalten. Ein Mensch, dessen gesamtes Wesen sich in noch höherem Maße entfaltet hat, vermag zum Mindesten in einige Geheimnisse des Makrokosmos einzudringen; und so geht es weiter bis in alle Unendlichkeit. Je höher die Entwicklung, desto weiter die Sicht und desto tiefer das Verstehen. Der Weg zum universalen Selbst ist der Pfad, den jeder Mensch selbst gehen muss, wenn er wachsen und sich entwickeln will. Kein anderer vermag für uns zu wachsen; wir können nur entsprechend den Vor­gaben wachsen, die die Natur festgelegt hat – im Rahmen der Struktur unseres eigenen Wesens.

Der Mensch ist tatsächlich ein Geheimnis: Unter der Oberfläche und hinter dem Schleier liegt das Mysterium des Ich, der Individualität, ein Werdegang, der sich in ferne Ewigkeiten erstreckt. Im Wesentlichen ist der Mensch von Schleiern umhüllte göttliche Energie.

Meditation und Yoga

Nur in der Stille erstarkt die Seele, denn dann ist sie auf ihre eigenen Energien und Kräfte angewiesen und lernt, sich selbst zu erkennen. Einer der besten Wege, schnell und sicher mit einem Problem fertig zu werden und die Intuition zu entwickeln, ist der, die Mühe der Problemlösung nicht jemandem zuzuschieben, von dem man glaubt, er könne einem helfen. Lösungen zu erkennen und Schwierigkeiten zu entwirren ist eine Angelegenheit der Schulung und des inneren Wachstums. Eine der ersten Regeln, die einem Neo­phyten vermittelt wird, lautet, niemals eine Frage zu stellen, bevor er nicht selbst ernsthaft und wiederholt versucht hat, sie zu beantworten. Der Versuch, die Antwort zu finden, ist ein Appell an die Intuition. Es ist auch eine Übung. Es stärkt die eigenen inneren Kräfte. Fragen zu stellen, ohne vorher versucht zu haben, sie selbst zu beantworten, zeigt lediglich, dass wir uns anlehnen, und das ist nicht gut. Unsere Fähigkeiten anzuwenden bedeutet, dass unsere Stärke und unsere Fähigkeiten zunehmen.

Gewisse Fragen drängen sich jedoch mit einer Heftigkeit auf, die eine Antwort erzwingen. Sie gleichen dem mystischen Anklopfen an das Portal des Tempels. Sie verlangen nach mehr Licht, denn sie entspringen nicht dem Gehirn-Verstand, sondern der Seele, die sich bemüht, das Licht zu verstehen, das sich aus den ewigen Quellen der Göttlichkeit in sie ergießt. Bittet, und euch wird gegeben; klopfet an – und klopft richtig an –, und es wird euch aufgetan. Wenn der Ruf stark und unpersönlich genug ist, werden die wahren Götter im Himmel antworten. Wenn es einem Menschen sehr ernst damit ist, wird er die Antwort aus seinem Inneren, von dem einzigen Initiator erhalten, den der Neophyt überhaupt hat.

Meditation ist eine positive Geisteshaltung, es ist mehr ein Zustand des Bewusstseins als ein System oder eine Zeitspanne intensiven Nachdenkens. Man sollte positiv eingestellt sein, aber in der Weise von Gelassenheit, so fest gegründet, gelassen und friedvoll wie ein Granitfels, und dabei die beun­ruhigenden Einflüsse der unaufhörlich tätigen und fiebrigen Mentalität vermeiden. Aber vor allem sollte man unpersönlich sein. In einem höheren Sinne ist Meditation die Konzentration des Bewusstseins und das Emporheben des Verstandes auf die Ebene, auf welcher die Intuition führt und wo edle Ideen oder Bestrebungen heimisch sind und wo das Bewusstsein auf die Gedankenwelt gerichtet wird. Man kann jedoch auch über üble Dinge meditieren, und leider tun viele gerade das.

Vor dem Einschlafen kann man in der Weise meditieren, dass die Seele sich zu den Göttern aufschwingt und im Zwiegespräch mit diesen göttlichen Wesen erquickt und gestärkt wird. Man kann aber ebenso vor dem Einschlafen sich über irgendetwas den Kopf zerbrechen, sodass, wenn die Fesseln des Wachzustandes gelöst sind und der Gehirn-Verstand schweigt, die Seele abwärts gezogen und dadurch erniedrigt und geschwächt wird. Man sollte niemals einschlafen, wenn man nicht aufrichtig alle erlittenen Ungerechtigkeiten verziehen hat. Das ist sehr wichtig, nicht nur als veredelnde Gewohnheit, sondern auch als ein äußerst notwendiger Schutz. Erfülle das Herz mit Gedanken der Liebe und des Mitleids für alles und die Seele mit einer erhabenen Vorstellung, und verweile in Ruhe bei dieser Vorstellung mit dem höheren unpersönlichen Nachdenken, ungezwungen und entspannt, und es wird ein Ausruhen aller Sinne und Stille in die Seele einkehren.

Wenn der Körper vom Schlaf übermannt wird und die Aufmerksamkeit des Tagesbewusstseins sich zurückzieht, folgt die nun befreite Seele auto­matisch der ihr zuletzt gegebenen Richtung. Das ist ein Grund, warum strikte Unpersönlichkeit ohne den leisesten Gedanken an irgendein zersetzendes oder moralisch beleidigendes Element, das sich in das Herz einschleicht (wie z. B. Hass, Zorn, Furcht oder Rachgier oder irgendwelche anderen schrecklichen Produkte des niederen Selbst), unerlässlich ist. Wenn man sich daher angewöhnt, vor dem Einschlafen das Gemüt zu beruhigen, dann ist die Seele fähig, sich zu erheben.

Man meditiere andauernd – nichts ist so leicht und hilfreich. Anstatt eine festgelegte Zeit einzuhalten, ist für die meisten Schüler Folgendes weit sinnvoller: stilles, unablässiges Überdenken der eigenen Fragen, auch dann, wenn man mit den täglichen Aufgaben alle Hände voll zu tun hat und andere Pflichten die ganze Aufmerksamkeit erfordern. Im Hintergrund des Bewusstseins kann dennoch diese stete gedankliche Unterströmung fließen. Sie ist auch ein Schutzschild in allen unseren Angelegenheiten, denn diese Gedankenhaltung umgibt den Körper mit einer Aura, die aus den tieferen, verborgenen Winkeln des Aurischen Eies hervorgebracht wird. Sie ist von ākāśischer Beschaffenheit und kann von keiner anderen Substanz durch­drungen werden, wenn sie durch den Willen eines Menschen verdichtet wird, der weiß, wie das gemacht wird.

Sogar in der tiefsten Meditation, wenn er jegliche Wahrnehmung der Umgebung verloren hat, befindet sich der geübte Chela niemals in einem Zustand, in dem er sich spirituell und intellektuell nicht unter Kontrolle hätte. Er ist immer wachsam, er ist sich stets bewusst, dass er die Situation beherrscht, selbst während das Bewusstsein in einer Rückschau die zahl­losen Verwandlungen des Meditationsobjektes an sich vorbeiziehen lässt. In der Regel ist es höchst unratsam, sich in seiner Versenkung so weit auf eine andere Ebene zu begeben, dass man zum psychischen oder physischen Automaten wird.

Es gibt zwei Arten der Meditation: erstens, einen schönen Gedanken als Bild klar im Kopf festzuhalten und sein Bewusstsein in dieses Bild einfließen zu lassen; und zweitens, das Bewusstsein in höhere Sphären oder Ebenen zu senden und die dabei in das Bewusstsein einfließenden Erfahrungen aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. Wenn wir uns jedoch uneinsichtig mit aller Gewalt auf die Lösung eines bestimmten Gedankens fixieren, meditieren wir ganz und gar nicht. Damit erreichen wir nichts, denn dieses Verhalten ist nur die Betätigung des Gehirn-Verstandes und ermüdet oft, inspiriert nicht und regt nicht an. Es besteht ein Unterschied zwischen bloßem konzen­triertem Nachdenken über einen Gegenstand – vor allem, wenn der Gehirn-­Verstand dazu benützt wird – und der Konzentration oder dem Versunkensein des Bewusstseins, indem es der veredelnden Belehrung folgt, die der spiri­tuelle Wille lenkt.

Meditation ist demnach das stete Festhalten eines Gedankens, wobei man dem Bewusstsein gestattet, mühelos und freudig diesen Gedanken innerlich zu verarbeiten. Lasst das Bewusstsein dabei verweilen, lasst den Geist sich darin versenken. Es ist nicht nötig, den physischen oder psychischen Willen einzusetzen. Das ist echte Meditation und das ist in Wahrheit das wesent­liche Geheimnis des Yoga, was so viel wie „Vereinigung“ des Geistes mit dem unbeschreiblichen Frieden, der Weisheit und der Liebe des Gottes im Inneren bedeutet. Wenn man dieser einfachen Regel des Jñāna-Yoga folgt, wird er nach einer Weile zum natürlichen Bestandteil des Tagesbewusstseins. Konzentration oder den Gedanken auf einen Punkt richten, bedeutet nichts weiter, als diesen Gedanken klarer in unser Bewusstsein aufzunehmen und unsere ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten – nicht mit dem Willen, sondern zwanglos.

Alle anderen Formen von Yoga, die mehr oder weniger von äußeren Hilfsmitteln abhängen, wie z. B. Körperhaltungen, Atemtechniken, Finger-, Hand- oder Fußstellungen etc., gehören den niedrigeren Formen des Hatha-Yoga an und sind kaum mehr als Krücken, da sie die Gedanken zu diesen äußeren Methoden ablenken, weg vom Hauptziel des echten Yoga, der eine Umkehr des Denkens von äußerlichen zu innerlichen spirituellen Dingen bewirkt. Deshalb sind alle diese Formen des niedrigeren Yoga, die durch die „Lehren“ von Wander-„Yogis“ im Westen so populär geworden sind, eher schädlich als konstruktiv.

Das Hatha-Yoga-System umfasst eine fünffache Methode zur Beherrschung der niederen psychischen Fähigkeiten durch verschiedene Formen asketischer Übungen. Es verlangt, dass die physischen und psychischen Teile durch gewaltsame Methoden systematisch paralysiert werden. Diese vollständige Selbstversenkung bringt der Yogi dadurch zustande, indem er seine vitalen Abläufe aufhebt und einen Kurzschluss bestimmter prāṇischer Energien seines astro-physischen Körpers verursacht. Es sollte klar sein, dass diese Übungen sowohl mental und physisch gefährlich als auch spirituell einengend sind. Sie werden daher von allen echten okkulten Schulen eindeutig abgelehnt. Man kann dadurch allerdings gewisse Kräfte erlangen, aber ich wiederhole: Es sind Kräfte niedrigster Art und sie bringen keinen dauerhaften Nutzen, sondern behindern sogar den eigenen spirituellen Fortschritt beträchtlich.

W. Q. Judge schrieb in diesem Zusammenhang4:

… Fortschritt wird erzielt werden. Nicht indem man versucht, psychische Kräfte zu entwickeln, was man bestenfalls nur in geringem Maße erreichen kann, noch indem man sich irgendeiner Kontrolle durch andere unterwirft, sondern indem man seine Seele erzieht und stark macht. Wenn nicht alle Tugenden erprobt werden, wenn das nötige philosophische Wissen nicht vorhanden ist und wenn die spirituellen Notwendigkeiten nicht völlig unabhängig vom Gebiet des Psychismus gesehen werden, dann wird es nur einen zeitweiligen Abstecher in die Astralebenen geben, der schließlich enttäuschend endet. Das ist so sicher, wie die Sonne scheint.

Andererseits berühren die Systeme von Rāja-Yoga und Jñāna-Yoga, die die spirituelle und intellektuelle Schulung in Verbindung mit Liebe für alle Wesen einschließen, die höheren Teile der inneren Konstitution. Die Beherrschung des Physischen und Psychischen folgt als natürliche Konsequenz des Verständnisses für den ganzen siebenfältigen Menschen. Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.

In bestimmten, sehr seltenen Ausnahmefällen, wenn ein Chela mental und spirituell relativ weit fortgeschritten ist, aber immer noch ein sehr unglückliches und schweres physisches Karma abzutragen hat, ist es angebracht, die Hatha-Yoga-Methoden in begrenztem Maße anzuwenden, jedoch nur unter der direkten Anleitung des Meisters. Ich möchte hier anfügen, dass die Yoga-Aphorismen (oder Sūtras) des Patañjali eine Hatha-Yoga-Schrift sind, jedoch eine der erhabensten Art. Die knappen Instruktionen dieses kleinen Buches sind den westlichen Schülern hauptsächlich durch die Interpretation von W. Q. Judge und späterer Autoren bekannt.

Echter Yoga ist, wie bereits erwähnt, Meditation, und diese schließt eindeutig ein, dass man sein Bewusstsein fest auf einen edlen Gedanken konzentriert, diesen Gedanken nicht loslässt und über ihn nachsinnt und grübelt. In seinen Sūtras (I, 2) schrieb Patañjali: Yogaś chitta-vritti-nirodhah – „Yoga verhindert das Umherschweifen der Gedanken.“ Das ist auch völlig klar: Wenn das ständig aktive niedere Bewusstsein mit seinem schmetterlings­artigen Flattern von Gedanke zu Gedanke und mit seinen fiebrigen Emotionen in eine eindeutige Bestrebung und intellektuelle Vision nach oben gelenkt werden kann, verschwinden diese „Gedankenwirbel“. Das strebende Denkorgan wird höchst aktiv, offenbart Intuitionen, schaut Wahrheiten und macht den Menschen, dessen Organ des selbstbewussten Denkens auf diese Weise beschäftigt ist, tatsächlich zu einer Verkörperung von Weisheit und Liebe – und das ist echter Yoga. Es ist Manas, das Denkprinzip, das hier aktiv ist. Es hat sich sozusagen selbst nach oben hingewendet anstatt nach unten und ist zum Buddhi-Manas anstatt zum Kāma-Manas geworden. Das Chitta des oben zitierten Sanskrit-Satzes, d. h. das „Denken“, wird mit Weisheit und Intuition angefüllt und der Mensch wird, sofern er Meister in dieser erhabenen spirituellen Übung ist, mit seiner inneren Göttlichkeit wahrhaftig eins.

Im nächsten Śloka fährt Patañjali fort und sagt: „Dann verharrt der Seher in sich selbst“, was bedeutet, dass der Mensch dann ein Seher wird und in seinem spirituellen Selbst, seinem inneren Gott, wohnt.

Wird andererseits das Denken nicht nach oben ausgerichtet und konzentriert, dann werden „die Wirbel (die Tätigkeit) gegenseitig angeglichen“, wie der vierte Śloka es schildert – eine sehr knapp gehaltene Aussage, die Folgendes ausdrückt: Ist das Denken in den niederen Dingen verankert, so fesseln seine fiebrigen Aktivitäten das höhere Manas, das auf diese Weise zeitweilig mit seinen niedrigsten Elementen „verhaftet“ bleibt; und der Mensch ist infolgedessen nicht mehr als ein gewöhnliches menschliches Wesen.

Ein okkultes Geheimnis in Verbindung mit der Seele besteht darin, dass diese die Form des betrachteten oder wahrgenommenen Objektes annimmt und sich daher in die Gedankenformen ergießt, wie diese auch immer sein mögen. Wenn das mentale Bild göttlich ist, wird die Seele ihm ähnlich, denn sie fließt in das Göttliche ein und formt sich entsprechend. Wenn dagegen die Seele an niederen Dingen hängt, so passt sie sich diesen ebenso an, weil sie in ihre Form und in ihre Erscheinung einfließt.5

Gerade dieser Wunsch zu wissen, nicht für sich selbst, nicht einmal des bloßen Wissens im abstrakten Sinne wegen, sondern um das Wissen auf den Altar des Dienstes zu legen, führt zu esoterischem Fortschritt. Dieser Wunsch, dieser Wille zum unpersönlichen Dienen reinigt das Herz, klärt den Verstand und macht die Bindungen des niederen Selbst unpersönlich, sodass die Bindungen gelöst werden und das Selbst fähig wird, Weisheit zu empfangen. Dieser Wunsch ist die treibende Kraft, der Antriebsmotor, die den Aspiranten vorwärts, immer höher und höher tragen.

Die Pāramitās und der erhabene achtfache Pfad

Sowohl in buddhistischer als auch in neuzeitlicher theosophischer Literatur ist viel über die „glorreichen Tugenden“ oder Pāramitās geschrieben worden. Unglücklicherweise werden diese Tugenden jedoch allzuoft nur als hochedle, aber nahezu unerfüllbare Verhaltensregeln betrachtet, was sie in der Tat auch sind; und dennoch sind sie mehr als das. In Wirklichkeit sind sie die Regeln für das Denken und Handeln, die der angehende Chela befolgen muss, anfangs so gut er dazu imstande ist, später aber vollständig, sodass schließlich sein ganzes Leben von diesen Regeln bestimmt und erleuchtet wird. Nur dadurch kann der Schüler an den Ort gelangen, den Buddha, der Herr, das „andere Ufer“6nannte. Diese spirituellen Gefilde können nur erreicht werden, wenn der stürmische Ozean der menschlichen Existenz überquert wird, und zwar mit den eigenen spirituellen und intellektuellen und psychischen Kräften, und nur mit der Hilfe, die dem Chela in Anbetracht des eigenen vergangenen Karmas gewährt werden kann.

An das andere Ufer gelangen, dies wird allgemein für eine typisch orientalische Vorstellung gehalten. Doch das scheint unberechtigt zu sein, denn auch zahlreiche christliche Hymnen erzählen vom mystischen Jordan und vom Erreichen des „jenseitigen Ufers“, eine Vorstellung, die mehr oder weniger mit der Anschauung des Buddhismus identisch zu sein scheint. „Diese Seite“ meint das Leben in dieser Welt, die alltäglichen üblichen Beschäftigungen der Menschen. „Das andere Ufer“ ist lediglich das spirituelle Leben, wobei die Erweiterung der gesamten menschlichen Natur mit relativ großer Kraft und mit starker Wirkung eingeschlossen ist. Anders ausgedrückt bedeutet das Erreichen des „anderen Ufers“, vereint mit der inneren Gottheit zu leben und somit am universalen Leben mit relativ vollem Selbstbewusstsein teilzunehmen. Die Lehren aller großen Religionen und Philosophiesysteme bestanden darin, ihren Anhängern die Tatsache vor Augen zu führen, dass es unser wahres Ziel ist, die Lektionen des manifestierten Lebens zu lernen, um aus dieser Erfahrung nach und nach in das kosmische Leben zu gelangen.

Das Dhammapada (Vers 85) drückt dies so aus:

Unter den Menschen wenige
Zum andern Ufer streben hin;
Hingegen all das andere Volk
Läuft nur das Ufer auf und ab.

Eine kleine buddhistische Schrift, genannt Prajñā-Pāramitā-Hṛidaya Sūtra oder „Das Herz oder die Essenz der Weisheit des Hinübergehens“ schließt mit einem wunderbaren Mantra, das im Sanskrit-Originaltext wie folgt lautet:

Gate, gate, pāragate, pārasamgate, bodhi, svāhā!
Oh Weisheit! Gegangen, gegangen, gegangen zum
anderen Ufer, angekommen am anderen Ufer, Heil!

In diesem Zusammenhang kann angenommen werden, dass sich Weisheit auf die kosmische Buddhi, auch Ādi-Buddhi oder „Ur-Weisheit“ genannt, bezieht, und in einem individualisierten Sinne auch auf den höchsten Stillen Wächter unserer Planetenkette, Ādi-Buddha. Der Angesprochene ist der am anderen Ufer Angekommene, der triumphierende Pilger, der sich – selbstbewusst geworden – mit seinem inneren Gott vereint und folglich die Māyā oder die Illusionen der Erscheinungswelten erfolgreich durchschaut hat. Die höchsten Wesen, denen dies gelungen ist, sind die Jīvanmuktas, „befreite Monaden“; die weniger hohen Wesen gehören den verschiedenen Stufen in mehreren Rangordnungen der Hierarchie des Mitleids an.

Die Lehren der Pāramitās, wie sie von H. P. Blavatsky in Die Stimme der Stille (S. 678) dargestellt sind, lauten folgendermaßen:

Dāna, der Schlüssel der Barmherzigkeit und unsterblichen Liebe.
Śīla, der Schlüssel der Harmonie in Wort und Tat; der Schlüssel des Gleichgewichts zwischen Ursache und Wirkung, der für karmische Aktion keinen Spielraum mehr lässt.
Kshānti, die süße Geduld, die durch nichts erschüttert werden kann.
Virāga, Gleichgültigkeit gegenüber Freude und Schmerz, besiegte Illusion, nur noch Wahrheit wird wahrgenommen.
Vīrya, die unerschrockene Energie, die sich ihren Weg aus dem Schlamm der irdischen Lügen zur überirdischen Wahrheit erkämpft.
Dhyāna, dessen goldenes Tor, sobald es geöffnet ist, den Narjol [Naljor] zum Reich des ewigen Sat und dessen unaufhörlicher Betrachtung führt.
Prajñā, der Schlüssel, der aus einem Menschen einen Gott macht, ihn in einen Bodhisattva, einen Sohn der Dhyānis verwandelt.

Wie diese Pāramitās befolgt werden sollten, wird im folgenden Auszug aus dem Mahāyāna Śrāddhotpāda Śāstra{fiitnote} Pāramita und Pāragata (oder ihr Äquivalent – Pāragāmin) sind Sanskrit-Begriffe mit der Bedeutung „einer, der das andere Ufer erreicht hat“. Pāramitā (die weibliche Form) bezeichnet die transzendentalen Tugenden oder Eigenschaften, die man ausbilden muss, um an jenes Ufer zu gelangen. Ein kleiner Unterschied in der Bedeutung soll hier vermerkt werden: Pāramita heißt so viel wie „überquert haben“ und somit „Ankunft“, während Pāragata (oder Pāragāmin) die „Abfahrt“ von dieser Seite bedeutet und somit „gegangen“, um sicher an das andere Ufer zu gelangen.
Ein anderes in buddhistischen Schriften häufig vorkommendes Wort, das ebenfalls beide feinen Unterschiede der obigen Begriffe einschließt, lautet Tathāgata, ein Titel, der Gautama Buddha verliehen wurde. Dieser Begriff aus dem Sanskrit kann zweifach verwendet werden: Tathāgata, „somit gegangen“, d. h. abgereist und das andere Ufer erreicht; und Tathā-Āgata, „somit angekommen oder gekommen“, d. h. die Bedeutung des Begriffes Tathāgata umfasst eine Person, die sowohl zum anderen Ufer „abgereist“ als auch dort „angekommen“ ist, wie es die ihm vorangegangenen Buddhas getan haben.{/footnote}
 eingehend beschrieben, allerdings werden hier nur sechs erwähnt. In anderen Schriften werden sieben, und in einer vollständigeren Aufzählung sogar zehn angegeben:

Wie sollte man Barmherzigkeit praktizieren (Dāna)?

Wenn jemand kommt und um etwas bittet, dann sollten die Schüler soweit es ihnen möglich ist, bereitwillig dem Wunsch nachkommen, und zwar in einer sinnvollen Weise. Wenn die Schüler irgendjemanden in Gefahr sehen, sollten sie versuchen, alles zur Rettung zu unternehmen, und dem Gefährten ein Gefühl der Sicherheit geben. Kommt jemand zu den Schülern und möchte Unterweisung im Dharma erhalten, so sollten sie, so gut sie können und nach ihrem besten Verständnis, versuchen, ihn zu unterweisen. Dabei sollten die Schüler keinerlei Wunsch nach einer Belohnung, nach Dankbarkeit, nach Verdienst oder Vorteilen noch nach irgendeiner weltlichen Belohnung hegen. Sie sollten versuchen, ihr Denken auf jene universalen Wohltaten und Segnungen zu konzentrieren, die für alle gleich sind, wodurch sie die höchste vollendete Weisheit in sich selbst erkennen.

Wie sollte man die Verhaltensregeln einhalten (Śīla)?

Laienschüler mit Familien sollten sich des Tötens, des Stehlens, des Ehebruchs, des Lügens, der Doppelzüngigkeit, der Verleumdung, des frivolen Redens, der Begierde, der Bosheit, des Einschmeichelns und der falschen Lehren enthalten. Unverheiratete Schüler sollten, um Behinderung zu vermeiden, sich vom Trubel des weltlichen Lebens zurückziehen und einsam lebend jene Wege praktizieren, die zur inneren Ruhe, Mäßigung und Zufriedenheit führen. … Sie sollten sich durch ihr Verhalten bemühen, Missfallen und Tadel zu vermeiden, und durch ihr Beispiel andere bewegen, das Böse aufzugeben und das Gute in die Tat umzusetzen.

Wie sollte man geduldige Nachsicht üben (Kshānti)?

Wenn jemand den Übeln des Lebens begegnet, sollte er ihnen nicht ausweichen oder darüber betrübt sein. Er sollte in Geduld die Übel ertragen, die andere ihm zufügen, und sollte nicht nachtragend sein. Er sollte weder stolz sein, weil er wohlhabend ist, Lob erhält, oder in angenehmen Verhältnissen lebt; noch sollte er wegen Armut, Krankheit oder Not niedergeschlagen sein. Indem er sein Denken auf die tiefe Bedeutung des Dharma konzentriert, sollte er in allen Situationen eine ruhige und unparteiische Haltung bewahren.

Wie sollte man unerschrockene Tatkraft üben (Vīrya)?

Man sollte nie saumselig sein, gute Taten zu vollbringen. Alle mentalen oder physischen Leiden sollte der Schüler als das natürliche Resultat unwürdiger Handlungen in vorausgegangenen Inkarnationen betrachten, und von nun an sollte er fest entschlossen sein, nur noch jene Dinge zu tun, die mit dem spirituellen Leben übereinstimmen. Mit allen Lebewesen Mitleid empfindend, sollte er niemals Gedanken der Gleichgültigkeit aufkommen lassen, sondern er sollte unermüdlich darauf bedacht sein, allen Lebewesen hilfreich zu sein.

Wie sollte man sich in Meditation üben (Dhyāna)?

Intellektuelle Einsicht erhält man durch echtes Verstehen, dass alle Dinge dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegen, in sich selbst jedoch vergänglich sind und keine eigene Substanz besitzen. Es gibt zwei Aspekte des Dhyāna: Der erste Aspekt ist das Bemühen, unnützes Denken zu unterlassen; der zweite ist eine mentale Konzentration in der Bemühung, sich diese Leerheit (Śūnyatā) von Geist-Substanz zu vergegenwärtigen. Am Anfang wird der Neuling dies noch getrennt üben müssen, aber sobald es ihm gelingt, sein Denken zu beherrschen, werden beide miteinander verschmelzen. …

Er sollte über die Tatsache nachdenken, dass alle Dinge, obgleich sie vergänglich und leer sind, dennoch auf der physischen Ebene für jene einen relativen Wert darstellen, die an falschen Vorstellungen festhalten. Für diese Unwissenden ist Leiden sehr wirklich, es war immer real und wird immer real sein, unermessliches, unsagbares Leiden. …

Deshalb erwacht in der Seele jedes ernsthaften Schülers tiefes Mitleid mit allen leidenden Wesen, das ihn zu furchtlosem, ehrlichem Eifer und zu erhabenen Gelübden veranlasst. Er entschließt sich, alles, was er hat und was er ist, zur Befreiung aller Lebewesen hinzugeben. … Nach diesen Gelübden sollte der ernsthafte Schüler zu allen Zeiten, soweit es seine körperlichen und geistigen Kräfte zulassen, jene Handlungen ausführen, die anderen und ebenso ihm selbst förderlich sind. Ob er steht, sitzt, liegt oder sich bewegt, unablässig sollte er seine Gedanken darauf konzentrieren, was klugerweise zu tun und was klugerweise zu unterlassen wäre. Dies ist der aktive Aspekt von Dhyāna.

Wie kann man intuitive Weisheit ausüben (Prajñā)?

Wenn jemand durch das gewissenhafte Ausüben von Dhyāna Samādhi erlangt hat, ist er über das Unterscheidungsvermögen und das Wissen hinaus­geschritten; er hat die vollkommene Einheit von Geist-Substanz verwirklicht. Mit dieser Realisation kommt ein intuitives Verstehen der Natur des Universums. …, er verwirklicht nun die vollkommene Einheit von Substanz, innerer möglicher Kraft und Aktivität in der Tathāgataschaft. …

Prajñā-Pāramitā ist höchste vollkommene Weisheit. Ihre Früchte stellen sich unbemerkt ein, sie kommen mühelos und spontan. Sie vereinigt alle scheinbaren Unterschiede, gute wie böse, zu einem vollkommenen Ganzen.

Deshalb sollten alle Schüler, die nach der höchsten, vollkommenen Weisheit, der Prajñā-Pāramitā, streben, sich unablässig der Schulung des Edlen Pfades widmen, denn er allein führt sie zur völligen Verwirklichung der Buddhaschaft.

Um die wahre Natur von Prajñā verstehen und spirituell erfühlen zu können, ist es notwendig, die „Diesseits“-Betrachtung aufzugeben und mit spiritueller Einsicht an das „andere Ufer“ (Pāra) zu gelangen oder die Dinge anders zu betrachten. Auf „dieser Seite“ sind wir in eine Bewusstseinssphäre des individuellen analysierenden Verstandesdenkens eingehüllt, was zu einer Unmenge von Verknüpfungen und zu verminderter Unterscheidungskraft auf der niederen Ebene führt. Wenn uns diese innere „Umkehr“, diese Bewusstseins­veränderung aufwärts zum mystischen „anderen Ufer“ des Seins gelingt, dann betreten wir mehr oder weniger erfolgreich eine Welt transzendentaler Wirklichkeiten, von der aus wir die Dinge in ihrer ursprünglichen und spirituellen Einheit sehen können, jenseits der Māyā der täuschenden Schleier der Vielheit. Dann ergründen wir die essenzielle Natur dieser Realitäten und sehen sie, wie sie wirklich sind.

Dieser Zustand der inneren Klarheit und der richtigen spirituellen und intellektuellen Wahrnehmung ist von dem vertrauten Wirken unseres „diesseitigen“ Bewusstseins in unserer alltäglichen Welt der vergänglichen Erscheinungen so verschieden, dass der Ungeübte ihn mit der Vorstellung der Leere oder mit einem Vakuum in Verbindung bringt. Diese Leere (Śūnyatā im buddhistischen Sprachgebrauch) sollte in ihrer wahren metaphysischen Bedeutung jedoch nicht mit „Nichts“ verwechselt werden, das eine totale Verneinung des realen Seins und somit Auslöschung bedeutet. Auch kann diese Leere nicht durch die rein vernunftmäßigen Fähigkeiten des Gehirn-Verstandes begriffen werden, sondern eher durch die direkte oder unmittelbare Wahrnehmung, die dem erhabenen spirituell-intellektuellen Zustand angehört, der Prajñā genannt wird und der über den māyāvischen Unterscheidungen von Sein und Nichtsein, von Besonderem und Universalem, von dem Vielen und von dem Einen steht.

Dieser erhabene Zustand entsteht tatsächlich durch intuitives Wissen und die tiefe Erkenntnis der spirituellen Seele des Menschen, seines Buddhi-Manas, das unermesslich mächtiger und scharfsinniger ist als bloße Verstandestätigkeit. Solch intuitives Wissen und solch tiefe Einsicht sind immer in den erhabensten und umfassendsten universalen Bereichen unseres Bewusstseins aktiv enthalten. Durch das allmähliche Erwachen des niederen Menschen zu selbstbewusster Verwirklichung dieses spirituell-intellektuellen Bewusstseins – das in seiner aktiven Manifestation identisch mit Prajñā ist – steigen wir aus den unteren Bewusstseinsebenen empor und entkommen der Sklaverei von Ignoranz und Nichtwissen (Avidyā) und werden so von den vielen Arten der inneren und äußeren Schmerzen befreit. Diese Befreiung bedeutet das Erlangen höchster Erleuchtung und Unabhängigkeit (Mukti). Kurz, Prajñā kann vielleicht am besten mit Intuition übersetzt werden, die jene unmittelbare Erleuchtung oder jenes unumschränkte Wissen kennzeichnet, das wahrhaft göttlich ist.

In der Prajñā-Pāramitā-Gruppe der buddhistischen Schriften wird Prajñā als das leitende Prinzip der anderen Pāramitās angesehen, das auf diese als die Methode hinweist, Wirklichkeit zu erlangen. Prajñā wird mit dem wahrnehmenden und verstehenden Auge verglichen, das mit visionärer Klarheit die Horizonte des Lebens überblickt und als der Pfad bezeichnet wird, dem der Aspirant folgen soll. Ohne Prajñā wären die anderen Pāramitās ohne eines ihrer höchsten Elemente. Sie leitet deren fortschreitende Entwicklung, so ähnlich, wie die Erde die Äcker für das Wachstum der Vegetation bereithält.

Alle Wesen des Universums besitzen Prajñā, obgleich sie nicht selbst­bewusst aktiv ist, es sei denn, die evolvierenden Wesenheiten sind auf ihrer evolutionären Pilgerreise eins damit geworden. Die Tiere besitzen also auch Prajñā, einschließlich der Bienen und Ameisen. Sie sind sich dessen jedoch nicht bewusst, da eine solche Selbsterkenntnis in Verbindung mit Prajñā erst beim Menschen beginnt – zumindest hier auf dieser Erde. Im Menschen erscheint das erste schwache Wirken von Prajñā als ein Streben nach Erleuchtung, Liebe und Weisheit. Sie erblüht in einem Bodhisattva und steht in voller Blüte in den Buddhas und Christussen, die den Zustand der vollkommenen Erleuchtung verkörpern.

Der hohe Chela oder Eingeweihte, der erfolgreich die Stufe erreicht hat, auf der er selbst zu den Pāramitās geworden ist, der mit seinem kristallklaren und relativ grenzenlosen Bewusstsein und mit seinem ganzen Wesen mit der spirituellen Seele der Menschheit in Einklang steht, der sein Selbst für die selbstlose Ehre hingab, für alles Seiende zu leben, wird genau genommen ein Bodhisattva genannt – „einer, dessen Essenz (Sattva) aus der wahren Natur der Weisheit (Bodhi) besteht“. Das Motiv, das den echten Schüler bewegt, für sich selbst höchste Erleuchtung zu erlangen, ist niemals persönlicher Gewinn, wie hoch und vergeistigt dieser auch immer sein mag. Es ist vielmehr das Verlangen, der gesamten Welt zu dienen, um alle Wesen aus den Ketten der Unwissenheit und des Leidens zu befreien, um in sich ein mitleidsvolles Herz für alles Lebende zu wecken, damit jedem fühlenden Wesen im Laufe der Zeit vollständige Befreiung gelingen möge.7

In der Mahā-Prajñā-Pāramitā wird von Śāriputra die Frage gestellt, ob der Bodhisattva nur anderen Bodhisattvas und nicht „allen Wesen allgemein“ Ehrerbietung entgegenbringen solle. Worauf der Weise antwortet, dass er sie tatsächlich „mit demselben Gefühl der Selbstverleugnung verehren solle, wie er die Tathāgatas verehrt.“ Er fährt dann fort:8

Der Bodhisattva sollte daher ein unbegrenztes Mitgefühl gegenüber allen Wesen in sich erwecken, sein Denken völlig frei von Hochmut und Eitelkeit halten, das ihn auf diese Weise bewusst werden lässt: Mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft will ich dafür arbeiten, in allen fühlenden Wesen die Erkenntnis des Höchsten in ihnen zu erwecken, nämlich ihre Buddha-Natur (Buddhatā). Indem sie dies verwirklichen, werden sie alle Buddhas. …

Prajñā nimmt in der individuellen Wesenheit, wie z. B. in einem Menschen, ziemlich genau dieselbe Position ein wie Ādi-Buddhi oder Mahā-Buddhi im Universum. Eines der Axiome der esoterischen Weisheit besagt, dass unser Universum eine Wesenheit ist; deshalb dürfen wir uns seinen individuellen universalen Geist oder sein Bewusstsein als einen weiten Ozean selbstbewusster buddhi-manasischer Energiepunkte vorstellen. Aus dieser Sicht kann man Prajñā als das spirituelle individuelle Bewusstsein eines jeden Mitgliedes der Scharen von Dhyāni-Chohans oder kosmischen Geistern bezeichnen. Wenn jemand also den Prajñā-Bewusstseinszustand erreicht hat, so ist er in selbst­bewusster Gemeinschaft mit dem buddhi-manasischen Herzen des Wunderbaren Wesens unserer Hierarchie.

Aus dem Vorhergehenden sollte es klar sein, dass es zahlreiche Unterschiede in der Größe der Vollkommenheit unter den Mitgliedern einer Hierar­chie gibt, denn es bestehen unterschiedliche Grade der Erkenntnis zwischen einem Chela, der sich am Anfang des Pfades befindet, und einem Mahatma, auf den noch höhere Wesen folgen, die Prajñā auf der Leiter der Vollendung noch mehr verwirklichen, einer Leiter, die beständig weiter nach oben führt, bis das Wunderbare Wesen erreicht ist. Die Prajñā ist in allen dieselbe. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Wesen zeigen sich in ihren jeweiligen Äußerungen von Prajñā.

Es gibt auch noch Unterschiede anderer Art, wie z. B. zwischen einem Menschen, der Prajñā relativ verwirklicht hat und in Nirvāṇa eintritt, und einem anderen, der eine ähnliche Stufe erreicht hat, der dem Nirvāṇa jedoch entsagt. Hier sehen wir einen wesentlichen Unterschied, der auf der kosmischen Ethik beruht: Derjenige, der Nirvāṇa erlangt hat, jedoch darauf verzichtet, um zurückzukehren und der Welt zu helfen, steht ethisch weit höher als jener, der für seine eigene Glückseligkeit in Nirvāṇa eingeht. Jeder von ihnen hat genügend Prajñā erlangt, um den Nirvāṇa-Zustand verdient zu haben. Derjenige aber, der darauf verzichtet, hat eine selbstbewusste Verwirklichung von Prajñā auf einer höheren buddhischen Ebene erreicht als jener, der Nirvāṇa gewann und darin eingeht.

Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt in der Tatsache, dass jedes der sieben Prinzipien der menschlichen Konstitution siebenfach ist und dass deshalb Buddhi als Sitz von Prajñā ebenfalls siebenfach ist. Daraus erkennen wir, dass der in Nirvāṇa Eintretende das erreicht hat, was man als Kāma-Buddhi definieren kann, aber qualitativ hat er sich in seiner Verwirklichung von Prajñā nicht weiterentwickelt. Der andere hingegen, der Nirvāṇa entsagte, hat den Zustand buddhischer Prajñā errungen, den man entweder als Buddhi-Buddhi oder Manas-Buddhi bezeichnen kann. Die Buddhas und Mahā-Buddhas sind jene, die das erlangt haben, was man den ātmischen Zustand von Buddhi nennen kann; sie fühlen sich deshalb absolut und uneingeschränkt identisch mit dem Universum.

Wie bereits bekannt, enthalten die sieben Pāramitās den Kern der Verhaltensregeln, die ausführlicher in der Aufzählung der zehn Pāramitās oder in den vollständigen zehn ethischen Geboten des Okkultismus niedergelegt sind. Die drei zusätzlichen lauten: Adhishṭhāna, Upekshā und Prabodha oder Sambuddhi. Von diesen sieht Adhishṭhāna, das „unbeugsamer Mut“ bedeutet, nicht nur einer Gefahr oder Schwierigkeit entgegen, sondern, sobald sie durch Intuition oder Prajñā erleuchtet ist, „schreitet sie voran“ und „behauptet sich“. An nächster Stelle folgt Vīrya oder „Standhaftigkeit“. Die nächste, Upekshā oder „Urteilskraft“, erforscht und findet die richtige Methode für die Anwendung der Pāramitās und kommt demgemäß nach Dhyāna. Für die zehnte Pāramitā gibt es zwei Ausdrücke: Prabodha, das „Erwecken des inneren Bewusstseins“ bedeutet und Wissen und Vorherwissen bringt und damit zeigt, wie herrlich der Pfad sein wird; und Sambuddhi, „vollständige oder vollendete Erleuchtung oder Vision“ oder Selbstbewusstsein der eigenen Identität mit dem Spirituellen, dem Höhepunkt oder der Krone von allem. Anders formuliert ist es die „Vereinigung mit Buddhi“.

Im Orient werden von anderen Schulen für esoterische oder quasi-okkulte Ausbildung gelegentlich noch weitere „Tugenden“ mit einbezogen, zum Beispiel: Satya oder Wahrheit und Maitra oder universale freundschaftliche Gesinnung oder universales Wohlwollen. Wenn man diese jedoch analysiert, so erkennt man, dass sie bereits in den zehn Pāramitās enthalten sind. Auch soll hier erwähnt werden, dass in vielen Teilen der Welt unterschiedliche Ausbildungssysteme bestehen, von denen die meisten nutzlos sind, denn bei sorgfältiger Untersuchung erkennt man, dass es sich mehr oder weniger um Abwandlungen des Hatha-Yoga handelt, und diese sind, wie bereits betont wurde, auch im günstigsten Falle noch äußerst gefährlich und sie verursachen im schlimmsten Falle Wahnsinn oder den Verlust der Seele.

Stärke ergibt sich aus der Übung und durch Üben unserer Stärke in den Prüfungen und Erfahrungen des täglichen Lebens werden wir mit der Zeit auf den Pfad geführt. Folgt der Schüler der inneren Schulung nicht, die darin besteht, die zehn glorreichen Tugenden oder Pāramitās dem Geiste nach andauernd und nie nachlassend als unabänderliche Denk- und Verhaltens­regeln täglich zu üben, so wird seinen Bemühungen der Erfolg versagt bleiben. Gerade diese Schulung, dieses Üben seiner Willensstärke, seiner Intelligenz und seiner Liebe, von der sein Herz erfüllt sein sollte, führt den Neophyten schließlich zur Neugeburt oder zur „zweiten Geburt“, die den Dvija, den „Zweimal Geborenen“, den Initiierten, hervorbringt, der letztlich Meister über Leben und Tod werden soll.

Der Leser mag sich nun mit Recht fragen, welcher Zusammenhang zwischen den Pāramitās und den weitaus bekannteren Lehren des Buddhismus besteht, die als die vier edlen Wahrheiten und ihre logische Konsequenz, der achtfache Pfad, bekannt sind. Der Zusammenhang ist sowohl historisch begründet als auch naheliegend, denn beide enthalten die gleichen Grundgedanken, die jedoch in den mehr öffentlichen Lehren so abgefasst sind, dass sie als Verhaltensrichtlinien dienen können. Ihnen kann der Durchschnittsmensch folgen, falls er die das menschliche Leben begleitenden aufreibenden Fehler vermeiden möchte und den Frieden und die intellektuelle Gelöstheit gewinnen will, die Kennzeichen eines gut und edel geführten Lebens sind.

Kurz gesagt lauten die Vier Edlen Wahrheiten: 1. Die Ursache des Leidens und der Sorgen unseres Lebens entspringt dem Anhaften oder dem „Durst“ – Tṛishṇā. 2. Diese Ursache kann behoben werden. 3. Jene Ursachen, die menschliches Leid bewirken, werden durch eine Lebensweise aufgehoben, die die Seele von ihrem Anhaften an die Existenz befreit. 4. Die vierte Wahrheit, die zur Auslöschung der Leidensursachen führt, ist in der Tat der erhabene achtfache Pfad, das heißt: „rechter Glaube, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Verhalten, rechte Beschäftigung, rechtes Bemühen, rechte Betrachtung und rechte Konzentration.“

Dieser Weg des Strebens wurde von Buddha der mittlere Weg genannt, weil er einerseits keine nutzlose oder fanatische Askese erfordert und andererseits keine Nachlässigkeit der Prinzipien und Gedanken zulässt, sondern eine konsequente Verhaltensweise verlangt. Wie gesagt, es handelt sich um Regeln, die jeder Mann und jede Frau erfüllen können und die keine besonderen Voraussetzungen oder Umstände erfordern. Jeder kann sie anwenden, der sich danach sehnt, sein Leben zu verbessern und seinen Teil zur Beendigung des Leidens beizutragen, das uns überall umgibt – und dessen sich auf der ganzen Welt mitfühlende Herzen bewusst sind.

Man sollte jedoch nicht glauben, dass der Chela die strengen ethischen Gebote des achtfachen Pfades außer Acht lasse; dies würde bedeuten, dass er ihre Wichtigkeit missverstünde. In Wirklichkeit befolgt er sie nicht nur, sondern er tut es mit einer wesentlich größeren Konzentration seines Denkens und Fühlens als der Durchschnittsmensch, weil er gleichzeitig mit seinem ganzen Herzen danach strebt, sich auf die erhabene Höhe der Pāramitās zu erheben, nach denen er leben sollte.

Es ist vielleicht notwendig, diesem Punkt etwas mehr Gewicht zu ver­leihen, da unter einigen unerfahrenen Mystikern die völlig falsche Vorstellung herrscht, es gehöre zum Leben eines Chela, normale menschliche Beziehungen zu ignorieren, sich wenig um diese zu kümmern und zu glauben, er sei von allen Pflichten, auch weltlichen, gegenüber seinen Mitmenschen befreit. Diese Anschauung steht in krassem Gegensatz zu allen Lehren des Okkultismus.

Die hinter den Vier Edlen Wahrheiten stehende Grundwahrheit und deren acht Zusätze lauten: Wenn die Wurzel des Anhaftens – das Ver­langen – abgeschnitten werden kann, wird die Seele befreit, und, indem sie so die Ketten des Verlangens, die das Anhaften verursachen, abwirft, hört die Ursache des Leidens auf. Die Wurzel des Anhaftens wird durch eine Lebensweise abgetrennt, durch die der Durst der Seele nach materiellen Dingen allmählich abstirbt. Ist dies geschehen, so ist der Mensch „frei“ – er ist zum relativ vollkommenen Jīvanmukta geworden, zu einem Meister des Lebens. Wenn er diesen Zustand des äußersten Losgelöstseins erreicht hat, so ist er ein Bodhisattva. Er widmet sich von nun an vollständig allen Wesen und Dingen. Sein Herz ist mit grenzenlosem Mitleid erfüllt und sein Denken vom Lichte der Ewigkeit erleuchtet. Deshalb erscheint er auf Erden immer wieder als Bodhisattva, entweder als ein Buddha oder als ein Bodhisattva, oder er bleibt in der Tat als ein Nirmāṇakāya in den unsichtbaren Welten.

Die gewöhnliche Vorstellung, ein Bodhisattva habe nur noch eine Inkarnation zu durchlaufen, bevor er zum Buddha wird, ist so weit korrekt, aber in dieser Weise ausgedrückt nicht angemessen, denn das Ideal sowohl der esoterischen Theosophie als auch des esoterischen Buddhismus ist vielleicht noch mehr der Bodhisattva als der Buddha, weil ein Bodhisattva ein Mensch ist, dessen ganzes Wesen und Bestreben, dessen gesamte Tätigkeit darin liegt, allen Wesen Gutes zu tun und sie sicher zum „anderen Ufer“ hinüberzubringen. Ein Buddha hingegen steht, obgleich er dasselbe in erweitertem Umfang verkörpert, allein durch die Tatsache seiner Buddhaschaft während des gegenwärtigen Zustandes der spirituellen Entfaltung der Menschheit bereits an der Schwelle zu Nirvāṇa und geht in der Regel auch darin ein. Natürlich kann ein Buddha auch dem Nirvāṇa entsagen und hier auf der Erde als ein Bodhisattva oder ein Nirmāṇakāya verbleiben; in diesem Falle ist er als ein Buddha des Mitleids zugleich ein rechtmäßiger Buddha und ein Bodhisattva aus eigener Wahl.

Es kann nicht stark genug betont werden, wie wichtig es ist, die innere Bedeutung der Bodhisattva-Lehre zu verstehen, denn sie verkörpert den Geist der okkulten Unterweisung, der den gesamten Zyklus der Initiationsvorbereitung und die edlen Schulen des Mahāyāna erfüllt. Man erkennt sofort, weshalb der Bodhisattva im nördlichen Buddhismus so sehr verehrt wird und eine so erhabene Position in den menschlichen Herzen einnimmt. Sie sind Buddhas des Mitleids, weil sie dieses Ideal verkörpern, wenn sie auf die spirituell selbstsüchtige Glückseligkeit der nirvāṇischen Buddhaschaft verzichten, um in der Welt zu bleiben und für sie zu wirken. Selbst der einfachste und nur wenig Gebildete kann diesem Ideal nachstreben.

In künftigen Äonen wird man sich entscheiden müssen, ob man ein Buddha des Mitleids oder ein Pratyeka-Buddha werden will. Wenn die Wahl ansteht, dann kommt sie als karmisches Resultat vergangener Leben; denn sie ergibt sich aus der Charakterfestigkeit, den erweckten spirituellen Fähig­keiten, dem Willen zur Wachsamkeit und der Bereitschaft, Weisungen zu folgen: Alle diese Faktoren bestimmen und entscheiden tatsächlich die Wahl, wenn der Zeitpunkt zu wählen gekommen ist. Deshalb beginnt die Schulung schon jetzt: Indem man groß in den kleinen Dingen wird, lernt man, groß in den großen Dingen zu werden.

Als Schlussgedanke noch Folgendes: Man sollte das Leben, das durch den erhabenen achtfachen Pfad oder tatsächlich durch die Pāramitās bestimmt wird, nicht so schwer nehmen. Man sollte Freude daran finden. Ich bin der aufrichtigen Überzeugung, dass jeder, der diese edlen Regeln wenigstens bis zu einem gewissen Grade befolgt, dadurch außerordentlich vorwärtskommt. Wir sollten auch nicht vergessen, wie sehr durch solch beständiges Üben die Willenskraft gesteigert, das Denkvermögen gefestigt, das mitfühlende Herz gestärkt, die Seele erleuchtet und durch all das letztlich der Mahatma, der echte Bodhisattva, geboren wird.

Der Einweihungszyklus

Der Kern unseres Wesens ist reines Bewusstsein. In dem Maße, in dem wir uns mit unserem inneren Gott, mit diesem reinen monadischen Bewusstsein vereinigen, wird uns auf natürliche Weise Wissen zuteil. Unser Verständnis erweitert sich und wird schließlich kosmisch. Wir werden dann erkennen, dass es einen anderen, noch größeren Kosmos gibt, von dem unser Kosmos nur ein Atom ist. Dies ist der Weg der Evolution, des inneren und äußeren Wachstums. Es ist der Pfad der Initiation, der Pfad zu allmächtiger Liebe und zum Mitleid.

Das Wort „Initiation“ stammt aus einer lateinischen Wurzel mit der Bedeutung „beginnen“. Esoterisch bedeutet es zugleich ein Neuwerden, den Beginn einer Lern- und Lebensrichtung, die schließlich alle spirituelle und intellektuelle Größe, die der Einzelne in sich birgt, hervorbringt. Der evolutionäre Prozess wird tatsächlich beschleunigt, nicht in dem Sinne, dass eine Stufe ausgelassen oder übersprungen wird, sondern so, dass innerhalb einer kurzen Zeit alles zusammengefasst wird, was im natürlichen Ablauf Äonen des Strebens in Anspruch nehmen würde, bis es erreicht wäre.

Esoterische Schulung ist daher oft schmerzvoll, denn sie bewirkt ein beschleunigtes Wachstum – und sie vollzieht schnell und energisch, was sich nach der üblichen Verfahrensweise der Natur über viele Jahrzehntausende, vielleicht Jahrmillionen hin erstrecken würde. Es ist deswegen zeitweise schmerzvoll, weil man anstatt langsam zu wachsen, um überall die Schönheit und die Harmonie des Lebens zu erkennen, lernen muss, sich mit einem eisernen Willen selbst zu bezwingen, sich selbst völlig zu vergessen und allem zu dienen: das eigene Selbst für das universale Selbst aufzugeben und täglich zu sterben, um das kosmische Leben leben zu können.

Für jeden Menschen ist es vermutlich selbstverständlich, dass er von dem Augenblick an, in dem er das erste Mal als ein nicht selbstbewusster Gottesfunke aus dem Herzen des Unendlichen hervortrat, bis zu dem Augenblick, in dem er als selbstbewusster Gott die Göttlichkeit wieder erlangt, viele Male versagte und noch versagen wird. Aber am Ende wird er es erreichen – wenn er sich erhebt und vorwärtsdrängt. Ein Misslingen ist nicht so schlimm. Rückwärts gehen, stillstehen und es geschehen zu lassen, dass der evolutionäre Strom an uns vorbeizieht und uns zurücklässt – das ist moralisch falsch. Es ist unsere Pflicht, vorwärts zu gehen, unpersönlich und selbstvergessend zu werden. Natürlich bedeutet „Rückwärtsgehen“ nicht eine tatsächliche Rückwärtsbewegung eines Körpers. Dieser Begriff kommt aus der menschlichen Erfahrung. Wir gehen manchmal mit großem Mut und sprunghaftem Ehrgeiz an eine Sache heran, werden dann mutlos, wenden uns ab und lassen die Aufgabe unerledigt. Genau genommen ist es unmöglich, rückwärts zu gehen, denn in jedem Augenblick schließt die Natur die Tür hinter uns zu. Es bedeutet auch nicht, etwas rückgängig zu machen, was die Evolution zustande gebracht hat. Es deutet vielmehr ein tieferes Eintauchen in die Materie an, anstatt vollständiger zum Spirituellen aufzusteigen; anders ausgedrückt: eine Kursänderung unserer evolutionären Reise.

Es hat noch nie einen Mahatma gegeben, der nicht viele Male versagt hätte. Versagen ist bedauerlich, aber das kann geändert und durch die Entschlossenheit eines willensstarken Menschen in einen Sieg umgewandelt werden. Um W. Q. Judge zu zitieren:9

In bestimmten Handlungen oder Bemühungen mögen wir „scheitern“, aber solange wir standhaft weitermachen, sind dies keine „Misserfolge“, sondern notwendige Lektionen. Durch Festigkeit und Ausdauer erhalten wir neue Kraft. Damit ziehen wir – nach okkulten Gesetzen – alle Kraft an, die wir durch Überwindung gewonnen haben. Vollständiges „Gelingen“ ist für uns im Augenblick nicht erreichbar, aber wir können uns immer wieder beharrlich bemühen, und das allein ist bereits Erfolg, nicht das bloße Ausführen aller unserer Pläne und Versuche. Darüber hinaus gibt es immer noch weitere Stufen der Leiter zu erklimmen, ganz gleich wie hoch wir in der Natur bereits stehen. Die Stufen jener Leiter werden alle durch Arbeit und unter Schmerzen genommen, aber auch in der großen Freude bewusster Stärke und bewusster Willenskraft. Auch der Adept sieht neue Prüfungen vor sich. Wenn wir uns sagen: „Ich habe versagt“, sollten wir uns daran erinnern, dass dies ein Zeichen für unsere frühere und noch andauernde Bemühung ist. Und solange uns dies bewusst ist und solange wir erhabenere Höhen der Vollendung erklimmen müssen, wird uns die Natur nie verlassen. Wir streben und steigen empor, wofür das Gefühl des Versagens der sicherste Beweis ist. Die Natur hat jedoch keine Verwendung für jemand, der die Grenzen seines Strebens erreicht hat oder glaubt, nicht mehr streben zu müssen. Somit ist jedes „Versagen ein Erfolg“. Je größer zu Beginn unser Streben ist, desto größer sind die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben. Wir sollten deshalb nicht vergessen, dass der einzige Weg zum wirklichen Erfolg ist, es immer wieder zu versuchen, auch wenn man ständig versagt.

Das Ziel der Initiation liegt darin, den Menschen mit den Göttern zu vereinigen. Es fängt damit an, den Neophyt in Übereinstimmung mit seinem inneren Gott zu bringen. Das bedeutet nicht nur eine Gemeinschaft mit den Gottheiten, sondern auch, dass der Initiand, der Lernende, falls er erfolgreich ist, einen Schleier nach dem anderen lüften wird: zuerst den Schleier des materiellen Universums, danach die Schleier der anderen Universen innerhalb des Physisch-Materiellen, wobei jedes weitere Schauen hinter einen Schleier die Einführung in ein größeres Geheimnis bedeutet. Kurz, es handelt sich um das selbstbewusste Einswerden mit dem spirituell-göttlichen Universum, um die Erweiterung des Bewusstseins, sodass dieses von ehemals nur menschlichen, sich nun in kosmische Bereiche begibt. Auf diese Weise ist der Mensch in seinem Denken und Bewusstsein in jedem Teil des universalen Seins zu Hause – auf dem Sirius oder dem Polarstern, auf dem Kanopus oder auf der Erde und noch mehr in den unsichtbaren Welten.

Initiation ist eine Beschleunigung des Evolutionsprozesses, eine Belebung des inneren Menschen im Gegensatz zur äußeren physischen Erscheinung. Die höheren Stufen bringen Kräfte und eine Bewusstseinsentfaltung mit sich, die wahrhaft göttlich sind. Damit ist für den Betreffenden jedoch gleichzeitig die Übernahme gottähnlicher Verantwortung verbunden. Niemand wird durch seine bloße Unterschrift auf einem Stück Papier zu einem Esoteriker. Er kann kein Esoteriker werden, wenn nicht in seinem Herzen ein Schimmer buddhischen Lichtes scheint und sein Denken erleuchtet. Ein wirklicher Esoteriker ist ein Mensch, der zumindest mit einem Schimmer des Christus-Lichts, das in seinem Inneren leuchtet, geboren wurde. Ein solcher Mensch wird früher oder später, so gewiss wie das Wirken des Karmas seinen festen Lauf nimmt, zu diesem Pfad hingezogen, da dies die Auswirkung seines Schicksals ist, das, in der Vergangenheit vorbereitet und geformt, zu seinem heutigen Charakter führte und als Frucht eine instinktive Erkenntnis der Wahrheit hervorbrachte.10

Der unbedeutendste und praktisch nebensächlichste Teil der Initiation ist das Ritual. Keine Initiation kann auf einen anderen übertragen werden. Das gesamte Wachstum, jede spirituelle Erleuchtung findet in uns statt. Es gibt keinen anderen Weg. Symbolische Riten und äußeres Drum und Dran sind nur Hilfen für den Lernenden, Hilfen zur Entwicklung der Fähigkeit der inneren Schau, des inneren Auges. Daher ist jede Initiationsprüfung, ganz gleich, wo sie stattfand oder unter welchen Umständen, im Wesentlichen ein individuelles inneres Sichöffnen. Wäre es nicht so, gäbe es keine Initiation; sie wäre nur ein leeres Ritual, so wie es die Sakramente der heutigen Kirche größtenteils darstellen; und dennoch sind sie schwache Widerspiegelungen der einst lebendigen Erfahrungen von Chelas während ihrer Initiation.

Die alten Mysterien in Griechenland zum Beispiel, die vom Staat in Eleusis, in Samothrake oder in Delphi durchgeführt wurden, oder auch die­jenigen, die beim Orakel des Trophonius vorgenommen wurden, waren größten­teils zeremonieller Art. Dennoch war in allen, selbst noch in der Zeit des Verfalls, ein gewisses Maß an echter spiritueller Erfahrung vorhanden. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass die Literaturhinweise über die schweren Prüfungen, die zu bestehen waren, nicht zu wörtlich ausgelegt werden sollten. Es handelt sich weniger um erfundene, sondern vielmehr um symbolische Darstellungen dessen, was dem Initianden in seinem Inneren begegnet. Gedanken sind ja mentale Wesenheiten und besitzen daher ihre eigene Form und Kraft. Der Betreffende muss entweder seine niedere Natur überwinden oder er wird versagen.

Es gibt im Einweihungszyklus insgesamt zehn Grade, aber nur die sieben, die den sieben geoffenbarten Ebenen des Sonnensystems zuzuordnen sind, können uns interessieren – da die drei höchsten weit über unserem gegenwärtigen menschlichen Begriffsvermögen liegen. Das wird auch weiterhin so bleiben, bis unser Bewusstsein wirklich universal oder übermenschlich geworden ist. Diese sieben Grade sind die sieben großen Tore, die der Pilger durchschreiten muss, ehe er Gottähnlichkeit erreicht. Zwischen diesen Toren befinden sich je sieben kleinere Tore, die durchschritten werden müssen. Jedes bedeutet eine Stufe in der Vorbereitung und der Schulung, sodass es insgesamt neunundvierzig Stufen gibt, die den neunundvierzig Ebenen in unserem Sonnensystem entsprechen: sieben große Hauptebenen mit jeweils sieben Unterebenen oder kleineren Sphären oder Reichen.

Die ersten drei Stufen oder Grade bestehen aus Lernen, verbunden mit dem beständigen Streben, spirituell und intellektuell zu wachsen, sich zu entwickeln und erfolgreicher zu werden; dazu gehört auch die rechte Lebensführung. Diese ersten drei Stufen sind symbolisch, das heißt, die Riten werden in der Form eines Dramas ausgeführt. Es werden auch tiefere Lehren (die den Hauptteil dieser Riten bilden) über die verborgenen Naturgeheimnisse gelehrt. Selten werden sie jedoch in einer klaren und zusammenhängenden Form gegeben, weil das die Methode des Gehirn-Verstandes ist. Die Lehren werden vielmehr durch einen Hinweis hier und eine Andeutung dort erteilt. Diese Methode füllt den Verstand des Lernenden nicht mit den Gedanken anderer Menschen, sie facht vielmehr das spirituelle Feuer in ihm selbst an, wodurch seine Erkenntnis geweckt wird, sodass der Neophyt in Wahrheit sein eigener Initiator wird.

Was man von außen an Gedanken und Ideen empfängt, das sind nur die äußeren Anregungen, die die innere Schwingung auslösen und zum Empfangen des inneren Lichtes bereit machen. Die Übertragung von Ideen ist nichts anderes als eine Methode des Sprechens. Sie ruft Eindrücke hervor, die die entsprechende Schwingungssaite im psychischen Apparat des Empfängers anregen, und sofort stellt sich das entsprechende Wissen aus dem Denk­bewusstsein ein, das noch über der Psyche des Empfängers liegt. Wahrheitsliebe bis zur völligen Selbstvergessenheit öffnet den Empfangskanal. Licht und Wissen treten dann in Herz und Verstand ein, aus dem eigenen Selbst, aus dem eigenen inneren Gott, der auf diese Art erweckt wird oder, genauer gesagt, zu arbeiten beginnt, wenn auch vielleicht nur zeitweilig. Auf diese Weise initiiert sich der Mensch selbst. Der gesamte Prozess basiert auf den Naturgesetzen, auf dem natürlichen Wachstum der Erkenntnis, der inneren Schau.

Mit der vierten Initiation beginnt eine neue Reihe innerer Entfal­tungen – das heißt, auf den zukünftigen Stufen werden nicht nur das Studium, das höhere Streben und die rechte Lebensführung fortgesetzt, sondern es tritt bei diesem Grad noch etwas Neues hinzu. Von diesem Moment an beginnt der Initiand sein persönliches Menschsein zu verlieren und in die Göttlichkeit einzutauchen; das heißt, es beginnt die Loslösung vom rein Menschlichen und das Eintreten in den göttlichen Zustand. Es wird ihm vermittelt, wie er seinen physischen Körper verlassen kann, wie er sich von seinen physischen Sinnen trennen und nicht nur in die Unermesslichkeit des physischen Universums, sondern hauptsächlich auch in die unsichtbaren Bereiche vordringen kann. Er lernt dann, in das innere Bewusstsein der Wesenheiten und Sphären einzutreten, mit denen er in Berührung kommt, um ein Teil von ihnen zu werden und zu sein.

Dafür besteht folgender Grund: Wenn man etwas völlig verstehen will, muss man es sein; wenigstens zeitweise muss er es selbst werden, wenn der Initiand genau verstehen will, was alles damit verbunden ist. Sein Bewusstsein muss sich mit dem Bewusstsein des Wesens oder des Dings, das er in diesem Augenblick ist, verschmelzen, um die Bedeutung von allem zu erkennen. Daher die quasi-mystischen Erzählungen über den „Abstieg“ des Initianden in die „Hölle“, damit er das Leben und die Leiden der Höllenbewohner kennenlernt, und teilweise auch, um das Mitgefühl in ihm zu wecken, während er erlebt, was diese Wesenheiten auf Grund der karmischen Folgen ihrer eigenen Missetaten durchmachen. Und ebenso muss der Initiand in der anderen Richtung lernen, sich mit den Göttern zu vereinen und unter ihnen zu verweilen. Um ihr Wesen und ihr Leben zu verstehen, muss er für diese Zeit selbst zu einem Gott werden; mit anderen Worten, er muss in sein eigenes höchstes Wesen eintreten.

Auf diese Weise gerät der Neophyt – beginnend mit dieser vierten Initia­tion – in neue Bewusstseinsbereiche. Die spirituellen Feuer der inneren Konstitution sind sowohl ihrem Wesen als auch ihrer Funktion nach äußerst wirksam. Die spirituelle Elektrizität, wenn man es so ausdrücken will, fließt mit einem weitaus stärkeren Strom. Diese mystischen Dinge lassen sich nicht leicht in Begriffe der Alltagssprache fassen. Zusätzlich zu den Lehren und den symbolischen oder dramatischen Riten lernt der Neophyt – und ein Neophyt ist er immer, wie hoch der Grad auch sein mag –, die Naturkräfte zu beherrschen und fähig zu werden, solche Wunder zu vollbringen, z. B. den Körper oder unseren Planeten bewusst zu verlassen, um zu anderen Zentren unseres Sonnensystems zu gelangen.

Der fünfte Grad verläuft entlang der gleichen Erfahrungswege. Der Mensch entwickelt sich dabei zu einem Meister der Weisheit und des Mitleids. Mit diesem Grad kommt die endgültige Wahl: Will er wie die großen Buddhas des Mitleids zurückkehren, um der Welt zu helfen und ihr sein Leben zu widmen und nicht für sich selbst zu leben, oder will er wie die Pratyeka-Buddhas auf dem Pfad für sich selbst voranschreiten – nur zu seiner Selbstentwicklung?

Die sechste Initiation führt in noch höhere Bewusstseins- und Erfahrungsbereiche. Dann folgt die letzte und höchste Initiation, die siebente, die aus einer Gegenüberstellung mit dem eigenen göttlichen Selbst besteht und zu einer Vereinigung mit diesem führt. Wenn das geschieht, benötigt er keinen anderen Lehrer mehr.

Jedem Grad liegt eine eigene Regel und eine eigene Schulung zugrunde. Eine Regel gilt indes für alle Grade: Sie besteht in der Erkenntnis, dass der höchste Führer des Neophyten sein eigener, innerer Gott ist. Er ist sein höchster spiritueller und intellektueller Richter, und erst an zweiter Stelle kommt sein Lehrer. Ihm hält der Schüler freudig die Treue. Er zollt ihm jedoch keinesfalls blinden Gehorsam, denn er weiß jetzt, dass sowohl sein eigener innerer Gott als auch der innere Gott des Lehrers Funken des Selbst des Alaya11 sind.

Ich darf hinzufügen: Je höher der Grad ist, desto ungezwungener und weniger rituell werden die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler und desto mehr wird vom Schüler erwartet, dass er danach strebt, mit seinem inneren göttlichen Mahner übereinzustimmen und mit ihm eins zu sein. Außerdem wird auf den weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstufen keinerlei Aufzeichnung gemacht. Es wird nur das Gedächtnis der Hörer geschult, damit sie die eingeprägten Eindrücke aufnehmen und bewahren. Eine Schulung, die durch Abhängigkeit von schriftlichen Notizen niemals zustande gebracht werden könnte. Die Lehren sind weder schriftlich oder in Bildern oder in Geheimschrift noch in Stein gehauen als sichtbare Aufzeichnung nieder­gelegt. Sie existieren allein im Gedächtnis und im Herzen.

Alles Bemühen dient dazu, die Willenskraft, die Individualität und die angeborenen Fähigkeiten des inneren Gottes zu erwecken. Die Weitergabe von Wissen erfolgt deshalb im Flüsterton von Mund zu Ohr, wie eine alte Redewendung besagt. In den höchsten Graden ist nicht einmal das erlaubt, denn der Neophyt, der Empfänger des esoterischen Wissens und der Weisheit, ist dann so geübt, dass er sozusagen durch Gedankenübertragung empfängt und nicht einmal mehr in der Nähe seines Lehrers zu sein braucht. Immer mehr teilt sich der Lehrer durch den tonlosen Ton, die Stimme der Stille mit, die Stimme, mit der die „geoffenbarten“ Lehren im Schüler die spirituellen Ausblicke erschließen.

Jeder Schritt vorwärts ist ein Eindringen in ein größeres Licht, gegen das das Licht, das gerade verlassen wurde, nur ein Schatten ist. Wie hoch man auch auf der Evolutionsleiter stehen mag, selbst wenn man die Stufe der Götter erreicht hat, gibt es immer noch eine Stufe darüber, selbst in den Höhen, wo die Gottheiten walten. Es gibt immer jemanden, der noch mehr weiß und vor ihm ist, eine stetig aufsteigende, noch höhere Reihe von Wesenheiten mit stufenweise höherem kosmischem Bewusstsein. Der hierarchische Strom ist das Grundsystem der Natur. Niemand ist daher ohne Lehrer, denn über uns ist das unendliche Universum – Hierarchien des Lebens und der evolutionären Erfahrung, die die unsrige weit übersteigen.

Wenn daher die monadische Essenz eines Menschen, nachdem sie unsere eigene Hierarchie verlassen hat, in erhabenere Regionen des kosmischen Seins weiterschreitet, so tut sie das in Form einer Embryo-Wesenheit und beginnt dort ihren nächsten Aufstieg im ersten Zyklus der neuen Lebens­leiter, wobei sie zwangsläufig wieder jemanden braucht, der ihre Schritte leitet. Führer und Lehrer sind so lange notwendig, bis im Laufe von zeitalterlangen Zyklen, immer höher steigend, die oberste Sprosse auch dieser Lebensleiter erklommen und diese Wesenheit wieder eins mit jenem noch erhabeneren Geheimnis des Innersten seines verborgenen Wesens geworden ist. Welchen Namen können wir diesem erhabeneren Geheimnis geben? Die menschliche Sprache versagt und nur die spirituelle Vorstellungskraft vermag in diese Sphären des Göttlichen aufzusteigen. So geht die sich entwickelnde Wesenheit immer wieder von einem Lebensbereich in den anderen über, von einer Hierarchie zur nächsten Hierarchie von unbeschreiblicher Erfahrung – und so ewig weiter. Beweist das nicht eindeutig, dass in der Schule des Lebens jeder ständig ein Lernender ist, da immer neue Schleier das Gesicht der ewigen Wirklichkeit verhüllen?

Wenn das spirituelle Verständnis erst einmal vorhanden ist, wird der Mensch nie wieder vergessen können. Das Unglück des versagenden, nicht erfolgreichen Aspiranten liegt gerade darin, dass er die geschaute und fast berührte Herrlichkeit nicht aus dem Gedächtnis löschen kann. Wer den Himmel niemals erfahren hat, sehnt sich danach und hofft auf ein Gelingen. Wer aber an seine Grenzen gelangte und durch seine Tore einen flüchtigen Blick vom Überirdischen erhaschte und wem es dann misslang hineinzugehen, der wird sich so sehr daran erinnern, dass seine Seele voller Qual und sogar Verzweiflung an das Geschaute und Verlorene denkt.

Wenn die schweren Prüfungen kommen, die in den höheren Graden schrecklich sind, muss eine Geisteshaltung vorherrschen, die auch die überzeugendsten äußeren Einflüsse zurückweist. Solche Einflüsse entstehen aus der Beeindruckbarkeit, die gleichzeitig eine hervorragende Eigenschaft und doch in mancher Beziehung eine fatale Schwäche ist. Ein weiterer psychologischer Faktor, der besonders beachtet werden muss, ist die Fähigkeit des Gehirn-Verstandes, zu intensiv und zu schnell logisch zu denken. Die Denkweise muss den edleren Eigenschaften streng untergeordnet werden und darf nicht die Herrschaft übernehmen; ist sie untergeordnet, so ist sie auch von echtem Nutzen. Das höhere, im Buddhi-Prinzip wurzelnde Denken besitzt eine unfehlbare Logik und auch eine eigene unfehlbare Intuition, gegenüber denen die Schlüsse des Gehirn-Verstandes blasse und für gewöhnlich verzerrte Widerspiegelungen und deshalb oft höchst gefährliche Gegner sind.

Man kann nicht ungestraft mit dem Okkultismus spielen. Die gesamte Natur ist aufgerüttelt und der Kampf mit dem niederen Selbst kann zuweilen einen verzweifelten Charakter annehmen, denn der Neophyt spürt instinktiv, dass er siegen oder scheitern muss. Erfüllt er aber gewissenhaft die nächste anfallende Pflicht, und sei sie noch so gering und einfach, so befindet er sich auf seinem Weg. Indem wir unsere eigenen Schwächen überwinden, helfen wir nicht nur uns selbst, sondern der gesamten Menschheit; und mehr noch, wir helfen jedem fühlenden Lebewesen, denn wir sind eins mit den wahren Kräften, den Kreisläufen des Universums.

Das höchste Ziel der Initiation besteht darin, die Verbindung mit unserem essenziellen Höheren Selbst herzustellen.12

 Das ist der Pfad zu den Göttern, in der Bedeutung, dass sich jeder von uns zu einem individuellen göttlichen Wesen entwickelt. Das Betreten dieses Pfades ist ein sehr ernstes, ein sehr heiliges Unterfangen. Wenn jemand dieses erhabene Ziel erreichen will, bedarf es dazu aller verfügbaren Stärke und Willenskraft, die im Menschen vorhanden sind. Das kann nur geschehen, indem die persönlichen Probleme völlig ignoriert werden, sodass man in den sanften, kreisenden Bewusstseinsstrom gerät, der um den Kern unseres Wesens verläuft, um sich dann schließlich mit dem erhabenen Wunder – der Gottheit im Inneren – zu verschmelzen und mit diesem eins zu werden.

Hinter jedem Schleier liegt ein weiterer Schleier; doch durch alle scheint das Licht der Wahrheit, das Licht, das ewig in jedem von uns lebendig ist, denn es ist unser innerstes Selbst. Jeder Mensch ist in seinem innersten Wesenskern eine Sonne, deren Bestimmung es ist, ein Teil der Sternenschar in den Räumen des Weltalls zu werden, sodass er gleich vom ersten Anfang an, wenn unser göttlich-spiritueller Teil seine Wanderung durch das universale SEIN beginnt, bereits eine embryonale Sonne ist, das Kind einer anderen Sonne, die im Universum existierte. Die Initiation bringt diese innere, latente Sternenenergie im Herzen des Neophyten zum Vorschein.

Aham asmi Parabrahman – Ich bin das grenzenlose All – jenseits von Raum und Zeit. Dieser Gedanke ist das Fundament des Tempels der alten Wahrheit. Mutter Natur in ihren göttlichen, spirituellen, psychologischen, etherischen und physischen Reichen ist unsere universale Heimat – eine Heimat ohne bestimmten Ort, denn sie ist überall.

Hier nun verläuft der Pfad, auf dem jeder Menschensohn aufsteigen kann, wenn er den unbeugsamen Willen dazu besitzt und sich nach größerem Licht sehnt. Er kann die verschiedenen Stufen der Hierarchie erklimmen und bei jedem Schritt nach oben eine Initiation durchlaufen, bis sein Wesen schließlich eins mit dem Stillen Wächter unseres Globus wird. Dann wird in einer noch ferneren Zukunft seine Monade eins mit dem Stillen Wächter unserer Planetenkette werden, und in noch fernerer kosmischer Zeit wird er als indivi­duelles monadisches Lebenszentrum mit dem Hierarchen unseres Sonnen­systems identisch werden.

Unser Innerstes ist das Innerste des Universums: Jede Essenz, jede Energie, jede Kraft, jede Fähigkeit, die im grenzenlosen All vorhanden ist, ist in einem jeden von uns aktiv oder latent vorhanden. Alle großen Weisen lehrten dieselbe Wahrheit: „Mensch, erkenne dich selbst.“ Dies bedeutet, sich im Denken und Fühlen nach innen zu wenden, sich zunehmend selbstbewusst mit der Göttlichkeit im innersten Kern unseres Wesens zu verbinden – mit der Göttlichkeit, die auch das wahre Herz des Universums ist. Dort ist in der Tat unsere Heimat: im unendlichen, grenzenlosen Raum.

Fußnoten

1. Oft wird gefragt, welche Garantie der Aspirant bieten könne, die Lehren nicht unrechtmäßig und planlos weiterzureichen. Es gibt keine absolute Garantie. Das ist einer der Gründe, weshalb die Grenzen stets so eng gezogen werden und weshalb man in der richtigen Weise anklopfen muss. Ein Schutz gegen den Verrat von tieferen Lehren ist die Tatsache, dass die Welt diese Lehren nicht versteht und den Menschen, der die heiligste Wahrheit der Welt verrät, für geistesgestört halten würde. Dinge, die die Menschen nicht begreifen, halten sie immer für Torheiten – wie viele Genies sind, zumindest am Anfang ihrer Laufbahn, wenigstens teilweise für verrückt gehalten worden!
Ein weiterer Schutz ist dadurch gegeben, dass jeder, der einer der höheren Stufen angehört, genau weiß, dass ein einziger Verrat genügt, um ihn von sämtlichen weiteren Lehren auszuschließen, und dass erst mit jedem neuen Einweihungsgrad die Lehren des jeweils vorausgegangenen erklärt werden. Folglich würde ein Verrat im dritten Grad beispielsweise bedeuten, dass ein „Schleier“ gelüftet würde, der im vierten Grad erklärt oder dessen Hintergrund untersucht werden muss, usw. Das Gleiche gilt für alle weiteren Stufen. [back]

2.  Ist uns wirklich bewusst, dass jeder Mensch der Gedanke seines eigenen inneren Gottes ist – eine zwar unvollkommene Widerspiegelung jenes inneren Glanzes, aber dennoch ein Kind der Gedanken der inneren Gottheit –, genauso wie die Gedanken der sich entwickelnden Menschen lebendige Wesenheiten sind, embryonale Seelen, die sich ent­wickeln und auf der Straße des evolutionären Wachstums aufsteigen? [back]

3. Answers to Correspondence, Dezember 1893. [back]

4. Majjhima Nikaya, I, S. 288. [back]

5. Diese bedeutende Tatsache des Okkultismus besitzt demzufolge sowohl einen hohen als auch einen niederen Aspekt. Es handelt sich um dieselbe Fähigkeit der Seele, die sowohl von einem Adepten der weißen als auch der schwarzen Gruppe angewandt wird, um gegebenenfalls magische Effekte zu produzieren. Es ist in der Tat nicht übertrieben zu sagen, dass die Kräfte von Āveśa, das Eindringen in den und das Gebrauchen des Körpers eines anderen, sowie das Hpho-wa oder die Macht, den Willen und die Intelligenz auf andere Teile zu projizieren – manchmal über unglaubliche Entfernungen hinweg –, größtenteils von dieser Eigenschaft oder Charakteristik der leicht wandelbaren Seele abhängen. [back]

6. Oft übersetzt als „Das Erwachen des Glaubens im Mahāyāna“. Jedoch vermittelt dies die Bedeutung des ursprünglichen Sanskrit nur sehr unzulänglich. Śrāddha bedeutet Gewissheit oder Vertrauen, das auf einem Entfalten innerer Erfahrungen beruht und dessen Beweis sowohl innerhalb als auch außerhalb des Selbst zu finden ist und hier einen unaufhörlichen Prozess der inneren Entfaltung mit einschließt, also eine Bedeutung, die im Wort „Glaube“ völlig fehlt. Utpāda enthält dieselbe Vorstellung eines beständigen und fortschreitenden Entfaltens, ein Erwachen oder ein Sicherheben zur Bewusstheit oder Vergegenwärtigung von Weisheit, die im mystischen Verzicht auf die Früchte der Befreiung und im Erreichen der Buddhaschaft gipfelt. Diese Schrift gehört zur Gruppe der Prajñā-Pāramitā-Schriften und wird allgemein Aśvaghosha zugeschrieben, einem angesehenen buddhis­ti­schen Gelehrten, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. lebte und dessen hervorragendes Werk Mahā-Alaṃkāra oder „Buch der großen Herrlichkeit“ ist. [back]

7.  Vgl. Fo-Mu Prajñā-Pāramitā, Fas. 14, Kapitel „Über weise Männer“. [back]

8. Hsüan-chuang, Fas. 387, Kapitel XII, „Über die Moralität“. [back]

9. Answers to Correspondence, September 1892. [back]

10. Es gibt gelegentlich Fälle, in denen Menschen in ihren vergangenen Leben Chelas waren, sie sind aber auf dem Pfad gestolpert und haben in einer für sie sehr unglücklichen Weise die Verbindung zu ihrem Lehrer unterbrochen. Doch auf Grund ihrer früheren Qualitäten werden sie in der folgenden oder übernächsten Inkarnation mit ungewöhnlichen Kräften oder Fähigkeiten geboren. Sie beginnen mit einem Reservoir aus gesammelten inneren spirituellen, intellektuellen und psychischen Erfahrungen, durch die sie das Licht und die Hilfe erhalten, um mit ihrem inneren Gott in Verbindung zu bleiben.
HPB nannte diese die Schützlinge der Nirmāṇakāyas und verweist auf Jakob Böhme als Beispiel. Er war ein Mensch, der durch beträchtlichen Eigensinn gefährlicher Art die Verbindung unterbrochen hatte. Er war jedoch weit genug fortgeschritten, sodass er die erzielten spirituellen Erkenntnisse nicht mehr verlor. Obwohl er nicht mehr ein direkter Chela war, wurde dennoch über ihn gewacht. Es wurde ihm geholfen und sein zukünftiger Fortschritt wurde unmerklich stimuliert, sodass er im nächsten Leben (oder sogar bereits am Ende seines Lebens als Jakob Böhme) erneut die bewusste Verbindung herstellen kann oder hergestellt hat. Anders ausgedrückt, Böhme war spirituell erfahren, er initiierte sich selbst aus seiner inneren Lichtquelle, die er in früheren Zeiten, als er noch ein angenommener Chela war, erworben hatte. Wie schon erwähnt, ist in Wirklichkeit jede Initiation eine Selbstinitiation, ein Selbsterwecken. Ein Lehrer leitet nur an, hilft, tröstet, spornt an und unterstützt. Siehe Die Geheimlehre, Bd. I, 508–9. [back]

11. Alaya (Sanskrit) – das Unauflösliche, die Ewigkeit. Nach buddhistischer Auffassung der Ursprung aller Wesen und Dinge. [back]

12. Aus irgendeinem Grund kam es bei einigen Leuten zu einem außergewöhnlichen Missverständnis, indem sie annahmen, dass Frauen zu den höchsten Initiationen nicht zu­gelassen werden. Das ist nicht der Fall. Nichts in der Welt kann eine Frau davon abhalten, den edelsten Gipfel zu erreichen, die schwersten Initiationsprüfungen erfolgreich zu bestehen. Diejenigen, die sich den höchsten Initiationen unterziehen, tun das jedoch gewöhnlich in einem männlichen Körper, einfach weil es leichter ist, da der psychologische und physiologische Apparat besser dazu ausgestattet ist. Es ist jedoch geradezu töricht anzunehmen, dass eine Initiation zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit oder Gegenwart ein Vorrecht oder besonderes Privileg der Männer gewesen sei.
Man braucht sich nur der langen und ununterbrochenen Kette der Prophetinnen zu erinnern, auch jener der anthropomorphischen und materialistischen Zivilisationen des antiken Griechenlands und Roms, um zu erkennen, dass Frauen ihren Platz in den Tempelschulen einnahmen und hohes und hervorragendes Ansehen in der esoterischen Schulung erlangten. Das Orakel zu Delphi ist vielleicht das bekannteste. Weitere Beispiele sind die keltischen Druiden und die germanischen Völker, die in der Vorzeit wegen ihrer weiblichen Führer, ihrer Seherinnen und Prophetinnen berühmt waren. Wie viele weibliche Initiierte sich auch unter dem Schleier der Zurückgezogenheit verborgen haben mögen, ihre inneren Fähigkeiten und ihre Stärke waren weltweit anerkannt. [back]