Band 3: Karma
- Theosophische Perspektiven
Karma und Strafe
Nicht Zorn, noch Gnade kennt’s; es mißt sein Maß
Untrüglich, fehlerlos ist seine Waag’;
Zeit gilt ihm nichts: es richtet morgen wohl,
Vielleicht nach manchem Tag.
– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens
Der Sinn für Gerechtigkeit ist im menschlichen Denken tief verwurzelt, denn sein Denkvermögen ist ein Teil des Kosmos, dessen Aktionen und Reaktionen alle auf Gerechtigkeit gründen. Es gibt nichts, was ein Kind mehr empört oder einen Erwachsenen mehr verbittert als das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Ein Mensch akzeptiert ein Unglück zumindest dann ohne Bitterkeit, wenn er weiß, daß er es verdient hat. Im Hinblick auf die herrschende Lebensauffassung, die allgemein herrschende Selbstsucht und den Grundsatz ‘jeder für sich allein’, schenkt man in der westlichen Welt dem Vertrauen in die Gerechtigkeit der Dinge wenig Beachtung. Wie könnte dies auch möglich sein, nach Jahrhunderten der falschen Lehre und der Gefühle der Rache, von denen nur wenige frei blieben? Nur eine wirkliche Lebensphilosophie kann den Menschen veranlassen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es muß eine erhabenere Sichtweise des Lebens geben, als es die Vorstellung von einem einzigen Leben bietet. Häufig sieht man, daß das Gute bestraft und das Schlechte belohnt wird. Solange man nicht erkennt, wie dies mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist, wird es nicht möglich sein, das Herz von Bitterkeit zu befreien, Mißtrauen in Vertrauen zu wandeln und den trügerischen Schein zu besiegen, durch welchen man in jedem anderen Menschen einen Feind sieht. Da die Theosophie Ordnung im menschlichen Denken schaffen kann und damit die Ordnung und die Harmonie enthüllt, die die Natur immer anstrebt, kann sie uns vor uns selbst beschützen.
Gerechtigkeit fordert keine Bestrafung und schon gar nicht durch unsere Hand. Karma wird dafür Sorge tragen und zwar effizienter als wir es tun könnten, indem es jedem genau das bringt, was er verdient. Warum sollte man dem noch etwas hinzufügen? Unsere einzige Sorge muß sich darauf beschränken, die Menschen zu lehren, dem, was sie verdienen, tapfer ins Auge zu sehen. Was könnten wir erreichen, wenn unsere Gefängnisse sich mehr auf Erziehung als auf eine Bestrafung richteten? Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis allmählich durch, und wir sind uns in zunehmendem Maße bewußt, daß eine ‘Strafe’ keine Besserung zustande bringt. Eine der schlimmsten Formen der Pflichtverletzung gegenüber unseren Mitmenschen ist die leider noch in einigen Ländern angewandte Todesstrafe. Für jene, welche die Verantwortung dafür tragen, muß ein solcher der Natur entgegenarbeitender Eingriff ein schweres Karma zur Folge haben. Selbstverständlich muß die Gesellschaft vor Verbrechern geschützt werden, aber in einer solchen Weise, daß diese sich bessern und nicht noch schlechter werden.
Die Theosophie zeigt genau auf, welche Folgen es hat, jemandem das Leben zu nehmen, eine Widrigkeit gegen die Ordnung, die in gewissem Sinne noch schlimmer ist, wenn der Staat der Mörder ist, weil dann so viele Menschen an der Tat beteiligt sind. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, daß jene, die auf gewaltsame Weise des Lebens beraubt werden, nicht wirklich sterben, d. h. die Erdatmosphäre nicht verlassen, sondern auf der astralen Ebene verweilen und hier in gewisser Weise freier als hinter den Gefängnisgittern sind, bis ihre natürliche Lebenszeit abgelaufen ist. Hier können sie schwache Naturen zu Verbrechen anspornen und ihre Gefühle des Hasses der Gesellschaft gegenüber, die sie so schlecht behandelte, in die Gedanken lebender Menschen übertragen. Bedenken Sie einmal das schreckliche Karma aller Beteiligten und vergleichen es mit dem Ergebnis eines überlegten und aufrichtigen Versuchs, den Übeltätern aus ihrer mißlichen Lage zu helfen. Es steht fest, daß durch falsche Methoden Verbrecher erschaffen werden können.
Widerstehe dem Übel nicht und vergelte Böses mit Gutem ist eine buddhistische Vorschrift, die ursprünglich im Hinblick auf das unerschütterliche karmische Gesetz gepredigt wurde. Auf jeden Fall ist es eine verwegene Entweihung, wenn der Mensch das Gesetz in seine eigene Hand nimmt. Menschliche Gesetze dürfen einschränkende Maßnahmen ergreifen, aber keine Strafmaßnahmen anwenden; ein Mensch aber, der an Karma glaubt und sich dennoch rächt und weigert, jedes Unrecht zu verzeihen und Böses mit Gutem zu vergelten, ist ein Übeltäter und schadet nur sich selbst. Da Karma den Menschen, der ihm Unrecht tat, sicher bestrafen wird, wird jener, der versucht, anstelle der Bestrafung durch das große Gesetz seinem Feind noch eine zusätzliche Strafe zuzufügen, nur die Grundlage für eine zukünftige Belohnung seines Feindes und eine Bestrafung seiner selbst schaffen.
– H. P. BLAVATSKY, The Key to Theosophy, S. 200
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in Bezug auf das komplexe karmische Gesetz. Neben der Mehrheit der Menschen, die unwissend und ungefragt Mißgeschicke erleiden müssen gibt es Menschen, welche diese Mehrheit in der Lebensschule hinter sich gelassen haben. Manchmal nehmen deren Egos ganz bewußt sogenanntes schlechtes Karma auf sich, um sich darin zu üben, Schwächen zu besiegen und Kräfte zu stärken. Oder aber sie übernehmen eine mühevolle und wenig erfreuliche Aufgabe, indem sie freiwillig in Elendsvierteln oder Entwicklungsgebieten leben, ausschließlich um ihren Mitmenschen zu helfen. Zum Glück begegnen wir immer öfter derartigen Beispielen, die Lichtblicke vor dem dunklen Hintergrund unserer Zivilisation sind.
Daß unser Gefühl für Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grade verdunkelt ist, zeigt sich vielleicht auch in dem Glauben an das Gebet zu einem Gott ‘außerhalb von uns selbst’. Das hat nichts mit Streben zu tun oder dem Bemühen, den ‘Gott in uns’ zu erreichen – letzteres sollte immer im Hintergrund, oder besser im Vordergrund unseres Bewußtseins stehen –, sondern mit dem Bitten um persönliche Vorteile. H. P. Blavatsky nennt dies töricht und sinnlos, es sei denn, es ist mit Willenskraft verbunden; wenn dies geschieht, wird es zur schwarzen Magie. Stellen Sie sich zwei Armeen vor, deren Ziel es ist, einander umzubringen, und die beide Gottes Segen für den Sieg erflehen! Ein aufrichtiges Gebet für persönliche Vorteile wirkt schwächend und herabsetzend; wenn es nicht aufrichtig ist, ist es reine Heuchelei. Wieviel gesünder, stimulierender und erhabener ist die Lehre von Karma. Sie appelliert an die angeborene Würde des Menschen und lehrt ihn, daß er der Meister seines eigenen Schicksals ist; daß er ernten wird, was er gesät hat; daß es keinen Zufall im Universum gibt; daß es keine ‘bevorzugten’ Wesen gibt, sondern daß die unbegrenzten Schatzkammern der Natur all jenen offenstehen, welche die Bedingungen erfüllen. Es gibt für uns alle noch eine gütigere Seite der Gerechtigkeit, die wir nicht vergessen sollten. Nach einem Leben des Kampfes, der Übung, vielleicht des Schmerzes und der Enttäuschung, folgt Devachan, ein Ausgleich von Segen und Ruhe, eine Vorbereitung auf den neuen Tag.
Dies ist das Gesetz; es wirkt Gerechtigkeit,
Niemand entgeht ihm, keiner hemmt’s zuletzt;
Sein Urgrund ist die Liebe, und sein Ziel
Fried’ und Vollendung. Ihm gehorchet jetzt!
– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens