Band 3: Karma
- Theosophische Perspektiven
Fatalismus – oder Schicksal ?
‘Dieses Gesetz – sei es bewußt oder unbewußt – prädestiniert nichts und niemanden. Es existiert von und in Ewigkeit, fürwahr, denn es ist EWIGKEIT selbst; und als solches, da keine Handlung der Ewigkeit gleich sein kann, kann man von ihm nicht sagen, daß es handelt, denn es ist HANDLUNG selbst. Es ist nicht die Welle, die einen Menschen ertränkt, sondern die persönliche Handlung des Unglücklichen, der vorsätzlich hingeht und sich unter die unpersönliche Wirkung der Gesetze begibt, welche die Bewegung des Ozeans beherrschen.’
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. II, S. 319
Wahrscheinlich gibt es keine Wahrheit, die nicht so verdreht werden kann, daß sie etwas anderes darstellt, als sie wirklich ist. Wie schon erwähnt, ist Karma im Grunde die Lehre des freien Willens. Dennoch wird diese Lehre, welche die Wahl des Handelns beinhaltet, durch eine merkwürdige Verdrehung der Gedanken oft als Fatalismus ausgelegt. Welcher dunkle Geist hat irgendwann suggeriert, daß das Leben des Menschen – eines Gottes im Embryostadium und des Gestalters seines eigenen Schicksals – einem vorbestimmten Schicksal untergeordnet sei ? Aber was immer jemand in einer niedergeschlagenen Stimmung auch sagen möge, jeder Mensch weiß tief im Herzen, daß er frei ist im Denken und Handeln. Das zeigt sich in der Tatsache, daß er fortwährend in der Richtung arbeitet, von der er sich Erfolg verspricht. Wenn er günstige Resultate sich selbst zuschreibt, ist es wohl eine merkwürdige Logik, für andere, weniger gute Erfolge den Willen Gottes verantwortlich zu machen, es sei denn, man meint den Willen seines eigenen inneren Gottes. Dies wird im folgenden Zitat aus der Zeitschrift Lucifer, Teil VI, Nr. 9, März 1935, erläutert:
Im praktischen täglichen Leben besteht kein Zweifel, daß der Mensch einen freien Willen hat. Die Freiheit des Menschen innerhalb bestimmter natürlicher Grenzen ist offensichtlich. In der Beziehung zu seinen Mitmenschen hat er grundsätzlich die Freiheit, zu wählen und ist daher verantwortlich. Unsere gesamte gesellschaftliche Struktur und unsere Gesetze beruhen darauf. Die Idee der moralischen Verantwortung setzt den freien Willen voraus. Einen Menschen, der sich weigert, zu handeln oder die Verantwortung für seine Taten auf sich zu nehmen, mit der Begründung, er habe keinen freien Willen, wird man als einen Einfaltspinsel betrachten oder als jemanden, der durch unsinniges Nörgeln die Erfüllung der Pflicht und richtiges Handeln verhindert. Ein Mensch, dem es nicht möglich ist, seine Handlungen mit seinem Willen zu beherrschen, ist schwachsinnig, ein Hysteriker oder geisteskrank. Ein Richter würde ihn nicht in das Gefängnis, sondern in eine Pflegeanstalt einweisen. Wenn der freie Wille eines Menschen solcherart gehemmt ist, wird er nicht verurteilt.
Die Frage des freien Willens wird durch die übertriebene Vorstellung von dem, was Freiheit ist, sehr unklar. Unbewußt meint man vielleicht, daß es keine Freiheit gibt, wo einige Begrenzungen vorhanden sind.
Freiheit kann nur unter der Bedingung gewährt werden, daß sie nicht mißbraucht wird. Der Mensch hat innerhalb der sozialen Gesetze der Gesellschaft, welcher er angehört, persönliche Freiheit. Wenn er diese Gesetze übertritt, wird seine Freiheit durch Gefängnismauern beschränkt. Bezweifelt oder stellt es jemand in Frage, daß ein Mensch draußen, verglichen mit einem Gefangenen, Freiheit besitzt?
In einer Gesellschaft, wo Gesetz und Ordnung herrschen, sind alle Menschen, innerhalb der Grenzen des Gesetzes und solange sie sich an die soziale Ordnung halten, frei. Ein gesetzestreuer Bürger ist kein Sklave, weil er sich an die notwendigen Beschränkungen der gesellschaftlichen Ordnung hält.
Menschen, die das Gesetz brechen, müssen die Folgen davon in Kauf nehmen, erst recht, wenn es sich um die höheren Gesetze der Einheit, Zusammenarbeit und Mitleid handelt, welche das Universum zusammenhalten und den tiefsten Kern, die Essenz der Dinge, formen. Jede in Bewegung gesetzte Strömung erreicht ihr Ziel und wird mit der gleichen Kraft zurückgeworfen, mit der sie bewußt gegen das höhere Gesetz gerichtet war. Aber es ist immer möglich, diese Kraft durch eine Gegenströmung abzuschwächen oder zu neutralisieren. Angenommen, jemand ist in eine Familienfehde verstrickt, wie sie früher im mittelalterlischen Venedig vorkamen, die das Leben durch Konflikte vergifteten, sich ständig weiter aufschaukelten und durch jede Generation neu genährt wurden. Nehmen wir an, daß ein solcher Mensch dann beschließt, wie es in jenen Tagen vorkam, den Bann zu brechen, die Freundschaft anzubieten und den alten Streit beizulegen. Das könnte den Anfang eines neuen Karmas bedeuten, welches das alte neutralisiert und das schließlich Frieden bringt, wo Zwietracht herrschte.
Manchmal verdreht das selbstsüchtige menschliche Denken diese Lehre noch in einer anderen Weise. Wir alle kommen dann und wann in Kontakt mit den Leiden anderer Menschen, die durch Unglücksfälle oder Schicksalsschläge getroffen wurden, womit wir scheinbar nichts zu tun haben. Man stellt sich dann manchmal die Frage, ob man nicht in das Karma eingreift, wenn man den Betroffenen hilft und versucht, ihr Leiden zu mildern. Das ist mehr oder weniger eine theoretische Frage, weil die meisten Menschen in der Praxis des täglichen Lebens unmittelbar bereit sind, zu helfen, wo es möglich ist, und damit einem angeborenen Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Verantwortung Folge leisten. Womöglich haben wir mit den Beteiligten in der Vergangenheit Bande geknüpft und die Umstände mitverursacht, die sie nun trafen. Wir sollten daher stets im Auge behalten, daß ‘das Unterlassen einer barmherzigen Tat eine Todsünde ist’ (Die Stimme der Stille). In unserer Blindheit verwirren wir oft die Fäden dieses komplizierten Lebensgewebes, das uns alle verbindet. Hüten wir uns vor Gleichgültigkeit. Der Mensch, der ‘auf dem Weg liegen blieb’, auf dem wir uns gerade befinden, hat ein Recht auf unsere Hilfe. Wenn es sein Karma ist, vom Unglück heimgesucht zu werden, ist es auch sein Karma, daß jemand vorbeikommt, der ihm Hilfe leisten kann. Das ist selbstverständlich. Denn über dem Gesetz der Ursache und Wirkung, das uns dorthin brachte, steht das ‘Gesetz der Gesetze, das Mitleid.’ Es ist eindeutig unsere Pflicht, ihm zu helfen und Beistand zu leisten. Wir können es getrost den Gesetzen der göttlichen Gerechtigkeit überlassen, darauf zu vertrauen, daß ein Mensch bekommt, was er verdient, und wir brauchen dabei nicht nachzuhelfen.
Wir sind unseres Bruders Hüter. Wehe dem, der hartherzig an ihm vorbeigeht.
Es wäre besser, wenn man einen Mühlstein um seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer.
(Lukas, 17,2)
Manche Dinge sind in der Tat unvermeidlich. Wir alle befinden uns im Universum und wir müssen leben. Wir sind hier auf der Erde und werden solange zurückkehren müssen, bis wir unsere Lektionen gelernt haben, und bis zu diesem Tage werden wir mit ihr verbunden bleiben. Aber wir selbst lenken unser Schiff in vernünftiger oder unvernünftiger Weise durch den Strom. Wenn wir die Probleme dieser Erde und die unsrigen, die damit verbunden sind, überwunden haben, steht es uns frei, weiter zu gehen, tatsächlich bestimmen dann wir, daß wir weiter gehen. Wer Karma als Fatalismus bezeichnet, übersieht die grundlegende Tatsache, daß der Mensch im Innersten seines Wesens eins ist mit dem Herzen des Universums, worüber keine höhere Macht steht.
Jeden Tag schnitzen wir mit unseren eigenen Händen diese zahlreichen Windungen in unser Schicksal, indes bilden wir uns ein, daß wir der königlichen Heerstraße der Ehrbarkeit und Pflicht folgen, und beklagen uns dann, daß diese Windungen so dunkel und so verworren sind. Wir stehen verwirrt vor dem Geheimnis, das wir selbst erschufen, und vor den Rätseln des Lebens, die wir nicht lösen wollen, und dann klagen wir die große Sphinx an, daß sie uns verschlingt. Aber fürwahr, es gibt keinen Zufall in unserem Leben, keinen mißratenen Tag und kein Mißgeschick, die nicht auf unser eigenes Handeln in diesem oder in einem anderen Leben zurückgeführt werden könnten. Wenn man die Gesetze der Harmonie bricht, … so muß man darauf gefaßt sein, in das Chaos zu stürzen, das man selber bereitet hat. …
Wenn daher irgend jemand hilflos vor diesen unveränderlichen Gesetzen steht, so sind das nicht wir selbst, wir, die Schmiede unserer eigenen Geschicke, sondern jene Engel, die Hüter der Harmonie. Karma-Nemesis ist nichts weiter, als die spirituelle, dynamische Wirkung von Ursachen, hervorgebracht durch unsere eigenen Handlungen, und von Kräften, die von eben denselben zur Tätigkeit erweckt wurden. …
Dieser Zustand der Dinge wird andauern, bis die spirituellen Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen voll eröffnet sind, … Bis dahin sind die einzigen Abwehrmittel gegen die Übel des Lebens Einigkeit und Harmonie – eine Bruderschaft DER TAT, und Altruismus, der nicht bloß dem Namen nach besteht. Die Unterdrückung einer einzigen schlechten Ursache wird nicht eine, sondern viele schlechte Wirkungen unterdrücken.
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. I, S. 705-706