Band 1: Was ist Theosophie?
- Theosophische Perspektiven
Karma
Reinkarnation ist die natürliche Methode, durch welche die Seele lernt, und sie schließt folgerichtig die Tatsache mit ein, daß wir die Ergebnisse unserer Handlungen in früheren Leben auf uns nehmen müssen. „Ernten die Menschen Weintrauben von Dornensträuchern oder Feigen von Disteln?“ fragte Jesus in der Bergpredigt, als er das Gesetz von Karma lehrte.
Karma ist essentiell das Gesetz, das Ursache und Wirkung ausgleicht, das die gestörte Harmonie „auch noch nach vielen Tagen“ wiederherstellt. Wir können nicht bestreiten, daß in der materiellen Welt das Gesetz von Ursache und Wirkung herrscht, aber dieses Gesetz erstreckt sich noch weiter auf alle Gebiete der Existenz. Unfehlbar wirkt es sich aus – sei es bei einer liebe- oder mitleidsvollen Tat oder bei einer haßerfüllten oder grausamen Tat, aber auch beim Herunterfallen eines Steines. Es wäre abscheulich, in einer Welt zu leben, in der man nicht darauf vertrauen kann, daß die Natur auf konsequente Weise wirkt.
Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt von Karma ist die Tatsache, daß eine Zeitspanne von anscheinend ‘schlechtem’ Karma – Leiden und Prüfungen – in Wirklichkeit kein Unglück sein muß, sondern eine großartige Gelegenheit für den Menschen darstellt, edle Eigenschaften zu entwickeln. „Gold wird im Feuer geläutert“. ‘Gutes’ Karma ist das, was die Seele für ihre Entwicklung braucht, selbst wenn wir es mitunter als schwer und unangenehm empfinden. Es heißt, daß das innere Selbst manchmal den steinigen Weg wählt, um seinen Fortschritt zu beschleunigen. Selbst die äußere Persönlichkeit handelt so, wenn sie die Notwendigkeit dazu erkennt. Der menschliche Wille kann immer Neues verursachen, was die Auswirkung des Vorausgegangenen wiederum beeinflußt.
Es mag unvermeidbar sein, daß man physisch leiden muß; doch entsprechend der Art, wie das Leiden angenommen wird, ist die Wirkung auf den Charakter gut oder schlecht. Es gibt auch Fälle, in denen sich treue Seelen freiwillig für andere hingeben und wo dieses Handeln unvermeidbar zu äußerem Leiden führt. Doch dieser Schmerz ist nicht durch bösen Vorsatz hervorgerufen, sondern durch das Gegenteil. In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen sagt James A. Long:
Die Leute sprechen manchmal von gutem und schlechtem, von angenehmem und unangenehmem Karma. Für mich gibt es so etwas wie gutes oder schlechtes Karma nicht, denn die Ereignisse, die Auswirkungen unserer Gedanken und Handlungen, sind alle nur Gelegenheiten. Das ist der Schlüssel. Karma als Gelegenheit gibt jedem die gleiche Entwicklungsmöglichkeit. Darin sehe ich keine schwer zu tragende Last. Wir müssen lediglich unsere Reaktionen auf unsere Umstände abstimmen und diesen mit den richtigen Einstellungen begegnen. Wenn wir uns aber unklugerweise gegen die sogenannten unangenehmen Lebensereignisse auflehnen, dann verlängern wir die Wirkungen der falschen Handlungen immer weiter, bis wir schließlich aufwachen und erkennen, daß wir nur gegen uns selbst rebellieren.
Es ist unwichtig, wieviel Leiden wir in diesem Leben auf uns nehmen müssen – unser Karma wird nie schwerer sein, als wir tragen können. Suchet einen Menschen mit schwerer karmischer Bürde, und ihr werdet eine starke Seele finden. Der Mensch, der wirkliche Qualen erleidet, ist eine Seele, die sich kraft der Stärke ihres höhergeistigen Strebens das Recht erwarb, ihr ‘Metall’ durch und durch prüfen zu lassen.
– Seite 28-29
Wir wissen alle, daß sich der Mensch mit Sicherheit einen Knochen brechen wird, wenn er von einer Klippe herunterstürzt, aber nicht geklärt ist, warum einige Menschen ‘wunderbarerweise’ ohne Verletzung davonkommen. Viele von uns kennen solche Vorfälle aus unserem eigenen Umkreis oder aus der nächsten Umgebung. Andererseits haben viele Menschen ‘außerordentliche’ Unfälle erlitten, die sich unter Bedingungen ereigneten, in denen keinerlei Gefahr zu drohen schien.
Die Wissenschaft bejaht die unumstößliche Tatsache, daß physikalische Ursachen entsprechende physikalische Wirkungen hervorbringen; und die alltägliche Beobachtung bestätigt, daß wilder Hafer, in der Jugend gesät, im Alter eine Ernte von Schwierigkeiten hervorbringt – wenn der Sämann lange genug lebt. Aber wenn nicht? Entkommt er dann, ohne bezahlen zu müssen?
Nein, die Natur ist gerecht und sorgt dafür, daß ein Ausgleich in einer anderen Inkarnation stattfindet. Die Ernte wird dort eingefahren, wo die Samen gesät wurden. Dadurch, daß die Lehre von Reinkarnation und Karma im Westen größtenteils verschwunden war, wurde das natürliche intuitive Gefühl dafür, daß das, was der Mensch zeit seines Lebens verursacht hat, eine Auswirkung haben muß, von der Lehre eines ewigen Jenseits des Glücks oder Schmerzes verdrängt. Glücklicherweise haben diese Begriffe mit der Zeit ihre scharfen Grenzen verloren.
Die Vertreter der Theorie vom einmaligen Leben, welche über die offensichtliche Ungerechtigkeit bei der Zuteilung von Möglichkeiten oder Gelegenheiten beim Eintritt in diese Welt nachdachten, brachte dieses Problem zur Verzweiflung. Wir werden nicht nur in eine bestimmte Familie, in eine Nation und Rasse, in eine gute oder schlechte Umgebung, gesund oder krank oder behindert geboren, sondern wir beginnen mit einem eindeutig moralischen und intellektuellen Charakter, der nicht so leicht verändert werden kann, auch nicht mit großer Anstrengung. Einige begünstigte Menschen bekommen jede mögliche Hilfe, um ein edles Leben zu führen; andere werden in Elend und Verbrechen hineingeboren und erhalten nur Fußtritte. Die allgemeine und gänzlich unwissenschaftliche Meinung besagt, das sei alles eine Sache von Zufall oder Glück. Das bedeutet einfach, daß die Lösung des Problems als hoffnungslos aufgegeben wurde. Geht man nur von einem einzigen Leben aus, ist es in der Tat so; das ist schlimm, es ist blasphemisch, denn es würde bedeuten, daß die Welt nicht durch Gesetze geleitet wird, sondern durch ein verrücktes Flickwerk von „Wirkungen“ ohne angemessene Ursachen.
Wie verändert sich das Bild, wenn wir die Lehre von Reinkarnation und Karma kennenlernen, wie wohltätig und geordnet wird das Leben! Bis jetzt haben wir nur die Rückseite des Wandteppichs betrachtet und nichts als ungeordnete Flecken und lose Fadenenden gesehen. Wenn uns klar wird, daß unser Schicksal in unseren eigenen Händen liegt, daß wir nicht nur für die Taten der Vergangenheit bezahlen, sondern daß wir uns unsere eigene Zukunft unter dem unbeirrbaren Gesetz von Karma gestalten, und daß wir uns auf absolute Gerechtigkeit verlassen können – was echtes Mitleid ist –, dann ändert sich unsere gesamte Haltung dem Leben gegenüber. Wir erkennen nicht nur in der physischen Welt Gesetz und Ordnung, sondern ebenso, daß die Natur eine Einheit ist und daß dieselben Prinzipien auf allen Ebenen wirken: mental, physisch und spirituell. Das Gesetz wirkt bei den kleinsten Ereignissen in unserem Leben ebenso zwingend wie beim Fallen eines Steines oder bei der Wirkung von chemischen Substanzen. Wir wiederholen: Das menschliche Leben ist ein Kontinuum, und die Verbindung zwischen den Inkarnationen ist Karma, das Gesetz des Ausgleichs zwischen Aktion und Reaktion. Im Sanskrit bedeutet das Wort ‘Handlung’.
Ein anderer wichtiger Aspekt von Karma und Reinkarnation ist, wie die Frage der Vererbung erklärt wird, wie das Auftauchen großer Genies oder wie sich Entartungen bei gesunder Elternschaft erklären lassen.
In dem Buch Man in Evolution von Dr. G. de Purucker lesen wir auf Seite 227:
‘Es ist die Anziehungskraft, welche die Menschen zusammenbringt. Sobald das Wesen bereit ist, zu reinkarnieren, wird es psychomagnetisch, instinktiv, wenn Sie möchten, zu seiner Familie, zu seinem Mutterleib hingezogen, der mit seinen Schwingungen am besten übereinstimmt. Durch Nachdenken und Reflexion, durch Studium und Untersuchung, soll es Ihnen deutlich werden, daß Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu jener Familie, zu jener Umgebung, hingezogen werden, die Ihnen jene Schwingung anbietet, die der Ihren am meisten entspricht. Ihre Schwingung hat weniger Schwierigkeiten, mit der Familie zu synchronisieren als mit einer anderen. Charaktere verkörpern sich daher in Familien, die mit dem Charakter des reinkarnierenden Egos übereinkommen. Und das ist die wirkliche Ursache für die Übereinstimmung von Charakteren in einer Familie. Es sind nicht die Eltern, die ihrem Kind die kennzeichnenden Eigenschaften geben. Es ist das Kind, das diese Eigenschaften in sich trägt, und das durch die übereinstimmenden Schwingungen zu den Eltern hingezogen wird, die ihm einen Körper geben, der bestens dafür geschaffen ist, den Charakter, den es in potentia schon besitzt, auszudrücken; und auf diese Weise bleibt der allgemeine Charaktertypus der Familie bewahrt, wenn er auch fortlaufenden Veränderungen unterliegt.’
Das Hervorbringen einer bestimmten Persönlichkeit durch Vererbung ist die natürliche Methode, wodurch das wirkliche Selbst das beste mentale und physische Instrument für sein zukünftiges Erdenleben bekommt. Es wird selbstverständlich so lange angezogen, bis die Umstände, worin sein Karma sich auswirken kann, am effektivsten sind; jedoch beherrschen sie nicht notwendigerweise das gesamte Gebiet. Nicht alle Samenkörner, die in einem Leben gesät wurden, können im nächsten Leben geerntet werden; etliche müssen noch so lange warten, bis für sie die rechte Zeit gekommen ist. Die Erblichkeit jedoch, oder was gewöhnlich hierunter verstanden wird, ist nicht das beherrschende Element in unserem Leben, wenn es stimmt, was H. P. Blavatsky sagt:
„Es ist obendrein unbezweifelbar, daß in dem Falle menschlicher Inkarnationen das Gesetz des rassischen oder individuellen Karmas die untergeordneten Triebe der Vererbung, seiner Dienerin, über den Haufen wirft.“
– Die Geheimlehre, Bd. II, S. 1881
Die eigentliche beherrschende Kraft ist der Mensch selbst, der seine Zukunft mit jeder Handlung und mit jedem Gedanken bestimmt. Man sollte Karma nicht als äußeres Schicksal betrachten oder als etwas, das wir gegen unseren Willen hinnehmen müssen. Unser Karma ist das, was wir für uns selbst bereitet haben, was wir selbst in unseren Charakter eingebaut haben.
Auf jeden Fall sollte man Karma weder als Strafe für Sünden noch als Belohnung für Tugenden betrachten, die von einer alles beherrschenden ‘Vorsehung’ zugeteilt werden. Es ist die Konsequenz, die unfehlbar einer Handlung folgt, ‘wie das Rad dem Huf des Zugtieres folgt’ (Dhammapada, Vers 1). Was auch immer ‘Vergebung der Sünden’ bedeuten mag, es besagt nicht, daß die Folgen ausgelöscht werden. In der Geheimlehre sagt H. P. Blavatsky:
‘Denn das einzige Gesetz von Karma – ein ewiges und unveränderliches Gesetz – ist unbedingte Harmonie in der Welt des Stoffes, so wie sie es ist in der Welt des Geistes. Nicht Karma ist es daher, das belohnt oder bestraft, sondern wir belohnen oder bestrafen uns selbst, je nachdem ob wir entweder mit, mittels oder gemäß der Natur wirken, indem wir den Gesetzen, von denen Harmonie abhängt, gehorchen – oder sie brechen.’
– Bd. I, S. 704-7052