Band 1: Was ist Theosophie?
- Theosophische Perspektiven
Theosophie und Mythologie
Es ist für Theosophen wichtig, die Mythologie zu studieren, aber unsere Einstellung dazu unterscheidet sich in gewissen Aspekten von jener der allgemeinen Schulmeinungen. Diese nehmen an, daß die Menschheit – obwohl sie eine Million oder mehr Jahre alt ist – bis vor ein paar tausend Jahren noch gänzlich barbarisch war, und daß selbst bei hohen Zivilisationen keinerlei Urteilsvermögen bestand und die lächerlichsten Geschichten ohne Nachprüfung akzeptiert wurden. Der Glaube an Magie, an die Mythen der Götter und Halbgötter, an Feen und entkörperte Geister jeder Art – das alles wurde, von der Höhe unserer wissenschaftlichen Errungenschaften aus, als seltsame und amüsante ‘Volkskunde’ betrachtet. Geschichten von der Schöpfung des Universums und der Menschen, von der Sintflut, von göttlichen und halbgöttlichen Herrschern und Lehrern, von Goldenen Zeitaltern und ähnlichem, waren natürlich von Dichtern und Träumern erfunden, um die Frage nach der Kindheit der Menschheit zu befriedigen. Jeder vernünftige Grund für die Verehrung von Sonne, Mond oder Sternen muß nur in dem Bemühen gesehen werden, die Fruchtbarkeit zu steigern. Die Götter waren die Personifikationen von Naturerscheinungen wie Blitz, Regen oder Dämmerung; Furcht war die Grundlage der Religion. Stellenweise sind wir im Prinzip anderer Meinung, wenn wir auch zugeben, daß in der Theorie der ‘Volkskunde’ ein kleiner Bruchteil von Wahrheit steckt. Bestimmte Volkserzählungen und Mythen sind reine Phantasie, und das meiste der ‘Magie’ ist Hokuspokus – aber durchaus nicht alles.
Der Mythos war jedoch eine alte Form zu lehren. Durch die Märchen, Parabeln oder Symbole drückte man sehr viel aus – es war eine Form des Lehrens, die leicht behalten werden konnte. Der Mythos von Prometheus, der das Feuer der Götter stahl, um es den Menschen zu bringen, auf daß sie als selbstbewußte Wesen den Pfad geistiger Evolution verfolgen konnten, ist sehr bekannt. Die Erzählung der Bibel, in der Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen, verfolgt den gleichen Zweck. Auch andere Mythen, wie zum Beispiel die von Prajāpati, dem vedischen Gott, und Osiris, der ägyptischen Gottheit, weisen auf die menschliche Entwicklung und die Rückkehr des Menschen ins Universum zu der unendlichen Quelle hin, aus welcher alles hervorkommt.
Durch das Studium der Theosophie können wir einsehen, daß die wichtigsten Kosmogonien, Mythologien, und die halb-historischen Legenden des Altertums das Werk wohl instruierter Lehrer waren, von Eingeweihten, denen es gestattet wurde, bestimmte Wirkungen des Naturgesetzes in allegorischer Form darzubieten. Die vollständige Bedeutung der Allegorien konnte nur denjenigen mitgeteilt werden, die vorbereitet und geeignet waren.
Abgesehen von einer gewissen absichtlichen Verwirrung, die nur erzeugt wurde, um das tiefere Wissen zu verbergen, für das der Profane nicht vorbereitet war, schlichen sich im Verlauf der Jahrhunderte völlig irreführende Entstellungen ein. Es kann nicht verwundern, daß der moderne Gelehrte mit materialistischen oder theologischen Neigungen wenig Sinn für die verborgene Bedeutung der entstellten Überreste der Alten Weisheit hat und auf Seitenpfaden wandert, die ins Leere führen. Selbst die Volkskunde, die Mythologie und die Zeremonien der primitiven Volksstämme, armselige Überreste von höheren Zivilisationen, können ohne den Schlüssel, den die Theosophie gebracht hat, sehr wenig lehren.
Die Legenden über die Schöpfung, über gefallene Engel und über Riesen sind Lichtstrahlen, die von der Weisheits-Religion herrühren. H. P. B. sagt, daß der Mythos oder das Symbol nicht nur einen, sondern sieben Schlüssel besitzt. Indem sie diese gebrauchte, demonstrierte sie in ihren großen Werken, daß die Geschichte von der Evolution des Kosmos, der Welt und des Menschen in undeutlicher Form in den Mythologien, Epen und halb-historischen Legenden der frühen Völker enthalten ist. Die großen Religionen, wie sie sich heute darbieten, beschäftigen sich hauptsächlich mit der Beziehung zwischen ‘Gott’ und dem Menschen, um eine Form der Anbetung und einen Moralkodex aufzustellen; in den Allegorien und historischen Überlieferungen, auf welchen sie jedoch beruhen, sind die wichtigsten Lehren der Theosophie mehr oder weniger deutlich mitgeteilt – Lehren wie die über die Reinkarnation, die ‘Sieben Prinzipien’, die Hierarchien der Götter und anderer Wesen; und auch die über die Evolution der Menschheit durch die Runden und Rassen.
In den Mysterien hinter den exoterischen Religionen wurden die höheren Lehren jenen, die es verdienten, ihrem spirituellen Grad entsprechend gegeben. Die weitverbreiteten Legenden von Menschen, Göttern oder göttlichen Helden wie Buddha, Jesus, Krishna (in vielen Verkörperungen), Osiris-Horus, Herkules, Mithra und vielen anderen, haben eine viel tiefere Bedeutung als es die Erzählungen erkennen lassen, wenn sie auch wahrscheinlich alle auf dem Leben wirklicher Personen beruhen. Von einem anderen Standpunkt aus stellen die Geschichten die Ausbildung, die Prüfungen und schließlich die glorreiche Erleuchtung des erfolgreichen Kandidaten für die Größeren Mysterien dar, soweit das mitgeteilt werden kann, ohne verbotene Dinge zu enthüllen.
In der Theosophischen Literatur, besonders in der Geheimlehre, wird der Thematik der wahren Herkunft der Mythologie viel Aufmerksamkeit gewidmet.