Band 1: Was ist Theosophie?
- Theosophische Perspektiven
Die Theosophische Gesellschaft und ihre Ziele
Im Jahre 1875 wurde die Theosophische Gesellschaft von Helena Petrovna Blavatsky gegründet, einer Russin von hohem gesellschaftlichem Rang. Sie hatte die Aufgabe, die Theosophie an den Westen zurückzugeben und dadurch einen soliden Grundstein für die Bruderschaft der Menschen zu legen. Zu ihrer Zeit befand sich die westliche Zivilisation vor allen Dingen durch den zunehmenden Materialismus in Gefahr, der zum Teil seine Ursache in den gewaltigen Entdeckungen der Wissenschaft fand, die jede geistige Interpretation des Lebens in Mißkredit brachte. Es war ihr Auftrag, diesem durch die Verbreitung der Theosophie entgegenzusteuern. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religion war von Natur aus materialistisch: auf der einen Seite ‘blinde Kraft’, und auf der anderen Seite starrer dogmatischer Formalismus. Kurze Zeit vor der Gründung der Theosophischen Gesellschaft schreibt Lord Lytton (ein englischer Staatsmann und Schriftsteller):
‘Wohin wir unseren Blick auch richten, die Quellen des rein geistigen Lebens scheinen allesamt in vertrockneten und trüben Rinnsalen versiegt zu sein oder nur schwach zu tröpfeln … überall wo die großen Belange der Menschheit auf dem Spiel stehen, wird die Geisteshaltung der Menschheit demgegenüber durch eine verzweifelte Übermüdung oder eine heftige anarchistische Ungeduld gekennzeichnet. Und das ist um so mehr zu bedauern, weil dies von einer kurzsichtigen materialistischen Aktivität begleitet wird. Wir leben in der Tat in einer materialistischen Zeit.’
– Aus: Fortnight Review, 1871
H. P. B. war ihrer Aufgabe im besonderen durch ihre Intelligenz gewachsen, ihren Mut und das alles übertreffende Verlangen, etwas von der schweren Leidenslast der Welt abzuwenden. Sie verfügte über Kräfte, die sie dazu befähigten, den Beweis der theosophischen Lehre zu liefern, daß der Mensch viel größere Kräfte in seinem Inneren besitzt als er vermutet. Nach langem Umherirren auf der ganzen Welt kam sie mit besonderen Mitgliedern einer tibetanischen Loge von Eingeweihten in Berührung, die sie auf das Werk vorbereiteten, das auf sie wartete. Sie wußte sehr wohl, daß sie all das aufgeben mußte, was den meisten Menschen teuer ist, und daß sie mit der bitteren Feindschaft der Mächte von Vorurteil und Reaktion rechnen mußte. Doch sie zögerte nicht. Ungeachtet der Tatsache, daß sie sowohl die gröbsten als auch subtilsten Formen der Verfolgung auf sich nehmen mußte und ständig falsch verstanden und interpretiert wurde, gelang es ihr, die Theosophie weit und breit bekanntzumachen und eine aktive Gesellschaft ernsthafter Schüler und Mitglieder zu gründen. Ihre Lehren haben das Denken dieser Zeit bereits stark beeinflußt, und im Laufe dieses Jahrhunderts haben Wissenschaft, Philosophie und Religion bedeutende Änderungen hinnehmen müssen, die damit in Verbindung stehen.
H. P. B. wies die Behauptung immer zurück, daß sie die theosophischen Lehren erfand. Immer wieder erklärte sie ihren Schülern, daß sie ihren Meistern zu danken habe, den Beschützern des heiligen Wissens. Es war ihre Aufgabe, dieses Wissen in einer Form anzubieten, das für den Westen annehmbar war.
In ihrem Vorwort zur Geheimlehre schreibt sie:
‘Diese Wahrheiten werden in keinem Sinne als eine Offenbarung vorgebracht; noch beansprucht die Verfasserin die Stellung einer Enthüllerin einer jetzt zum erstenmal in der Weltgeschichte veröffentlichten mystischen Lehre. Denn der Inhalt dieses Werkes findet sich in Tausenden von Bänden zerstreut, in den Schriften der großen asiatischen und alten europäischen Religionen, verborgen unter Hieroglyphe und Symbol, und wegen dieser Verhüllung bisher unbeachtet gelassen. Nunmehr wird der Versuch gemacht, die ältesten Lehrsätze zu sammeln und aus ihnen ein harmonisches und unzerstückeltes Ganzes zu machen. Nur insofern ist die Schreiberin besser daran als ihre Vorgänger, daß sie nicht zu persönlichen Spekulationen und Theorien ihre Zuflucht zu nehmen brauchte. Denn dieses Werk ist eine teilweise Darlegung dessen, was ihr selbst von weiter vorgeschrittenen Schülern gelehrt wurde, nur in einigen Einzelheiten ergänzt durch die Ergebnisse eigenen Studiums und Beobachtens . . .
Hingegen ist es vielleicht wünschenswert, unzweideutig festzustellen, daß die in diesen Bänden, wenn auch noch so fragmentarisch und unvollständig enthaltenen Lehren weder der indischen, der zoroastrischen, der chaldäischen oder der ägyptischen Religion, noch dem Buddhismus, Islam, Judentum oder Christentum ausschließlich angehören. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen. Die in ihrem Anbeginn aus ihr entsprungenen verschiedenen religiösen Systeme werden nunmehr in ihr ursprüngliches Element zurückgeleitet, aus dem jedes Mysterium und Dogma entsprossen ist, sich entwickelt hat und ins Sinnliche herabgezogen worden ist.’
– Band I, S. XXIV-XXV
In der Einleitung zu diesem Werk erklärt sie:
‘Dem Publikum im allgemeinen und den Lesern der Geheimlehre möchte ich wiederholen, was ich von jeher betont habe und was ich jetzt in die Worte Montaignes kleide:
„Meine Herren, ich habe hier nur aus gepflückten Blumen einen Strauß gemacht, und nichts eigenes hinzugefügt als den Faden, der sie verbindet.“
– Band I, S. 29 (dtsch. Ausgabe)
Weil ihr Werk hauptsächlich das Ziel verfolgt, der westlichen Zivilisation einen neuen geistigen Impuls zu geben, bekam sie den Auftrag, in Amerika zu beginnen, wohin sie 1873 reiste. Am 17. November 1875 gründete sie in New York die Theosophische Gesellschaft, zusammen mit Colonel H. S. Olcott, W. Q. Judge und anderen. Ihr weiteres Leben widmete sie der Verbreitung der Theosophie durch persönlichen Unterricht, dem Schreiben von Büchern, der Herausgabe von Zeitschriften und der Gründung von Logen in vielen Ländern. Sie starb im Jahr 1891 in London. In den 16 Jahren ihres öffentlichen Wirkens bekam die Gesellschaft viele Mitglieder, wurden nationale und lokale Zentren auf der ganzen Welt gegründet, und eine große Fülle an Literatur wurde herausgegeben. Im Jahr 1888 publizierte sie ihr größtes Werk, Die Geheimlehre, die von gewissen Wissenschaftlern, Philosophen und auch anderen Menschen mit bemerkenswertem Interesse aufgenommen wurde. Dennoch blieb diese Teilnahme auf einen ziemlich kleinen Kreis beschränkt. Das änderte sich maßgeblich, was mit der Prophezeiung H. P. B.s übereinstimmt, daß das 20. Jahrhundert ein tieferes Verständnis für die Lehren der Alten Weisheit mit sich bringen würde.
Eines der bedeutendsten Ziele der Theosophischen Bewegung ist es, einen Kern der universalen Bruderschaft zu bilden, das heißt das Praktizieren eines Prinzips, dessen Wurzeln in der Ordnung der Natur liegen, in der organischen Einheit der menschlichen Rasse, in stofflichem und vor allem geistigen Sinne. Die Menschheit ist in Wirklichkeit eine große Familie, und allein unsere Blindheit verhindert, daß wir diese Tatsache erkennen und dementsprechend handeln. Die Menschheit ist ein organisches Ganzes, die Menschen sind die Zellen, die es ausmachen, und das Unrecht, das dem einzelnen zugefügt wird, schadet dem Ganzen. Diese Erkenntnis im Leben eines jeden Individuums, mit allem, was sie beinhaltet, ist die einzige Basis, worauf eine wirkliche Zivilisation aufgebaut werden kann. Bruderschaft ist eine Tatsache in der Natur und die Natur wird uns schließlich zwingen, dies zu akzeptieren und in Übereinstimmung damit zu handeln.
Alle Menschen, die guten Willens sind, müssen für sich selbst erkennen, daß das fundamentale Gesetz des Universums Liebe und Harmonie ist, und daß jener, der sie verletzt, gegen den Strom schwimmt. Der innere Mensch weiß das und sehnt sich danach, die äußere Persönlichkeit, die wir zu Unrecht für unser wahres Selbst halten, zu erleuchten. Wir können unsere Evolution vorantreiben, indem wir unser Herz öffnen; unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir müssen lernen, bewußt mit der göttlichen Intelligenz im Universum zusammenzuarbeiten.
Eng verbunden mit dem Gedanken der menschlichen Bruderschaft ist der Gedanke der göttlichen Natur des Menschen. Dies ist kein vages oder frommes Gefühl, sondern eine Wahrheit, die in allen Jahrhunderten von den größten Denkern gelehrt wurde – von jenen, die über eine durchdringende Intuition und Wissen verfügen.
Es herrscht jedoch noch die Auffassung, daß der Mensch lediglich ein Tier ist, ausgestattet mit etwas mehr Intelligenz, und daß er nach einem Leben auf der Erde endgültig verschwindet. Wie könnte jemals ein solch erhabenes Ideal der Bruderschaft auf einer solchen Grundlage erbaut worden sein? Ohne Zweifel gibt es viele theoretische Materialisten, die einen unbändigen Drang fühlen, sich für andere aufzuopfern, und ihre edlen Taten sind ein lebender Beweis für den Einfluß des höheren spirituellen Selbstes, so sehr sie dessen Existenz auch leugnen.
Nicht nur überzeugte Materialisten stellen den inneren Gott in Abrede; bestimmte Gruppen westlicher Theologen lehren noch immer, daß der Mensch im wesentlichen verdorben ist; daß er ‘in Sünde geboren ist’, obwohl Jesus sagte: ‘Das Königreich Gottes ist in uns’ (Lukas 17,21) und Paulus die ‘Botschaft der großen Freude’ verkündigte: ‘Wisset ihr nicht, daß ihr der Tempel Gottes seid und daß der Geist Gottes in euch wohnt?’ (I. Kor. 3,16). Wenn der Geist in jedem Menschen wohnt, muß die Bruderschaft, wie sie hier dargelegt wird, eine Tatsache sein, und dann ist die Vorstellung des Sonderseins die ‘große Ketzerei’.
Die innere Gottheit ist nicht etwas, das man ‘verlieren’ kann oder was auf kunstvolle Weise zustande kommen kann. Sie muß verwirklicht, zu einer lebendigen Kraft gemacht werden. ‘Wenn die Lampe gereinigt ist und der Docht gekürzt, kann das Licht durchscheinen.’ Wir müssen das selbst vollbringen.
Das wahre menschliche Ego ist in seinem tiefsten Inneren ein geistiges Wesen, ein göttliches Mysterium, und es liegt in seinem Vermögen, sich selbst zu finden. Diese sehr alte Lehre, die es wert ist, wiederholt zu werden, ist das Fundament, auf dem wir bauen können. Neben dem bedeutendsten Ziel, der Bildung einer aktiven Bruderschaft, strebt die Theosophische Gesellschaft danach, die Kenntnis über die Gesetze zu verbreiten, die dem Universum zugrunde liegen und anzudeuten, daß die essentielle Einheit von allem, was existiert, auf der Grundlage der Natur basiert.
Weiter ermuntert sie zum Studium der alten und modernen Religionen, von Wissenschaft und Philosophie. In der heutigen Zeit hat die vergleichende Religionswissenschaft eine große Bedeutung und die Entwicklungen von Wissenschaft und Philosophie werden von einem viel breiteren Publikum verfolgt, als dies früher der Fall war. Das letzte Ziel betrifft die Untersuchung der Kräfte, die dem Menschen angeboren sind. Man sollte vielleicht meinen, daß in der heutigen Zeit, in der psychische Fähigkeiten, und die Methoden, sie zu erwecken, derartig großen Zuspruch genießen, dieses Ziel beginnt, vollständig zu seinem Recht zu kommen. Das muß aber in Wirklichkeit ein Mißverständnis sein, denn das Ziel ist es nicht, psychische Kräfte zu entwickeln, sondern die zum Wesen des Menschen gehörenden Kräfte zu untersuchen. Über diesen Sachverhalt schreibt Dr. G. de Purucker in seinem Buch Studies in Occult Philosophy, S. 379/380, und wir beschließen hiermit das letzte Kapitel:
‘Psychischen Praktiken und sogenannten Phänomenen nachzujagen und ihnen Energie und Fähigkeiten zu widmen, läuft in Wirklichkeit auf eine beklagenswerte Verschwendung wertvoller Zeit hinaus. Die Konzentration auf diese Dinge kehrt die innere Maschinerie des Bewußtseins sozusagen einfach um und schaltet die psychische Maschine in den Rückwärtsgang, um einen heute leicht verständlichen Ausdruck zu gebrauchen. Man geht eher rückwärts als vorwärts. Diese okkulten Künste sind leicht zu praktizieren, wenn man erst einmal ihre Geheimnisse kennt, und sie sind leicht zu entdecken. Die Ursachen dieser psychischen Phänomene, wie Hellsehen, Gedankenlesen, das fehlbare und oft trügerische Hellhören, sind noch leichter herauszufinden. Es sind psychische Resultate, die jedoch nur zu dem Bewußtsein unserer menschlichen Zwischennatur gehören – und das Schlimmste ist, daß gerade sie die Gemüter der heutigen Menschen zu faszinieren scheinen… Vergleichen wir diese Praktiken mit der schlichten Größe der Lehren der alten Weisen und Seher, der Meister des wahren Okkultismus der alten Zeiten: Mensch, erkenne dich selbst, denn in dir liegen alle Geheimnisse des Universums und des Schicksals. Wir selbst sind das Universum, und sein Schicksal ist das unsrige, so wie unser Schicksal das Seine ist.
Das Selbst, das göttliche, spirituelle Selbst in uns, ist der Weg, dem wir folgen müssen, wenn wir danach streben, zum ‘Herzen’ des Universums zu gelangen. . . Seine Mitmenschen und er sind in der Essenz das gleiche, ja, er und das ganze Universum sind essentiell sogar eins. Das ist Okkultismus. Diese Lehre enthält die Geheimnisse der verborgenen Dinge, die Wissenschaft der Dinge, die geheim sind. Das ist die Bedeutung von Okkultismus.’