Der Wind des Geistes
Vorsätze fassen
Vorsätze sind wertvoll, besonders wegen der Lehre, die wir daraus ziehen können, wenn wir aufrichtig sind. Ein Mensch gibt einen Vorsatz auf, und weil er in seinem Herzen die Wahrheit fühlt, sagt er sich sofort: Wozu ist ein Vorsatz gut? Ein anderer Mensch jedoch, mit etwas mehr Erfahrung, erkennt, daß nur die ständige Erneuerung des Vorsatzes den Menschen bessern wird. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Niemand wird in einem einzigen kosmischen Zyklus zu einem Gott. Aber durch andauernde Willensanstrengung, durch immer erneute Vorsätze, wird der Charakter verändert und Menschlichkeit in Göttlichkeit verwandelt.
Hierin liegt der Wert von Vorsätzen. Richtig, wir sind schwach und halten sie nicht ein; aber wer so argumentiert, besitzt den Verstand eines Kindes, weil es eine kindliche Art der Schlußfolgerung ist. Der Erwachsene mit Erfahrung erkennt, daß er gerade durch die Anwendung der in ihm selbst liegenden Kräfte stark wird. Es liegt etwas Wunderbares in einem Vorsatz, der am Beginn eines Jahres gefaßt wurde, ganz gleich, wie oft man gegen ihn verstößt. Es bleibt die Erinnerung an eine Hoffnung, an eine Hoffnung, die aus einer inneren Intuition stammt: daß man die Fähigkeit großzügigen Denkens hat, daß es der eigene Fehler ist, wenn man dieses Denken nicht in die Tat umsetzt. Dieses Umsetzen wird jedoch mit jeder wiederholten Bestätigung der eigenen Kraft, sein Leben ändern zu können, umso leichter.
Hier liegt der Wert des Vorsatzes: daß schließlich der Charakter durch die Wiederholung des Entschlusses geformt wird. Es ist so einfach. Nach und nach wird der Vorsatz zu einer Geisteshaltung, und eine Geisteshaltung kontrolliert unsere Handlungen, und unsere Handlungen bestimmen unser Schicksal.
Ich glaube, Vorsätze zu fassen ist etwas Großartiges und sehr Schönes, denn es gibt keinen anderen Weg zur Änderung des Charakters. Wenn wir mit uns zufrieden sind, wie wir jetzt sind, sind wir weniger als menschlich, denn es liegt ein unauslöschlicher, unsterblicher Hunger nach Besserem und Größerem im Menschenherzen. Jeder normale Mensch empfindet dies, und der über dem Durchschnitt stehende Mensch läßt sich davon leiten. Wenn wir diese Vorstellung gedanklich erst einmal klar erfaßt haben, werden unsere Vorsätze nicht nur Neujahrsentschlüsse bleiben. Es werden Vorsätze für jeden Monat, ja, für jeden Sonnenaufgang.
Hilfe von den Lehrern
Niemals weisen die Lehrer eine ernsthafte Menschenseele zurück. Sobald ein Hilferuf von jemandem ausgeht, und sei es nur in der Stille des eigenen, persönlichen Kämmerleins, nachts, wenn man im Bett liegt, oder sei es woanders, wo die menschliche Not am größten ist – wenn der Hilferuf von einem aufrichtigen Menschenherzen ausgeht, dann erreicht dieser Ruf sein Ziel entlang der wunderbaren Kraftströme, die wir Ākāśa nennen. Jeder dieser Rufe wird geprüft – jeder. Die Folgen hängen davon ab, ob die Lehrer in dem Menschenherzen auch nur den schwächsten Schimmer des Buddhischen Glanzes sehen: das heißt, ein selbstloses Streben nach größeren Dingen. Aber der Ruf darf nicht nur dem eigenen Selbst dienen: „Ich und meine Frau, mein Sohn Johannes und seine Frau, wir vier und sonst niemand.“ Das ist kein Ruf an das Universum, das ist nur persönlich. Dieser Ruf dringt nicht hinaus, es ist kein Glanz darin. Wenn es aber ein wirklicher Ruf nach Hilfe und Licht ist, dann liegt ein Schimmer des Buddhischen Glanzes darin, ein Schimmer des Lichts, das von den Göttern zu uns kommt. Die Meister beobachten dies, sie fördern diesen Schimmer himmlischen Glanzes, der in jenen Menschenherzen brennt; sie beobachten ihn sorgsam, stärken und unterstützen ihn, so gut sie können. Sie helfen und lenken mit allen geeigneten Mitteln, ohne den Willen oder die Entscheidungsfreiheit des Menschen zu beeinflussen. Sie bieten ihm Möglichkeiten auf seinem Weg, um höher zu steigen. Vielleicht zeigen sie ihm Bücher, die ihm helfen können. Er wird sorgfältig beobachtet, überwacht und unterstützt; und, wenn der Mensch versagt, ist es sein eigener Fehler und nicht der der Lehrer.
Ermutigung auf dem Pfad
Kein menschliches Wesen ist ohne Schwierigkeiten irgendeiner Art. Und wir sollten uns daran erinnern, daß die Sorgen und Unannehmlichkeiten des Lebens unsere wahren Freunde sind – Freunde, weil sie unseren Charakter stärken; sie geben uns Mitgefühl mit jenen, die leiden und in Not sind. Durch Stärkung der moralischen Kraft in uns, befähigen sie uns auch, unsere eigene Last leichteren und freudigeren Herzens zu tragen. Wenn mit der Zeit das Leiden seine wunderbare Arbeit an uns getan hat, erscheint es uns nicht mehr als Leid, sondern wir erkennen darin mit ruhigem und klarem Blick und mit einem fröhlichen Herzen das geheimnisvolle Wirken der Götter.
Durch Leiden und durch das Verlangen nach Licht machen wir Fortschritte. Wenn das Licht erscheint, dann entstehen auch der große Friede und die große Wahrheit, und unsere Herzen sind beruhigt.
Halten Sie sich diese Gedanken vor Augen, wenn Ihre Schwierigkeiten Sie überwältigen. Versuchen Sie, die wunderbare, stille und wohltuende innere Ruhe und Liebe zu Ihren Mitmenschen zu vervollkommnen. Sie werden entdecken, daß dies alles Ihnen in allen wesentlichen Belangen Glück und Erfolg bringt.
Bedenken Sie, daß karmisches Leiden nie ewig dauert und meistens kurz ist, obwohl es uns mitunter lang erscheinen mag. Und wenn sich dieses Karma aufgebraucht und erschöpft hat, dann endet es und läßt einen neuen und besseren Zyklus entstehen.
Ich will versuchen, Ihre Frage bezüglich des Mangels an Zeit, die Ihnen für ein tieferes Studium der theosophischen Lehren fehlt, zu beantworten. Ich kenne Ihre Lage genau, und ich weiß, wie Sie sich danach sehnen, dem Studium der Grundlagen der Theosophie mehr Zeit widmen zu können. Das ist wirklich äußerst wichtig, aber darf ich Sie andererseits darauf hinweisen, daß es größer und edler ist, sein Leben der Sache der Meister zu widmen, als ein Wissen über die technische Theosophie zu haben; und das tun Sie ja. Dieses Handeln veredelt ein Karma mehr als ein Leben, das dem Studium technischer Philosophie gewidmet ist.
Ihre Situation bringt mir die einiger Chelas in Erinnerung, deren Herzen danach verlangten, mehr Zeit mit dem Studium der Weisheit der Götter zu verbringen. Sie sind aber dazu berufen, ihren Wunsch zu opfern und als Sendboten in die Welt zu gehen, um das an andere weiterzugeben, was sie selbst bereits erreicht haben. Verstehen Sie nicht, daß Ihr Problem dem dieser Chelas etwas ähnelt? Indem sie ihren Herzenswunsch nach mehr Licht hingegeben haben, sind sie selbst gewachsen. Sie haben innerlich tatsächlich mehr erreicht, als sie gewinnen würden, wenn sie die von den Lehrern auferlegte Pflicht versäumt hätten.
Darum lassen Sie sich von dieser Vorstellung trösten. Sie machen spirituell und intellektuell Fortschritte. Auch moralisch wachsen Sie, denn Sie führen ein edles Leben im Dienst an unserer heiligen Sache. Sie geben alles, was Ihnen möglich ist, ohne an Belohnung zu denken. Die Meister erwarten nicht einmal von ihren höchsten Schülern mehr.
Seien Sie daher nicht traurig und nicht entmutigt. Sie baten mich um meine ehrliche Meinung und um meinen Rat, den ich Ihnen jetzt gebe: ich wiederhole, daß Sie bei dem, was Sie jetzt tun, spirituell und intellektuell schneller wachsen, als jemand, der allein irgendwo luxuriös und bequem lebt und sein Leben einem Studium ganz für sich allein widmet. Bedenken Sie, daß der Chelapfad mit einem Selbstopfer für die Welt beginnt und ebenso endet – wenn es tatsächlich eine Ende gibt, was nicht der Fall ist. Auf diese Weise entstehen die großen Meister der Weisheit und des Mitleids und des Friedens. Auf diese Weise werden die Buddhas hervorgebracht.
Trotzdem ist das Studium der Grundlagen wichtig. Ich freue mich sehr, daß Sie immer wieder davon sprechen, denn es beweist, daß Sie genau die richtige Einstellung haben. Ich weiß aber auch, daß Sie einen großen Teil des technischen Wissens gerade dadurch gewinnen, daß Sie sich von ganzem Herzen der theosophischen Arbeit widmen. Sie nehmen es dabei auf, vielleicht ohne es zu merken. Sie entnehmen es der theosophischen Atmosphäre; und alles, was ich von Ihnen gelesen habe, zeigt mir, daß Sie ein großes grundlegendes Verständnis erlangen. Es ist eine tatsächliche Wahrheit der weißen Magie, daß ein Mensch durch selbstlosen Dienst an unserer Sache mehr lernt, als wenn er nur an sein eigenes Vorwärtskommen denkt und seine gesamte Zeit nur seiner persönlichen Entwicklung widmet. Letzteres ist genau betrachtet selbstsüchtig. Es verschließt die Tore des Herzens und des Verstandes gegen das spirituelle Licht. Deshalb ist zwar der Wunsch nach persönlichem Fortschritt de facto ein edler, wenn er aber selbstsüchtig verwirklicht wird, verhindert der selbstsüchtige Wunsch sogar das Erreichen des Zieles, nach dem ein solcher Mensch strebt.
Sie haben in dieser Hinsicht nicht viel zu befürchten. Ihr Leben, das Sie so wunderbar dem Dienst an unserer heiligen Sache verschrieben haben, bringt Sie spirituell und intellektuell in eine Lage, in der Sie, wie ich schon gesagt habe, mehr lernen als auf irgendeine andere Weise, vielleicht ohne es jetzt zu erkennen.
– Auszüge aus einem Brief
Die Natur in stillem Gebet
Ist Ihnen je aufgefallen, daß der religiöse Instinkt des Menschen, weil er durch ihn am gesamten Universum Anteil hat, vielleicht der tiefgründigste und zarteste und in gewissem Sinne der höchste Instinkt seines Wesens ist? Daß die Empfindung von Ehrfurcht und Verehrung den Menschen so erheben, weil er durch sie seine unbedeutende Persönlichkeit verliert, und daß die Ehrfurcht und die Verehrung, die in ihm sind, wenn er nur ein wenig erwacht ist, auch in der Natur vorhanden sind? Sind Ihnen die Folgerungen, die Sie daraus ziehen müssen, bewußt? Mir waren diese Gedanken schon seit meiner Kindheit sehr vertraut. Ich ging gewöhnlich nachts hinaus und betrachtete die majestätischen Sterne. Am Tage stieg ich auf die Berge, legte mich auf die grünen Wiesen, um die Wolkenbilder zu beobachten, und überall erkannte ich Verehrung und Ehrfurcht.
Damals erschien es mir – wenn ich die Gedanken meiner Kindheit zum Ausdruck bringe –, als ob sich die ganze Natur in stillem Gebet befände. Ich sah überall Erhabenheit, unaussprechliche Weisheit, weil ich sie in mir fühlte, unentwickelt natürlich, aber der Keim lag in mir, weil ich ein Kind der Götter bin. Die Götter sind in mir, weil sie auch in der Natur sind. Für mich ist die Natur immer – im höchsten Sinne des Wortes – religiös: ihre Ordnung, ihre Erhabenheit, ihr Mitleid lassen ihre unaussprechliche Macht und ihre Weisheit ermessen, die überall und in allem zu erkennen ist. Diese Dinge haben mir immer das Vorhandensein dessen bezeugt, was sich so zart und nur schwach bewußt in mir zu offenbaren begann.
Wie ehrfurchtsvoll sollten wir gerade auch in unserer Einstellung unseren Mitmenschen gegenüber sein, denn wenn wir diese Gedanken hegen, die uns als Menschen eine so große Würde verleihen, dann fühlen wir, daß wir, wenn wir einem Mitmenschen die Hand reichen, wie der Dichter sagt, einen Gott berühren. Darin liegt etwas Großes. Das Bewußtsein des Menschen hat sich dann über das Oberflächliche, Gewöhnliche, Kleine und Niedrige und Unvollkommene erhoben zu den großen fundamentalen Maßstäben des Universums und Lebens.
Bedenken Sie: Die Natur, selbst unser kleines Sonnensystem als eines der unzähligen Wesen im grenzenlosen Raum, ist eine religiöse Wesenheit. Ihr Verhalten zeigt Verehrung und Ehrfurcht und Ordnung. Warum? Wegen der innewohnenden kosmischen Seele, wie Emerson sagt, dem innewohnenden Geist, der aus dem Grenzenlosen stammt. Als Kinder des Raumes, wie Sie und ich, sind wir ebenso auch Kinder des Grenzenlosen.
Zwei Auffassungen von der Realität
Was während des kosmischen Mahā-Pralayas immer noch ist, ist das Wirkliche, die Wirklichkeit, Sat, genauer gesagt, Asat, Tat; und all die manifestierten Universen werden herausgeträumt, wenn Brahma(n)nwährend dieser Zeit in den Schlaf fällt, die wir das Manvantara nennen.
An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß es in diesem Punkt eine Meinungsverschiedenheit gibt, nicht im Wissen, sondern in der Ausdrucksweise, sogar unter den Okkultisten. In alten Zeiten war es allgemein üblich – ich benutze jetzt die Hindu-Bezeichnungen –, vom Erwachen Brahmans zu sprechen, das zu Brahmā und dem gesamten manifestierten Universum mit allem darin Enthaltenen wird. Anders ausgedrückt, Brahman erwacht, wenn das Manvantara beginnt, und fällt in Schlaf, wenn das Pralaya einsetzt. Das ist richtig, wenn man es von diesem Blickwinkel aus betrachten will. Ich möchte hier anfügen, daß diese Idee auch in der Philosophie der Griechen und Römer zu finden ist. Um das zu illustrieren, braucht man nur den Stoiker Cleanthes zu zitieren. Obgleich Grieche, kleidete er den Gedanken in die lateinischen Worte: Quodcumque audiveris, quodcumque videris, est Jupiter, „Was immer Du hörst und siehst, alles ist Jupiter“ – im alten Hindustan war das ein ganz vertrauter Gedankengang. Man sagte dort, Brahmā habe das Universum aus sich selbst hervorgebracht, mit anderen Worten, Brahmā ist das Universum und alles, was es enthält, und bleibt doch transzendent. Man erinnere sich der Worte Krishnas in der Bhagavad-Gītā: „Ich errichte dieses ganze Universum mit einem einzigen Teil von mir, ohne dadurch meine selbständige Existenz aufzugeben.“
Den gesamten Vorgang kann man jedoch auch noch von einem anderen, ebenso richtigen Blickwinkel aus betrachten. Vielleicht ist dieser sogar noch spiritueller und wirklichkeitsnäher als die vorige Betrachtungsweise, wenn ich darüber nachdenke. Aber er ist für uns Menschen schwieriger zu begreifen. Er geht davon aus, daß Brahman erwacht, wenn das Mahā-Pralaya erwacht, denn dann beginnt sozusagen das Wirkliche seine Flut von Lebewesen von neuem auszuströmen. Die phänomenalen Universen haben bis zum Beginn des nächsten Manvantara zu existieren aufgehört und verschwinden wie Blätter im Herbst, wenn der Herbst zu Ende geht, und der Winter beginnt. Von den Winden des Pralaya hierhin und dorthin geweht, hört schließlich alles manifestierte Leben in seiner manifestierten Form auf. Alles, was Wirklichkeit ist, wird nach innen und aufwärts zur ursprünglichen Wirklichkeit eingezogen. Und dann ruht die Göttlichkeit in sich selbst. Das versteht man unter dem Begriff Paranirvāna. Jetzt ist das Göttliche vollständig erwacht. Bis zum Beginn des nächsten Manvantara hat es keine Träume mehr.
Die Befürworter der zuletzt erörterten Betrachtungsweise vertraten im Altertum den Standpunkt, daß das Wirkliche erst dann vollständig erwacht, wenn die manifestierten, phänomenalen Dinge in den Pralayazustand eintreten. Um dies zu illustrieren, bedienten sie sich verschiedener bildlicher Ausdrucksweisen oder Sprachfiguren. Eine besonders bevorzugte war, alle manifestierten Welten könne man so betrachten, als wären sie lediglich Träume von Brahman. Brahman schläft und träumt karmische Träume, Träume, die durch Karma bedingt sind. Diese Träume sind die Welten des Manifestierten und all dessen, was in ihm ist. Wenn der Traum endet und das Universum verschwindet, wenn die Träume enden und die Universen verschwinden, erwacht Brahman. Es tritt wieder in Existenz.
Ich meine, beide Betrachtungsweisen sind richtig. Aber ich habe mich, wie gesagt, oft gefragt, ob nicht die zweite Betrachtungsweise die erhabenere, der unaussprechlichen Wahrheit nähere ist, als die populärere, die einfacher zu verstehen ist. Wir können Analogien dazu in unserem eigenen Leben finden. Wenn wir morgens erwachen, beginnen wir unsere täglichen Pflichten, wir erfüllen sie, und sie sind karmischer Natur. In der Nacht jedoch, wenn wir schlafen, verschwinden die physischen Dinge und die niederen Denkformen aus unserem Bewußtsein. Wir treten mit unserer inneren Göttlichkeit in engere Verbindung. Wir erheben uns, nähern uns dem inneren Gott, dem Abstrakten, und wenden uns vom Konkreten ab.
Ich glaube, diese zweite Betrachtungsweise, obwohl sicher nicht richtiger als die erste, läßt uns etwas besser verstehen, was man unter dem Begriff Mahā-Māyā versteht, unter kosmischer Māyā.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie am Ende des Lebens von Brahmā, wenn selbst die Tage und Nächte Brahmās aufgehört haben zu existieren, weil die letzte Wirklichkeit sie ausgelöscht hat, und Brahmā mit dem Innersten des Herzens des Wirklichen verschmilzt, wenn man begreift, daß also alles ausgelöscht wird, alles verschwindet, alles gleichsam nach innen und aufwärts zurückgezogen wird, dann scheint mir die zweite Feststellung, wie man das Erwachen und das Einschlafen von Brahmā deuten kann, der Wirklichkeit näherzukommen. Am Ende von Brahmās Leben, wenn Brahmā wieder zu Brahman wird, hören nicht allein alle manifestierten Dinge auf zu existieren wie sich auflösender Nebel. Selbst der kosmische Mahat hört mit seiner Tätigkeit auf und verlöscht. Auch Mahā-Buddhi verschwindet, nichts bleibt, nur Brahman. Für eine uns unendlich erscheinende Zeitdauer, für einen Zeitraum von Hunderten von Trillionen Jahren, verbleibt Brahmā in einem Wachzustand, träumt keine Träume von karmischen Universen, sondern – wie wir es auszudrücken gezwungen sind – ist in die Realität gesunken, in die unaussprechlichen Tiefen von Brahmans eigener Essenz. Alles außer Brahman hat aufgehört zu sein. Die Träume sind zu Ende. Erst wenn der neue Lebenszyklus beginnt, wenn sich Brahmā erneut verkörpert, erwacht die Galaxie; Brahman aber beginnt wieder zu träumen, träumt die Welten, träumt die Universen in ihre Existenz, träumt die karmischen Träume des Schicksals. Auf diese Weise wird das Eine zu den Vielen: die Armeen, die Heere, die Vielzahl der Wesenheiten beginnen aus dem Bewußtsein des Unaussprechlichen hervorzuströmen. Wieder einmal wird der abstrakte Raum mit Sonnen, mit Sonnensystemen und mit sich drehenden Welten erfüllt.
Daraus ergibt sich, daß man Brahman und Brahmā, das Kind Brahmans, nicht nur auf eine Planetenkette beziehen kann, sondern ebensogut auf ein Sonnensystem, eine Galaxis, oder auf einen noch größeren Bereich, wie z. B. auf eine Supergalaxis, die viele Galaxien innerhalb des endlosen Raumes umschließt. Anders ausgedrückt, die Begriffe Brahman und dessen Kind Brahmā kann man auf jede, auf alle die verschiedenen Stufen unterschiedlicher Größe anwenden. Brahman träumt karmische Träume, und die Universen treten ins Dasein; sie erscheinen wie Samen des Lebens oder Keime des mütterlichen Raumes; und das nennen wir Manvantara oder Mahā-Manvantara. Wenn umgekehrt die Träume Brahmans zu Ende gehen, hören die Welten auf zu existieren und Brahman beginnt, sein eigentliches Selbst wahrzunehmen.
Abschließend sollten wir uns außerdem vergegenwärtigen, daß wir das grenzenlos Unendliche, das Anfang- und Endlose, das Unbegrenzte, mit dem Sanskritwort Tat bezeichnen. Es bedeutet einfach: „Jenes“. Alle die unzähligen Brahmans, seien sie groß oder klein, sind in ihren unzähligen Mengen alle im grenzenlosen Tat enthalten.
Die Orakel der Alten
Die Orakel beantworteten Fragen niemals direkt mit Ja oder Nein. Sie redeten nur in Sprachbildern. Ihre Ausdrucksweise war immer so, daß sich der Fragesteller vor die Notwendigkeit gestellt sah, seine eigene Entscheidung zu treffen und somit seinen eigenen freien Willen und seine eigene Intelligenz zu benutzen. Würde sich das Orakel anders verhalten – und Sie können die ethische Bedeutung sofort verstehen –, so würde der freie menschliche Wille in Zeiten der Anspannung und Bedrängnis, also gerade dann, wenn ein Mensch ganz besonders eine innere Entscheidung treffen muß, nachhaltig beeinflußt werden. Dadurch, daß man ihm den Weg zu Sicherheit, Frieden und Erfolg zeigen würde, würde man ihm seinen Weg so ebnen, daß sich sein Karma gar nicht richtig auswirken könnte, er wäre moralisch verletzt. Würde ein schlechter Mensch dem Orakel die Frage stellen: „Werde ich Erfolg haben, wenn ich dies und jenes tue?“ und der Gott würde „Ja“ sagen, dann wäre dies genauso, als würde die Gottheit dem Fragesteller den Weg in den Abgrund zeigen.
Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Krösus, der König von Lydien, war zu seiner Zeit ein mächtiger Herrscher. Er war ehrgeizig und glaubte sich von den ihn umgebenden Feinden sehr gehaßt; und es kam die Zeit, als die Perser einige seiner Handlungen mißbilligten. König Krösus war sich nicht sicher, ob er mit den Persern jetzt einen Krieg anfangen sollte oder nicht. Um sich für die Rechtmäßigkeit seines Unternehmens göttliche Autorität zu sichern, schickte er Gesandte nach Delphi und ließ dort den Gott Apollo fragen: „Soll König Krösus mit den Persern einen Krieg beginnen?“ Das Orakel antwortete: „Wenn König Krösus mit den Persern einen Krieg beginnt, wird er ein mächtiges Reich zerstören.“ Krösus dachte in seiner Torheit und Selbstsucht, dies wäre ein göttliches Versprechen für einen Erfolg seiner selbstsüchtigen Pläne Er stürzte sich also in einen Krieg mit Persien – und verlor sein eigenes, mächtiges Reich. Er zerstörte ein Reich, aber es war sein eigenes. Erkennen Sie den ethischen Hintergrund?
Pflicht und moralisches Gleichgewicht
Allein das Wissen um die segensreiche Wirkung von Karma mit seinen unendlich gerechten Maßstäben für Gerechtigkeit bewahrt den Verstand und das Herz der Menschen davor, in tiefste Verzweiflung zu fallen. Nur dieser Schlüssel ist es, der die heutigen Menschen, falls sie ihn zu gebrauchen verstehen, zu höheren Bereichen führt, aufwärts mit einer sich erweiternden Vision, bis wir schließlich die Wirklichkeit sehen, wenigstens so viel davon, wie unser Verstand fassen kann. Schließlich begreifen wir, daß trotz allen Leides, das es in der Welt aufgrund der karmischen Notwendigkeit gibt, grundsätzlich alles wohlgeordnet ist.
Möge jedoch niemand sein Herz verhärten und glauben, er müsse sich nicht anstrengen, anderen zu helfen oder eine helfende Hand auszustrecken oder dem Verdurstenden einen Schluck kühlen Wassers zu reichen. Erinnern Sie sich an das alte Gesetz, das H. P. Blavatsky lehrte: wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Todsünde.
Ich möchte gern wissen, wieviele von uns unsere fundamentale Lehre der Universalen Bruderschaft vergessen. Es sind ganz einfache Worte. Sie scheinen so abgedroschen zu sein und dennoch enthalten sie die Lehre der Götter. Sie umfassen das ganze Gesetz und alle Propheten. Seien Sie sich immer dessen bewußt, daß Wissen nicht nur Macht bringt. Es schließt auch Verantwortung in sich ein. Was noch entschuldbar ist, wenn Sie unwissend sind, wird Ihnen als belastend angerechnet, wenn Sie das Gesetz kennen. Das ist nur einer der Gründe dafür, weshalb die Meister die tieferen Lehren der Theosophie, die okkulten Lehren, so strikt geheimhalten. Viel wird demjenigen verziehen, der nicht weiß. Wenig wird demjenigen verziehen, der weiß und untätig bleibt. Nichts würde demjenigen verziehen, der weiß, der die Macht zu handeln hat, der aber trotzdem nicht tätig wird. Er macht sich eines Verbrechens gegen die Natur schuldig. Das Einzige, worauf wir als Schüler der alten Weisheit achten müssen, ist, niemals eine Handlung zu begehen, durch die ein Bruder gekränkt oder verletzt wird. Es ist dabei völlig gleichgültig, wie berechtigt wir uns dazu fühlen. Genauso bedeutungslos ist es, ob unser Bruder unserer Meinung nach im Unrecht ist. Es ist Ihre und meine Pflicht, allein dem eigenen Dharma zu folgen. Unser eigenes Dharma, unsere eigene Pflicht, zu vernachlässigen, statt dessen sich aber anzumaßen, über einen Bruder zu richten, Maßnahmen gegen ihn einzuleiten, um gegen ihn vorgehen zu können, das birgt eine Menge Gefahren in sich. Dharma oder die Pflicht eines anderen ist für Sie äußerst gefährlich. Verfallen Sie daher niemals der Kritiksucht!
Ach, was sind das alles für einfache Wahrheiten. Wie logisch und wie klar sind sie und wie sehr mahnen sie uns! Unsere Erde wäre ein Himmel, wenn wir Menschen ihnen nur folgen würden! Aber die Menschen machen sich heutzutage selbst etwas vor, sogar die Vertreter hoher öffentlicher Ämter. Unglücklicherweise glauben sie, Auseinandersetzungen, Bestrafung und Haßtiraden wären eine moralische Pflicht. Zeigen Sie mir eine einzige Redewendung von einem der Heilande der Welt, die dieses Verhalten rechtfertigen würde, nur eine einzige Passage. Sie werden keine finden. Das Geheimnis liegt vielmehr darin, daß man seine eigene Pflicht erfüllen muß, ganz gleich, wo man sich befindet und zwar immer. Sie haben eine Pflicht sich selbst gegenüber, Ihrer Seele gegenüber. Es ist die vordringlichste Pflicht eines Menschen, aufrichtig zu denken, lautere Gedanken zu pflegen, ein makelloses Leben zu führen und niemals einen Bruder zu verletzen. Die nächsten Pflichten sind dann jene, die man seiner Familie und seinem Land gegenüber zu erfüllen hat; und einige wenige haben die Pflicht gegenüber den Göttern oder Halbgöttern. Das alles ist jedoch in der einen Feststellung über die universale Pflicht eines Menschen der Menschheit gegenüber enthalten, die alle anderen in sich einschließt.
Bilden Sie sich keinen Augenblick ein, ich hätte Widersprüchliches geäußert, daß es nämlich einen Konflikt geben könnte zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden gegenüber der Person Y oder dem Gerechtigkeitsempfinden gegenüber der Person X. Einen solchen Unterschied kann es niemals geben. Unmöglich. Sollte es in Ihrem Denken je solch einen Konflikt geben, dann zeigt das nur, daß Ihr Verstand noch nicht klar genug ist, und daß Sie sich noch an etwas klammern. Wenn Ihr Verstand klar genug ist, um die spirituelle Inspiration in sich zu fühlen, werden Sie keine Zweifel haben. Was Ihre Pflicht ist, wird Ihnen klar vor Augen liegen, denn richtige Pflichterfüllung macht es niemals erforderlich, einem anderen Menschen zu schaden. Die Schwierigkeit ist es manchmal, in Zeiten der Verzweiflung, wenn wir uns sehr bemühen herauszufinden, was das Richtige ist, zu wissen, was das Richtige ist. Der Grund dafür liegt in unserem noch sehr unvollkommenen spirituellen und intellektuellen Wachstum. Alles, was wir in einer solchen Situation tun können, ist einfach unser Bestes zu geben, das Prinzip der Regel einzuhalten, nie einen anderen Menschen zu verletzen, loyal zu unserem Wort zu stehen und an unserem Gelübde festzuhalten. Seien Sie aufrichtig und in allen Belangen in Ihrer Gesinnung sauber. Seien Sie anständig und ohne Arg. Seien Sie weise wie Schlangen, das heißt, weise wie Adepten, und unschuldig und arglos wie Tauben. Die Taube war in alten Zeiten das Symbol für einen Chela.
Ein großer Europäer wurde einmal gefragt, was er in einer Pflichtenkollision als die vorrangigste Pflicht betrachte. Seine Antwort war: erfülle die Pflicht, die dir als erste vor die Füße kommt. Alle anderen Pflichten werden dann ihren angemessenen Platz erhalten. Ein Mensch, der so handelt, wird, weil er sich selbst getreu ist, auch seiner Familie gegenüber getreu sein. Natürlich wird er auch seinem Vaterland gegenüber ergeben sein und sich mit der Ausweitung der Vision, die die Befolgung dieser Regel mit sich bringt, schließlich auch der gesamten Menschheit gegenüber richtig verhalten.
Ein Leben – ein Gesetz
Wie großartig bringt die uralte, göttliche Weisheit der Menschheit alle Erscheinungen der Natur auf einen einzigen majestätischen Nenner, so daß alle Dinge in den Bereich eines einzigen, für uns Menschen verständlichen Gesetzes fallen: die göttliche Weisheit zeigt uns, daß so, wie wir geboren werden, wie wir unsere kleine Lebenssphäre mit Leben erfüllen und sterben, dies auch die Welten tun und die Sonnen in diesen Welten und die Planeten und die verschiedenen Naturreiche der verschiedenen Sonnen und die Atome, die alle Dinge bilden, und die Elektronen in den Atomen. Alle sind periodischer Natur; nicht nur in dem Sinne, daß sie sich zyklisch verhalten, sondern weil sie Perioden haben: Anfänge, Höhepunkte, Endphasen und nach der Vollendung des Zyklus in den unsichtbaren Welten erfolgt ein neuer Anfang, ein zweiter Höhepunkt und dann ein Verschwinden, ein erneutes Eintauchen in die unsichtbaren Welten, um dort neue und unendlich größere Abenteuer zu erleben, als unser kleineres Sonnensystem sie bieten kann.
Alle Dinge funktionieren ähnlich, weil die Natur nur ein Grundgesetz hat, das seinem Ursprung nach – ein göttlicher Ursprung – nur Energie ist. Gewohnheiten, Abläufe, Naturgeschehnisse werden alle von den gleichen kosmischen Kräften und Intelligenzen regiert, was einfach heißt, daß alle Dinge diesen gleichen fundamentalen Gesetzen in ähnlicher Weise gehorchen, daß alle unter der Herrschaft des kosmischen Lebens stehen und all die möglichen Variationen durchlaufen, die die Natur zu unserer Bewunderung und höchsten Verehrung so verschwenderisch bereithält. Wenn auch alle Dinge, alle Wesen, den gleichen fundamentalen Gesetzen und Bahnen folgen, so hat doch jede Einheit, gerade weil sie eine Einheit und ein Individuum ist, ihr eigenes Mindestmaß an Willen – nennen Sie es freien Willen, wenn Sie wollen –, wodurch sie mehr oder weniger ihre eigenen Bahnen verändern, modifizieren kann, doch stets innerhalb der umfassenden Energie des Universums.
Das bedeutet: Wenn auch alle Wesen diesen allgemeinen Regeln und analogen Verfahrensregeln folgen – Analogie ist der Hauptschlüssel des Lebens –, modifizieren sie doch, eben weil sie Wesen sind, kraft ihrer eigenen innewohnenden Energie, die aus der kosmischen Quelle entnommen wird, mehr oder weniger die Einzelheiten der Verfahren und Bewegungen. So wird auch die Sonne wie ein Kind geboren, aber die Einzelheiten sind verschieden. Die Details sind nicht so wichtig wie der Hauptfaktor: die Geburt, das Wachstum, der Tod, die unsichtbaren Welten, die neuen Abenteuer, das Wiedererlangen einer neuen Verkörperung, ein neuer Höhepunkt auf einer etwas höheren Ebene, ein neuer Tod, dem wieder die gleiche Umdrehung des Lebensrades folgt – aber immer fortschreitend, immer wachsend, immer größer werdend. Schritt für Schritt entwickeln sich alle Dinge weiter.
Daher ist es wirklich so, wie der Okkultismus, die göttliche Weisheit, zeigt, daß man, wenn man das Schicksal, die Geburt, den Ursprung und das zeitweilige Ende einer Sonne kennenlernen will, einen Menschen von der Geburt an bis zum Tode studieren muß. Und wenn Sie es können, dann studieren Sie seine Abenteuer nach dem Tod, und Sie werden wissen, was die solare Gottheit, aber natürlich auf größeren und höheren Ebenen, in den unsichtbaren Welten erlebt. Unsere sichtbare Welt ist nur eine Schale, ist nur der Körper, der äußere Panzer, die Haut der Dinge. Das Leben, die Individualität, die Kraft, der Wille, das Denken, die wirkliche Wesenheit, sind nicht diese äußere Schale. Ob ein Mensch, eine Sonne, ein Sonnensystem, eine Milchstraße oder ein ganzes Universum – die Wirklichkeit liegt im Innern. Und der Körper bringt mehr oder weniger zum Ausdruck, wenn auch nur schwach, was die inneren Kräfte auf dieser äußeren Ebene hervorbringen.
Wer von Ihnen die wissenschaftlichen Experimente verfolgt hat, wird das noch besser verstehen als jene, die sie nicht studiert haben. Aber wenn Sie etwas darüber nachdenken, dann werden Sie alle wissen, daß Sie Ihre Kraft, Ihre physische und geistige Kraft, Stunde um Stunde verströmen. Der Mensch, der eine große Idee hervorbringt, erschüttert die Fundamente der Zivilisation. Der Mensch, der ein majestätisches kosmisches Philosophiesystem schafft und die Menschheit mit Bestimmtheit führt – ist es nicht seine Vitalität, die die Menschen bewegt? Das sind Tatsachen. Der einzige Unterschied zwischen einer Sonne und einem Menschen liegt in den Einzelheiten, von denen einige majestätisch, wirklich majestätisch sind; die Abläufe unterscheiden sich aber tatsächlich nur in den Details. Das Grundprinzip des fundamentalen Gesetzes ist für alle gleich. Jeder Mensch ist tatsächlich nur eine embryonale Sonne, eine Sonne, die in der entfernten Zukunft entstehen wird – nicht sein Körper, denn dieser ist nicht der Mensch. Sein Körper ist nur seine Haut, seine Bekleidung aus Fellen, von der in der Genesis des Alten Testaments gesprochen wird. Ein Mensch ist die innere Kraft, der Geist oder die Monade. Diese Energie oder Kraft ist es, die verursacht, daß der Mensch von der Geburt bis zum Tod der gleiche ist, die verursacht, daß die Sonne ihre Form bewahrt und von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod ihre Funktion beibehält. Ein Atom, eine Blume, ein Baum oder ein Tier – alle unterliegen dem gleichen kosmischen Gesetz der Ähnlichkeiten, wenn nicht positiver Gleichheiten. Lediglich das Detail variiert.
Die weisesten und größten Männer des Altertums wiesen darauf hin, daß unser Vater Sonne in der Tat Vater Sonne war, doch ebenso unser älterer Bruder; unser Vater und doch unser Bruder. Das Tier und die Pflanzen sind gewissermaßen unsere Kinder, denn sie blicken zu uns auf, so wie wir zu den Göttern. Sie sind in gewissem Sinne unsere Kinder, und sie folgen unseren Spuren zur Menschheit hin, zum Status und zur Entwicklungsstufe der Menschheit. Die Tiere folgen uns langsam nach, so wie wir zu den Göttern aufblicken, unseren Eltern und Großeltern. Und wenn wir unsere Seelen mit ihrer Lebenskraft und einem Funken ihrer leuchtenden Intelligenz erfüllt und inspiriert finden, dann werden wir auf dieser Erde zu Gottmenschen, weil unsere Gedanken und unsere Gefühle gottgleich sind und unsere Handlungen, die unseren Gedanken und Gefühlen folgen, ebenfalls gottgleich werden.
Daher sind die Atome des Körpers und die Moleküle und Protonen und Elektronen, die die physische Substanz des Körpers aufbauen, in gewissem Sinne seine Kinder, und sie empfinden den Eindruck unserer Gedanken und Gefühle. Entsprechend leiden sie durch unsere Sünden und werden durch unsere Tugenden erhoben; so eng sind alle Dinge verknüpft, ein Lebensgewebe, von dem jeder Strang ein Produkt spiritueller Magie ist.
Ich sage Ihnen, daß wir selbst für die Atome, die unseren Körper aufbauen, Verantwortung tragen, ob wir ihr Wesen beschmutzen oder reinigen. Wenn wir das Wesen der Atome beschmutzen, die uns bilden, werden sie eines Tages zu uns zurückkehren und gesäubert werden wollen, reingewaschen von den Sünden, die wir ihnen aufluden. Und das gilt für alle inneren Bereiche der menschlichen Konstitution, für die Vehikel seines Geistes, seiner Gefühle und seiner Gedanken.
Geburt und Tod: Was sind diese Veränderungen? Eine Geburt im Körper ist für die Seele ein Tod, denn sie verläßt ihre eigenen inneren Sphären, ihre eigenen inneren Ordnungen ihres dortigen Lebens und steigt oder fällt sozusagen wie ein Stern zur Erde und wird im hilflosen Körper eines menschlichen Babys geboren und muß dann in dieser Zeit die karmische Rückzahlung für ihre ganze Vergangenheit erfahren. Und wenn wir sterben, ja, wenn wir sterben, dann sind wir befreit, dann schwingen wir uns vorwärts und aufwärts und weiter auf den Flügeln unserer Seele; diese starken Schwingen tragen uns durch all die planetarischen Wohnungen bis zum Thron von Vater Sonne. Es ist die Wiedergeburt für die Seele, so wie die Wiedergeburt auf dieser Erde für die Seele Tod bedeutet. So ist es bei der Sonne, so ist es mit den Welten, die geboren werden und sterben. Die Sonne verliert viel von ihrer Herrlichkeit, wenn sie sich auf dieser Erde verkörpert. Wenn die Stunde für die Sonne geschlagen haben wird und sie von dieser Ebene scheidet, eilt sie wie ein göttlicher Gedanke direkt in die unsichtbaren Reiche und fliegt in Herrlichkeiten, die wir uns nur schwach vorstellen können. Die Blume, die ihre Seele durch Duft und Schönheit zum Ausdruck bringt, wiederholt bei ihrer Geburt aus dem Samen lediglich das gleiche kosmische Gesetz. Die Blumen sind junge Brüder des Menschen. Einige sind für uns giftig. Irgendwie haben wir sie in der Vergangenheit vergiftet. Jetzt vergiften sie in karmischer Rückzahlung uns.
Die Geburt eines Menschen von gewöhnlicher Menschlichkeit zur Mahatmaschaft ist eine innere Geburt. Das Wachstum eines Mahatmas zur Buddhaschaft oder Bodhisattvaschaft, oder wie die Vedantisten sagen, das Einswerden mit Ātman: die Entwicklung dieses Wachstums liegt in Ihrer Hand, und bei niemandem sonst. Es steht in Ihrer Macht, auf dieser Erde zu Gottmenschen zu werden; andererseits hat jeder von uns auch die Möglichkeit, sein Leben so zu ruinieren und zu schädigen, daß er dem furiengejagten Opfer gleicht, das in der griechischen Sage beschrieben wird, getrieben von unsagbaren Gewissensbissen und gejagt von dem Gefühl: Ich habe mein Spiel gespielt, und ich habe verloren. Zu spät, es ist zu spät! Die Theosophie sagt jedoch: Es ist nie zu spät! Wenn Sie Ihr Spiel schlecht gespielt haben, ordnen Sie Ihre Karten neu und spielen Sie wie ein Mann, spielen Sie mit dem Teufel um die Rettung Ihrer eigenen Seele, mit dem Teufel Ihres eigenen niederen Selbst und gewinnen Sie! Wenn Sie gewinnen, liegt die Göttlichkeit vor Ihnen. Über den Gipfeln des mystischen Ostens, des Ostens im Herzen jedes Menschen, geht die Sonne der Wahrheit auf, die die Heilung im Herzen trägt. Die Wahrheit wird Sie frei machen!
Die Theosophie Chinas
Sie haben heute von einem Menschen, der die Weisen Chinas liebt, etwas über die Theosophie jenes alten Landes gehört. Sie haben dabei tatsächlich auch ein wenig von der archaischen Weisheit des alten Atlantis vernommen, das China geerbt und aufbewahrt hat. Die heutigen Chinesen sind die bedeutendsten und ursprünglichsten Abkömmlinge des alten Atlantis, obwohl sie natürlich mit anderen Blutströmen der menschlichen Rasse vermischt wurden. Die chinesische Psychologie zeigt in ihrem Svabhāva, in ihrem Charakter, einen typisch atlantischen Esoterizismus. Das kann man besonders gut in den Lehren von Konfuzius und Lao-tse studieren. Ersterer stellte die Ausübung der Tugend, die Unterordnung unter das Gesetz und die überlieferte Ordnung in den Mittelpunkt seiner Lehren. Darin spiegelt sich eine Gedankenwelt, die besonders am Höhepunkt der atlantischen Kultur gepflegt wurde. Lao-tse lehrte über die Seele des Menschen eine Mystik, die sehr schwer zu durchschauen ist, sich jedoch sehr verführerisch darbietet. Sie fasziniert besonders unsere menschliche Natur und ermutigt diese, über sich hinauszuwachsen. Beide Denksysteme sind die Lehren von Weisen. Zu diesen gänzlich entgegengesetzten Denkansätzen des alten China gesellte sich nun die Spiritualität unserer eigenen fünften Wurzelrasse, wie sie in den Lehren des Gautama Buddha gefunden werden kann. Die Essenz seiner Lehre war universale Liebe und universales Mitleid ohne Unterschied und ohne Einschränkung, gepaart mit einem dem Spirituellen ergebenen Intellekt, also Eigenschaften, die das Beste in uns aktivieren. Tatsächlich sind die Lehren von Jesus, den man den Christus nannte, und die Lehren von Gautama, dem Buddha, den man als den Erwachten bezeichnete, wenn man sie richtig analysiert, im Kern ein und dieselbe Lehre, obwohl jede in ein unterschiedliches Gewand gekleidet und verschiedenartig ausgeschmückt dargeboten wurde. Sie repräsentieren beide die gleiche fundamentale Lehre, die zum Wohle der fünften Wurzelrasse verkündet wurde – Theosophie ist in beiden.
Ich bin jetzt sehr kühn, hoffentlich nicht zu kühn und riskiere den Versuch, die Bedeutung des Titels des einzigen schriftlichen Werkes Lao-tses, das uns überliefert wurde, zu interpretieren. Sein Titel lautet: Tao Teh Ching. King oder Ching bedeutet „Buch“, „Werk“, „Schatz“. Im alten China war Gelehrsamkeit so hoch geachtet, daß sogar ein Manuskript oder ein gedrucktes Buch, weil in ihm Gedanken ihren Niederschlag gefunden hatten, aus dieser Tatsache verehrt wurde. Kein echter Chinese, sei er Kuli, Mandarin oder Kaiser, hätte im alten China je eine gedruckte Seite zu einem schmutzigen obszönen oder gemeinen Zweck benutzt. Ein auf dem Boden liegendes Buch oder ein beschriebenes Blatt Papier, das ein Windstoß herabgefegt hatte, hätte er sorgfältig in Sicherheit gebracht. Gelehrsamkeit wurde im alten China als so bedeutend und für die Verstandesschulung als so wichtig erachtet, daß man sich für die Vorbereitung und das Training auf ein hohes Staatsamt nur sie allein als Kriterium vorstellen konnte. Wie sollte auch ein ungebildeter Mensch, ein untrainierter Verstand, einer, der nicht einmal seine Mitmenschen kennt, nichts über Geschichte, nichts über das Wesen und die Wirkungen von Gedanken weiß, fähig sein, ein Volk zu regieren? Wie könnte so jemand, so argumentierte man, ungebildet und innerlich unerweckt, sich selbst beherrschen? Wie seine Mitmenschen lenken und leiten? Das kann man nur, das wußten sie, wenn man seinen angeborenen, inneren Genius benutzt. Bei uns, so sagten sie, wo der Abkömmling des Himmels herrscht, sollte jedermann diesen angeborenen Genius in der richtigen Art und Weise gebrauchen. Er diene ausschließlich dazu, sein Wissen zu erweitern und dann mit diesem Wissen dem Staate zu dienen. King oder Ching bedeutet, wie gesagt, „Buch“, und weil ein solches das Ergebnis von weisen Gedanken ist, kann man den Begriff auch mit der Wortbedeutung „Schatz“ übertragen. Das Wort läßt sich daher nicht einfach übersetzen. Es kann nur umschrieben werden.
Tao-Teh läßt sich ebenfalls nicht wortwörtlich übersetzen. Es gibt über vierzig Wörter für Tao und genauso viele für Teh. Die grundsätzliche Bedeutung, soviel ich weiß, ist etwa: das Buch oder der Schatz hinsichtlich des Pfades, wie man mit dem wahren Wesen des Alls auf mächtige und wundervolle Art und Weise verschmelzen kann, wobei Tao alles Gesetz, alle Ordnung, alle Liebe und Weisheit sowie alle Intelligenz und Energie umfaßt, die im All enthalten sind. Tao ist sowohl der Pfad als auch der Pilger, der diesen Pfad beschreitet, und ebenso ist es das Ziel von allem. Es beschreibt genau das gleiche wie die Redewendung, die im Neuen Testament dem Avatāra Jesus in den Mund gelegt wurde, nicht dem Menschen Jesus, sondern dem Christus, dem Christus-Geist, dem Avatāra, der in jedem von uns ebenfalls vorhanden ist: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich gehe den Weg, ich verhelfe der Wahrheit zum Durchbruch, und ich lebe, um zu wirken. Ich bin der Sitz des Lebens, und dieses Leben ist das Ziel. Genau das, wie ich es sehe, ist die Essenz der Bedeutung von Tao. Jenes erwähnte Ziel ist nicht etwas, das sich außerhalb befindet. Es ist innen und außen, es ist überall. Jeder Mensch ist ein solcher Pilger, jeder Mensch ist in seinem Inneren dieser Weg. Der Weg und das Ziel sind eins. Das versteht man unter Tao.
Die Verantwortung der Wissenschaftler
Die ganze Menschheit durchläuft zur Zeit eine ihrer dunklen Geschichtsperioden. Die verständigsten Menschen sind verwirrt und verunsichert. Sie halten danach Ausschau, wo sie Hilfe finden können. Was ist da wohl nötiger als die Überzeugung, daß es echte geistige und sittliche Werte gibt, die nicht nur unter den Menschen, sondern überall in der Natur, von der die Menschen ja nur ein untergeordneter Teil sind, Gültigkeit haben? Der Mensch sollte die spirituelle Intuition und die Einsicht wiedererlangen, daß die Natur im Ganzen wie auch in ihren Teilen, von den geistigen bis zu den physischen Bereichen, aus verschiedenen Abstufungen von Bewußtsein besteht. Das würde den tragischen Verlust an Verantwortungsgefühl wettmachen, für den der Materialismus, das tote, seelenlose und mechanistische Denken einer verflossenen Wissenschafts-Ära verantwortlich gemacht werden muß, ganz abgesehen davon natürlich auch der Materialismus und Dogmatismus der offiziellen kirchlichen Organisationen.
Das sind für die Theosophen Gründe genug, die Verlautbarungen prominenter Wissenschaftler zu schätzen, durch welche denjenigen unter uns, die an eine Leitfunktion der Vertreter der Wissenschaft glauben, ein Weg zu einer geistigen und intellektuellen Verjüngung der menschlichen Rasse gewiesen wird. Auf den Schultern der Wissenschaftler ruht eine schwere Verantwortung, denn vor allem die Wissenschaftler werden von der Öffentlichkeit als richtungsweisend betrachtet. Meiner Meinung nach werden die zukünftigen Wissenschaftler, wenn sie ihrem edlen Werk treu und aufrichtig ergeben bleiben, die neuen Hohepriester der Natur werden. Ihr Tempel wird das Universum, ihr Altar der Altar der Wahrheit sein, und in ihrem Amt werden sie der Menschheit sowohl spirituelle und intellektuelle als auch physische Hilfe leisten.
Engel und Dämon
Es wurde die Frage gestellt, was meiner Ansicht nach der Engel in uns, was der menschliche Teil in uns, was der sogenannte Dämon in uns ist. Wir Theosophen verwenden die Ausdrücke Engel und Dämon nicht in ihrer alten christlichen Bedeutung, die tatsächlich davon ausgeht, daß sich ein Engel vom Himmel in der menschlichen Konstitution niedergelassen hat, oder daß ein Dämon von außerhalb der Natur in uns seinen Wohnsitz nimmt. Der höchste Teil des Menschen ist ein spirituelles Wesen, das von Göttlichkeit überschattet ist; und von diesem sprechen wir manchmal als von einem „Engel“, weil dieser Begriff der christlichen Vorstellungsweise im Westen gut bekannt ist. Wenn wir von dem inneren Dämon sprechen, möchte ich ihn als den tierischen Teil in uns bezeichnen, eine sehr reale Wesenheit, der von dem menschlichen Teil in uns, dem zentralen Teil unserer Konstitution, im allgemeinen in einen Dämon verwandelt wird.
Die Tiere haben ihren Platz im Universum. Ihr Leben ist in vieler Hinsicht bemerkenswert und äußerst interessant. Sie besitzen ein bestimmtes Maß, eine gewisse Entwicklung von Individualität. Niemand wird behaupten, daß ein Hund eine Katze, oder eine Katze ein Elefant, oder ein Schwein ein Pferd sei. Es sind verschiedene Tierarten, jede mit ihrer eigenen Individualität; und jede Art hat ihre eigenen Tugenden – und im normalen Ablauf der Natur sind es diese Tugenden der Tiere, die vorherrschen und uns Menschen interessieren. Erst wenn der Mensch die unglücklichen Tiere stört, sieht man, daß sie vom unschuldigen und natürlichen Leben abweichen, mit dem die Natur sie begabt hat. Die meisten Tiere haben instinktive, edle Eigenschaften, bis der Mensch ihr unbewußtes Vertrauen zu ihm bricht und ihre Instinkte entstellt. Man beobachte die Treue des Hundes, des Pferdes und selbst der Hauskatze! Wir sind es, die sie dazu bringen, ein entstelltes Leben zu führen, ein Leben, das sie von ihrem natürlichen Entwicklungsstrom wegreißt; und genau dies macht auch der menschliche Teil in uns mit dem tierischen Teil in uns.
Ich möchte meine Ansicht noch deutlicher ausdrücken. Ich glaube nicht, daß es gut ist, das natürliche, unschuldige Tier im Menschen zu unterdrücken, es muß vielmehr beaufsichtigt werden. Warum? Der Mensch ist nur zum Teil menschlich, er ist nur zum Teil Mensch. Was wir unter einem Menschen verstehen, besteht zuerst aus einem inneren Gott – man kann ihn einen inneren Buddha, einen inneren Christus nennen –, dem Ursprung seines ganzen Wesens. Diesem Teil der menschlichen Natur gaben die Griechen den Namen Nous, der noetische Teil, die Wurzel unseres Höchsten, das Zentrum des Bewußtseins und des Gewissens, das Zentrum der Unterscheidung, des Mitleids, des Mitgefühls, der Weisheit, des Verstehens der anderen Dinge im Universum, der Intuition, der Sympathie, der Sympathie für die Seelen der Menschen und aller Dinge. Es ist der höchste Teil in uns, unser spiritueller Teil.
Der speziell menschliche Teil in uns ist das, was wir die höhere Psuche, die Psyche nennen; und was wir als das Tier bezeichnen, kann man andererseits auch den natürlichen Teil des Menschen nennen, und dieser ist nicht sein Körper. Es ist ein törichter Irrtum von Leuten, die dieses Problem nicht geprüft und studiert haben. Sie machen den Körper für die menschlichen Fehler und Sünden verantwortlich. Erkennen Sie denn nicht, daß es Anzeichen dafür geben müßte, wenn er es wäre, der sündigt? Sie wissen ganz genau, wenn Sie sich prüfen, daß der Körper nur sündigt, weil er durch Gefühle und niedere Gedanken dazu gezwungen oder gedrängt wird, als Instrument zur Ausführung bestimmter Dinge zu dienen.
Ich denke, es ist völlig falsch, zu lehren – das Tier auszurotten. Im Gegenteil, wir wollen das Tier veredeln, erheben und erhöhen; mit anderen Worten, es mit unserer Menschlichkeit beseelen, anstatt ihm zu erlauben, unser menschliches Wesen zu beherrschen – und das genau tun so viele Männer und Frauen. Sie erlauben dem Tier in sich, sie zu beherrschen. Doch, was wäre der Mensch ohne seine tierische Natur? Er wäre nur zum Teil Mensch. Glauben Sie, daß ich, G. de P., ein Menschenwesen, je wünschen könnte, meinen tierischen Teil fallenzulassen? Auf keinen Fall! Er gibt mir eine Gelegenheit, mich auf dieser Ebene zu manifestieren. Es ist meine Pflicht, meine Aufgabe, dieses Tier zu einem anständigen Tier zu machen, zu einem menschlichen Tier, es so zu vermenschlichen, daß ich, das Ego, durch es arbeiten kann.
In Wirklichkeit wohnt bei uns Menschen die Sünde weder im Körper, noch in unserem tierischen Teil. Sie wohnt in unserem menschlichen Teil, in unseren Gefühlen, in unseren willentlichen, selbstsüchtigen Gedanken, die das Tier in uns erregen und die falsche Seite zur Tätigkeit anregen und es zwingen, Dinge zu tun, die den Körper mitreißen. Nein, ich möchte ein ganzer Mensch sein, ein vollständiger Mensch: Geist, Seele, beherrschtes und veredeltes Tier und menschlicher Körper. Wenn ich dann einen Teil meines Wesens mißbrauche, wird Gesundheit zu Krankheit, Anstand zu Unanständigkeit, vom Menschen werde ich zum Tier.
Jene Menschen, die davon reden, das Verlangen und das Tierische müsse abgetötet werden, sind für mich ganz einfach dumm. Es fehlt ihnen das psychologische Verständnis. Ein Mensch muß zur Ausübung seiner Arbeit in dieser unserer Welt ein vollständiges siebenfältiges Wesen sein. Wenn er ein Gott sein möchte, stirbt er, und für die betreffende Zeit ist er ein Gott oder ein Halbgott. Solange er sich jedoch auf der Erde befindet, ist es seine Pflicht, ein ganzer, vollständiger Mensch zu sein und wie ein Mensch zu handeln, nicht wie ein entarteter Mensch, der von seinem tierischen Teil beherrscht wird. Das Tier soll vielmehr als ein Vehikel zur Arbeit und Manifestation benützt werden, in dem die edelsten Eigenschaften des menschlichen Tieres hervorgebracht werden: die Ergebenheit, wie sie der Hund zeigt, die Zuneigung, wie sie das Pferd hat; den tierischen Instinkt der Erinnerung, wie er beim Elefanten zu finden ist. Sie alle sollen dazu verwendet werden, menschlich zu handeln. Auf diese Weise soll ein Mensch leben und schließlich sterben.
Für dieses Tier trägt er die Verantwortung, es ist ein Teil seiner Konstitution, der in unbestimmten zukünftigen Zeitaltern selbst ein menschliches Wesen sein wird. Geradeso wie unser heutiger spiritueller Teil – der Christus in uns, der Buddha in uns – früher, in vergangenen Zeitaltern ein Mensch war, jetzt aber durch Evolution, das heißt durch inneres Wachstum Bodhisattva-gleich, Christus-gleich geworden ist, genauso wie in uns Menschen heute der zentrale Teil unserer Konstitution danach strebt oder danach streben sollte, sich zu einem Bodhisattva-gleichen Teil, dem Christus-gleichen Teil von uns zu erheben.
Glauben Sie, ein Mensch wäre so liebenswert, so zugänglich, der nur zum Teil menschlich wäre? Ich meine, wenn er nur einen Teil seiner jetzigen Konstitution hätte? In unserem gegenseitigen menschlichen Verstehen verbirgt sich ein in mancher Hinsicht eigenartiges und schönes Paradoxon; es sind nicht die kalten hervorragend schönen, kristallklaren Tugenden, die wir am meisten aneinander lieben, sondern jene Dinge, die wir gemeinsam empfinden, das allgemein Menschliche in uns. Denken Sie darüber nach. Das soll nicht heißen, die schönen, heiligen, leuchtenden, reinen, kristallklaren Tugenden seien nicht unser höchster Teil. Sie sind es. Sie sind unser Ideal und unser Leitstern. Wir entwickeln uns ihnen entgegen, und der größte Mensch ist genau der, der sie am höchsten entwickelt hat. Wenn diese Eigenschaften aber kein Instrument haben, durch das sie wirken können – ein empfängliches, verständnisvolles menschliches Bewußtsein, durch das sie sich ausdrücken können und das seinerseits den tierischen Teil von uns leiten und inspirieren kann, damit wir auf der ganzen Linie voll menschlich werden können –, dann haben wir einen Menschen vor uns, der zwar äußerlich vollständig ist, der aber aufgrund eines Minderwertigkeitskomplexes, wie man heute sagt, wegläuft und sich selbst von der Welt absondert, weil er ihr nicht entgegentreten will.
Die theosophische Auffassung vom idealen Menschen ist nicht der abgemagerte, blasse Asket, der seine Pflicht gegenüber der Menschheit und der Welt aufgibt, nur um seine eigene mittlere Konstitution zu kultivieren. Unser Ideal ist der ganze Mensch, der vollständige Mensch, ein Mensch wie Buddha, ein Mensch wie Christus, ein Mensch wie die Meister, ein Mensch, der im menschlichen Tier lebt, es aber leitet und beherrscht und aus ihm ein feines Instrument für sich macht, es in Harmonie und Schönheit umwandelt. Er muß ein vollständiger siebenfältiger Mensch sein, wie es der normale Mensch ist; aber jedes der Prinzipien muß aktiv sein und alle müssen in edler Harmonie für das allgemeine Gute wirken. Das ist unser Ideal.
Was nützt die Geißelung, das Auspeitschen des Körpers, die Kasteiung des Fleisches, Aushungerung, oder Mißbrauch der Gesundheit? All diese Dinge bedeuten Schwäche, schwaches Verständnis und mangelhafte Schulung und eine ganz falsche Psychologie. Wenn Sie vor sich selbst Angst haben, dann deshalb, weil Ihr menschlicher Teil in einem entsprechend Zustand ist: schwach, wankelmütig, ungeschult, unzuverlässig, ein unvollkommenes Instrument für das Licht von oben.
Wir halten auch das Leben eines solchen Menschen nicht für ideal, der zur Erlangung innerer, individueller Erlösung Nirvana über die Hintertreppe erreichen möchte, oder der sich das Recht verweigert, seine menschliche Pflicht in der Welt auszuführen, indem er sich kasteit und den Körper geißelt und ihn manchmal tötet aufgrund der völlig irrigen Vorstellung, das Unrecht, das Böse und die Sünde entstünden im Körper selbst. Der Körper ist nur das vergängliche Instrument des Gemüts. Es ist das Gemüt, in dem das Unrecht geboren wird, in bösen Gedanken. Es ist nach meinem Dafürhalten schlimm, die Gabe zu mißbrauchen, die die Natur uns allen gegeben hat, das Geschenk eines gesunden Körpers, und diesen mit aller Gewalt zu ruinieren, ihn für die Pflichten unbrauchbar zu machen, für die die Natur ihn vorgesehen hat. Christus tat dies nicht. Buddha tat dies nicht. Die Meister tun dies nicht. Es sind nur die selbstsüchtigen Asketen, die sogenannten Yogis, Fakire, die mit ihren Tugenden vor der Welt paradieren, oder bestenfalls den Hatha-Yoga-Weg beschreiten, damit sie vor den weltlichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten Ruhe haben. Das ist nicht der Weg der Meister.
Denken Sie aber keinen Augenblick lang, daß ich Animalismus predige. Wenn Sie das annehmen, haben Sie meine Gedanken nicht im mindesten erfaßt. Meine Ansicht ist dem genau entgegengesetzt. Der wahre Mensch ist nie animalisch. Er ist essentiell menschlich, zart, mitfühlend, mitleidsvoll, intelligent, selbstaufopfernd, voller Sympathie, verständnisvoll gegenüber anderen; und weil er selbst einen niederen Teil hat, seinen tierischen Teil, hat er Sympathie und Mitleid und Verständnis und Nachsicht für die Fehler anderer. Wir sollten jedoch immer nach oben sehen, himmelwärts; denn wenn wir unsere Augen nach unten gerichtet halten, erdwärts, dann geht das Menschliche im Animalischen verloren – und wir alle kennen die Entartungserscheinungen, die sich daraus ergeben!
Die Alten Griechen, überhaupt alle alten Völker, verstanden die psychologische Komposition des menschlichen Wesens sehr genau – die moderne Psychologie ist gerade dabei, sie wieder neu zu entdecken. Diese Kenntnis der menschlichen Konstitution und Natur ist so alt wie die denkende Menschheit. An oberster Stelle in der Reihenfolge steht das Göttliche oder das Geistige im Menschen, der Ursprung des Höchsten, die Quelle, aus der all seine übrigen Teile auch kommen; sein Bewußtsein strömt herab wie ein Strom von dem inneren Gott, durchströmt jeden Teil und bringt Herrlichkeit, Erleuchtung und Licht, bis er den niedersten Teil erreicht und sein Gehirn berührt wird. Dies ist der Nous, der noetische Teil. Dann kommt der rein menschliche Teil, das Vehikel für das Vorhergehende, die höhere Psuche, dann das Psychische, der Sitz unserer Emotionen und gewöhnlichen Gedanken, Sie und ich als normale Menschenwesen. Dann folgt der tierische Teil in uns, mit dem wir bestimmte Lebensfunktionen ausüben, die in der Tat sehr notwendig sind, und der uns auch hilft, uns gegenseitig, soweit wie möglich zu verstehen; ohne ihn könnten wir uns auf dieser Erdebene gar nicht manifestieren. Dann kommt der arme, unglückliche Körper. Der Körper ist lediglich ein Werkzeug, ein Instrument, das unseren Gefühlen und Gedanken gehorcht. Hier liegt das Problem, in unseren Gefühlen und Gedanken, nicht in dem unglücklichen Körper. Die Sünde wird im Gemüt geboren, im Denken, im Gefühl. Wenn wir eine Sünde ausradieren wollen, müssen wir uns auf unser Selbst besinnen, den menschlichen Teil.
Das Wichtigste, Freunde, ist: lassen Sie den Engel, unseren höheren Teil, dominieren und nicht unterlegen sein. Lassen Sie das Tier sein, was es ist, lassen Sie es unschuldig instinktiv sein, aber immer unter Kontrolle. Lassen Sie es rein sein. Lassen Sie einfach den Strom von oben, vom Menschen, wie heilenden Tau in die tierische Seele oder in das tierische Gemüt einfließen und es erleuchten und leiten, anstatt es zu entstellen, wie es heute so oft geschieht. Dann hat man einen feinen Menschen, einen Gentleman im alten Sinne des Wortes und einen Menschen, der instinktiv das Rechte liebt, der selbstaufopfernd und entschlossen ist, diesem Gesetz zu folgen, koste es ihn, was es wolle. Das ist der Gentleman; und weil das unser menschliches Wesen ist, ist es schön, wenn der Geist in uns, das spirituelle Licht, unseren menschlichen Teil erfüllt und die Strahlung nach unten zu dem Tier weitergibt. Dann hat man einen Menschen, der in seinem höheren Teil ein Held ist, in seinem menschlichen Teil ein wahrer Führer, ein echtes Vorbild für die Menschen, ein hervorragender Lehrer, der in seinem menschlichen Teil sympathisch, treu, liebend und wahr ist; und der Körper wird all diese wunderbaren Dinge zum Ausdruck bringen.