Der Wind des Geistes
Verhaltensregeln
Um den Großen gleich zu werden, muß man beginnen, ihnen gleich zu werden. So einfach ist das. Möchten Sie gern ein paar Regeln haben? Ich werde sie Ihnen geben. Aber sobald der Verstand über Regeln nachdenkt, stellt er Fragen und Bedingungen und macht Einwände. Trotzdem, hier sind sie. Verhalten Sie sich im täglichen Leben so, daß Sie am Abend beim Zubettgehen die Ereignisse des soeben zu Ende gegangenen Tages betrachten und sich dabei sagen: Das habe ich richtig gemacht, das hätte ich besser machen können, und das habe ich gar nicht gut gemacht? Und nehmen Sie sich Ihre Erkenntnisse so zu Herzen, daß Sie, wenn der nächste Tag anbricht, an dem Sie vielleicht den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind, am Ende dieses zweiten Tages beim Zubettgehen mehr in Frieden mit sich selbst sind?
Sagen Sie immer die Wahrheit, außer wenn die Mitteilung der Wahrheit anderen Schaden oder Leid bringen würde. In diesem Falle seien Sie mitleidsvoll und leiden Sie stillschweigend. Besteht, wenn Sie Ihre Wünsche erfüllen wollen – das heißt, wenn Sie etwas erlangen, bekommen oder anschaffen wollen – die Gefahr, daß Sie es nur auf Kosten anderer, durch deren Schmerz oder deren Verlust erreichen können? Oder können Sie das Gewünschte nur durch Falschheit erlangen, durch Betrug, was man auch als falsches Spiel bezeichnet? Sind Sie stark genug, diesem Schritt nach unten zu widerstehen? Es kann der erste Schritt in den Abgrund sein. Erkennen Sie, wenn Sie den ersten Schritt abwärts gemacht haben, daß nach dem nächsten Schritt der Versuch folgen wird, die Tat schamvoll zu verschweigen und zu verhüllen? Man wird dadurch nicht nur zum Betrüger, sondern auch zum Heuchler. Der dritte Schritt fällt leicht, denn wenn Entdeckung droht, versucht man die Spuren zu verwischen, indem man an die Nachsicht, an die Vergebung und an das Mitleid der anderen appelliert und vorgibt, man hätte für diesen und jenen so gehandelt, weil das Herz weh tut, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Drei Schritte: Und haben Sie bemerkt, daß jeder Schritt eine Entstellung Ihres Charakters bedeutet, eine Mißgestaltung Ihrer Seele und der natürlichen menschlichen Impulse Ihres Herzens, daß Sie dadurch Ihrem Charakter ein unauslöschliches Zeichen eingeprägt haben, das vielleicht für Äonen vorhanden bleiben wird? Wieviel besser und einfacher ist es, nach Möglichkeit zu vermeiden, die Füße durch falsche Handlungen zu beschmutzen. Oder, wenn man dabei ertappt wird, daß man sich losreißen und um jeden Preis mit den Göttern verbinden will.
Ich könnte noch viel mehr Regeln geben. Diese Regeln sind das Einfachste in der Welt. Sie sind so wunderbar okkult, so einfach und klar, daß die Menschen die meiste Zeit nicht an ihre Wirksamkeit glauben; dennoch sind es die Regeln, die von den größten Weisen und Sehern der Welt aufgestellt worden sind: Leben Sie aufrichtig, sprechen Sie die Wahrheit, lassen Sie Ihr Leben rein und sauber sein, so daß Sie jedem Menschen ohne Scham ins Gesicht sehen können. Tun Sie anderen – ich will es in der anderen Form sagen –, fügen Sie niemandem etwas zu, was Sie selbst nicht von anderen erleiden wollen. Auf diese Weise entstehen im Laufe der Zeit die Buddhas, die heiligsten Menschen auf Erden.
Gesunder Menschenverstand zu Hause
Ich bin fest davon überzeugt, daß die sogenannten geistigen Probleme der Jugend heute nicht größer sind, als sie es jemals waren – kein bißchen größer. Sie sind auch keinesfalls anders oder verwirrender, weder für die Kinder noch für die Eltern. Der menschliche Charakter ändert sich nicht über Nacht. Der Weltkrieg, von dem man annimmt, daß er alle früheren sittlichen Grundsätze zerstört hat, erwies sich in dieser Hinsicht wie ein Dammbruch. Die Fluten fegten gewisse Hemmungen und Zurückhaltung hinweg, die zweifellos gut waren, und wir haben es noch nicht verstanden, andere Schutzmauern um unsere Familien und um unsere Jugend zu errichten. Aber unsere jungen Leute sind nicht besser und nicht schlechter als wir es waren. Sie müssen sich mit den gleichen fundamentalen Problemen des menschlichen Charakters auseinandersetzen, wie wir. Während ich dies schreibe, fühle ich mich eigentlich wie ein alt gewordener Junge. Ich glaube, daß Kinder ältere Menschen sind, die noch nicht erwachsen sind, Erwachsene, die noch nicht reif sind, und daß Erwachsene immer noch Knaben und Mädchen sind.
Ich glaube, die Eltern stellen in spiritueller Hinsicht für die Jugend eines ihrer größten Probleme dar. Ich sage damit nichts gegen die Eltern, denn sie waren selbst auch einmal jung und hatten selbst Eltern. Die heutige Jugend wird aufwachsen, ihrerseits zu Eltern werden und ebenfalls entsprechend untauglich und leider auch genauso unzulänglich sein! Wenn spirituelle Probleme die Jugend zu irgendeiner Zeit beeinträchtigen, dann ist das größtenteils der Fehler der Eltern. Ich will erklären, warum ich so denke. Die Eltern machen nicht etwas falsch, weil sie zu wenig Liebe haben. Sie begehen bei der Behandlung junger Menschen den Fehler, ihren gesunden Menschenverstand zu wenig sprechen zu lassen – einfach den gesunden Menschenverstand.
Wenn Sie bei einem anderen Menschen einen Fehler korrigieren wollen, dann können Sie das nicht dadurch tun, daß Sie ihm etwas vorpredigen und Regeln aufstellen. Die Chancen, daß er sofort widerspricht, stehen neun zu eins. Aber durch Ihr Vorbild können Sie Ihre Worte für den Verstand dieses Menschens wertvoll machen, und er wird beginnen, Sie zu bewundern und zu respektieren, weil Sie das, worüber Sie gesprochen haben, beispielhaft vorleben.
Nichts fesselt den Verstand der heranwachsenden Jugend so nachhaltig, wie ein treffendes und bemerkenswertes Vorbild, das man tagtäglich vor Augen hat. Es ersetzt jahrelanges Reden und Predigen, jahrelanges Lesen von Büchern, die man den jungen Menschen so lange unter die Nase gehalten hat, bis sie diese Bücher schließlich hassen. Wenn ein junger Mensch zu Hause beobachtet, was alles um ihn herum vorgeht, schnippische Redensarten von einem zum anderen, die kleinen selbstsüchtigen Handlungsweisen, die Lieblosigkeiten, die der Vater gegen die Mutter begeht oder umgekehrt, die kleinlichen Streitigkeiten, die kurz angebundene, gereizte Sprechweise, oder überhaupt mißmutiges Schweigen, dafür aber die Demonstration offensichtlich selbstsüchtiger Gewohnheiten, wie der Griff nach dem bequemsten Stuhl, der besseren Beleuchtung, der größeren Essensportion oder Unhöflichkeit im Umgang mit anderen – wenn ein Kind solche Dinge sieht, merkt es sie sich. Das sind die Dinge, die das Kind verletzen. Die Älteren von Ihnen brauchen sich nur in ihre Kindheit zurückzuversetzen und darüber nachzudenken, ob sie an ihren eigenen Eltern nicht Dinge beobachtet haben, die sie verletzten und ihnen wie teuflische Machenschaften erschienen; und sie fragten sich… Und doch dürften Ihre Eltern halbe Heilige gewesen sein – ich möchte damit nicht behaupten, daß Eltern schlecht sind. Keinesfalls. Aber den Eltern mangelt es an gesundem Menschenverstand. Sie fragen sich, warum ihre Kinder manchmal falsche Wege gehen. Dabei spreche ich hier von normalen Kindern. Bei einem Kind mit angeborenen Verhaltensstörungen muß man natürlich eine Spezialbehandlung anwenden.
Sie haben kein Recht auf Kinder, wenn Sie nicht in Ihrem Herzen ehrlich fühlen, daß Sie sie anständig erziehen können. Es ist ungeheuer wichtig, daß Sie von Ihrem Kind geliebt und respektiert werden. Aber nicht wegen der Geschenke, die Sie ihm gegeben haben. Allzuoft sind sie nur Bestechungen, um es vom Schreien und Lärmmachen abzuhalten. Es sollte Ihnen Liebe und Respekt für das entgegenbringen, was Sie sind.
Meiner Meinung nach, die Klügere als ich korrigieren mögen, besteht die beste Art, die meisten der sogenannten Probleme, denen sich Kinder gegenübersehen, zu lösen darin, daß wir ihnen tagtäglich Beispiele unablässiger Höflichkeit zu Hause geben. Nur das eine: unablässige Güte und Höflichkeit. Was bringt das mit sich? Es bringt als erstes Selbstkontrolle mit sich; danach Güte, das heißt Rücksichtnahme auf andere. Dies ist eine wunderbare Übung, die ein Kind versteht, bewundert und gerne sieht. Das senkt sich in den Verstand und in das Herz des Kindes. So etwas kann das Kind nicht vergessen. Wenn es in einer Familie erzogen wird, wo Nachlässigkeit und Trägheit herrschen, wo es zu Hause zwar nichts Böses, aber kleine Selbstsüchteleien gibt, die mit gelegentlichen emotionalen Ausbrüchen irgendeiner Art verbunden sind, dann wird es seinerseits, weil es stark zur Nachahmung neigt, ebenfalls nachlässig, emotional instabil, ohne Ehrgeiz, sich selbst zu verbessern, schwerfällig von Begriff und unhöflich anderen gegenüber, weil es zu bequem ist, höflich zu sein. Es ist ihm gleichgültig. In einem Heim, in dem Höflichkeit regiert, ist jeder glücklich. Das Kind erinnert sich an die Dinge, die es wahrnimmt. Es lernt daraus, denn das Beispiel ist es, das sich dem Verstand einprägt. Es wird in der Gedankenwelt des Kindes eine Gewohnheit, das Kind beginnt, darauf stolz zu sein, daß es sich anderen gegenüber höflich verhält.
Der eigentliche Ausgangspunkt des anscheinend so schwierigen Problems ist folgender: wir älteren Menschen versuchen der Jugend Dinge zu predigen, die allein dem Gehirnverstand entspringen. Wir geben ihnen Vorschriften, dieses und jenes müsse befolgt werden, und zu gleicher Zeit sehen die Kinder, daß sich ihre Eltern selbst nicht daran halten. Wie sollte jemand etwas respektieren, was ihm die ganze Zeit über gepredigt wird, wenn er bemerkt, daß die anderen den Vorschriften nicht folgen oder sie nicht praktizieren? Es ist zum Beispiel gewiß eine wunderbare Idee, wenn Eltern den Wunsch haben, ihre Kinder sollten schöne Bücher studieren, die edle Gedanken bewirken. Sie betrachten dies zweifellos als eine Trainingsmethode, wenn dem Denken des Kindes Schönheit geboten wird. Aber meine Meinung ist folgende: wenn ich Kinder hätte und sie zum Beispiel dazu bringen würde, die Bhagavad-Gītā zu lesen, oder irgendein anderes Buch, den ganzen Tag lang; oder wenn ich ihnen immer, wenn sie etwas lesen möchten, die Bhagavad-Gītā geben würde, noch bevor sie fünfzehn Jahre alt sind, dann würden sie dieses Buch hassen, ich weiß es, wie nichts sonst auf der Welt. Sie müßten erst achtzig Jahre alt werden, um die wundervolle Schönheit von Büchern dieser Art erkennen zu können. Das Kind bemerkt schnell, daß Vater und Mutter nicht ihre ganze Zeit damit verbringen, wenn sie zu Hause ein wenig Muße haben, in der Bhagavad-Gītā zu lesen. Sie bemerken vielmehr, daß diese in ihren Mußestunden andere Bücher lesen, weniger anspruchsvolle. Dies ist ein Beispiel. Sie können nicht erwarten, daß Ihr Kind etwas tut, was Sie selbst nicht tun. Sie als Eltern müssen das Vorbild abgeben. Selbstverständlich ist es richtig, vom Elternhaus Bücher fernzuhalten, die offensichtlich schlecht sind und einen unzüchtigen, obszönen oder pornographischen Inhalt haben. Es ist für Erwachsene wie für Kinder sicherlich falsch, Filme anzusehen, in denen die gleichen gemeinen Dinge oder Verhaltensregeln oder Beispiele gezeigt werden. Aber ich spreche hier weder von Dingen, die alle mißbilligen, noch möchte ich wirklich gute und erhebende Filme herabwürdigen.
Das Gemütsleben der Kinder ist für Suggestion und Vorbild außergewöhnlich empfänglich. Belehrung ist ausgezeichnet, aber sie kommt erst, nachdem das Kind die Frage: Warum? gestellt hat. Dann ist die Zeit gekommen, zu belehren und zu erklären. Ein Kind vergißt niemals ein Vorbild. Kinder sind alte Seelen in unfertigen Körpern, Seelen, die zu uns aus der Vergangenheit, aus verflossenen Zeitaltern und aus vielen früheren Leben gekommen sind. Sie besitzen einen wundervollen Instinkt, an Ihnen Dinge wahrzunehmen, die sie ebenfalls in ihr Denken und in ihr Wachstum einbauen. Sie denken wirklich nach; und im allgemeinen können sie die Dinge auch intuitiv erfassen.
Ihre Kinder zu bestechen, ist eine der größten Torheiten, die Eltern begehen können, und mit ihnen so zu reden oder umzugehen, als wären sie keine vernunftbegabte Wesen. Ich glaube, das ist völlig falsch. Ich weiß dies, weil ich selbst erlebt habe, wie Kinder in ihren Herzen Handlungen ihrer Eltern verachteten, weil diese Fügsamkeit, Zustimmung oder ein süßes Lächeln von ihnen erhalten wollten. Um welche Art von Liebe handelt es sich hier, die ein Kind seinen Eltern entgegenbringt, wenn es dafür bezahlt oder bestochen wurde? Man braucht nichts Derartiges. Das Wesensmerkmal der Jugend ist eigentlich das eines Heldenverehrers, sie liebt das Ideal, das Schöne, das sie als etwas Starkes und Großes berührt. Ich glaube, die Jugend liebt diese Dinge mehr als wir gelehrten, älteren Menschen, die diese Aufgeschlossenheit verloren haben.
Die Hälfte aller Furcht in der Welt hat ihren Ursprung im Familienleben. Die Seele des Kindes erfährt durch irgendwelche gräßliche Umstände oder Dinge eine psychische Schädigung, die es verletzt und erschreckt. Und das Gemüt wird durch die Angst verkrüppelt, verletzt und geschädigt. Es ist – ich möchte der Jugend gegenüber nicht unhöflich sein – exakt das gleiche Prinzip, mit dem man einen Hund oder ein Pferd abrichtet. Sie können einen Hund oder ein Pferd durch Mißhandlung zu einem bösartigen Tier machen. Aber wenn Sie einen Hund wie ein menschliches Wesen behandeln, zu ihm gütig, freundlich und behutsam sind, wird er anderen wie auch Ihnen gegenüber sanftmütig sein. Er wird dann wirklich bis zu einem gewissen Maße vermenschlicht. Im Prinzip unterscheiden wir uns vom Tier nur dadurch, daß wir viel weiter entwickelt sind.
Machen Sie Ihr Heim zu Zentren der Güte und Höflichkeit – die Eltern untereinander. Das ist die Hauptsache. Ich meine damit nicht nur die Manieren. Die sind nur ein Teil davon. Ich meine den wirklich instinktiven Wunsch, gütig und höflich zueinander zu sein. Machen Sie diesen Wunsch in Ihnen so stark, daß er zur Tat wird. Die Kinder fühlen, sehen und kopieren das; sie lernen bei ihrem eigenen Versuch, daß es dazu der Selbstkontrolle bedarf, und daß es notwendig ist, wenn man sich anderen gegenüber höflich verhalten möchte, das „Ich“ zu vergessen. Diese Disziplin lehrt Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung, Selbstachtung. Wenn Kinder entdecken, daß sie durch ein solches Verhalten die Achtung anderer gewinnen, tritt instinktiv Selbstachtung hinzu. Sie fangen an zu sehen und zu fühlen, daß andere dieselben Empfindungen haben wie sie und ebenfalls Güte und Höflichkeit bewundern und achten. Und dann wächst in dem jungen Menschen das Gefühl für Kameradschaft und Brüderlichkeit.
Die alte Idee, daß ein Kind seine Eltern ehren und ihnen gehorchen sollte, ist ein wunderbares Ideal. Es ist heute für das menschliche Verhalten genauso gültig wie in der Vergangenheit. Aber die Grundlage für die elterliche Würde und Stellung sollte in der instinktiven Achtung liegen, die im Gemüt der Kinder und Jugendlichen für ihre Eltern wurzelt, weil sie sehen, wie die Eltern selbst die Ehrerbietung ehren, die Achtung achten und die Verehrung verehren.
Eine ausgeglichene und visionäre Haltung
Die Welt befindet sich wahrlich in einem traurigen und unruhigen Zustand. Dennoch halte ich es für unklug und für geistig und psychologisch schädlich, diese Tatsache zu betonen, weil nichts dadurch verbessert wird. Es schmälert vielmehr den Mut, das Leben zu meistern und es auf edlere und höhere Weise weiterzuführen. Sehen Sie das Schöne in und hinter den Dingen, sehen Sie das Schöne in Ihren Mitmenschen. Sehen Sie auch das Schädliche und Häßliche im Leben, aber lassen Sie sich davon nicht niederdrücken oder entmutigen. Es besteht kein Grund, die Ruhe, den inneren Frieden aufzugeben und sich wie ein Massenmensch von Leidenschaften treiben und von Vorurteilen beherrschen zu lassen. Eine solche Haltung würde weder uns noch den Leidenden helfen. Wir können jedoch ermutigende und hoffnungsfrohe Gedanken in die Welt hinaussenden und einen optimistischen Ausblick in die Zukunft vermitteln, da unabhängig davon, was durch die Torheit oder Niedertracht oder Treulosigkeit des Menschen seinem spirituellen inneren Gott oder der geistigen Essenz gegenüber auch geschehen mag, dennoch letzten Endes Recht und Gerechtigkeit stets über alles siegen werden. Wichtig ist nur, daß wir sicher sind, daß wir auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit stehen – dabei können wir nicht immer nach dem äußeren Anschein urteilen.
Ein englischer Dichter, ich glaube es war Robert Browning, brachte diesen Gedanken, wenngleich in der theologischen Sprache seiner Zeit, mit den Worten zum Ausdruck: „Gott ist in seinem Himmel, alles ist mit der Welt in Ordnung.“ Wer diese optimistische Ansicht und Überzeugung nicht mag und sich der Hysterie und Entmutigung hingeben will, mag darüber spotten. Jeder vernünftige Mensch mit klarem Kopf und selbständigem Denken wird aber sehr wohl erkennen, daß das kosmische Recht und die kosmische Gerechtigkeit die mächtigsten Kräfte in dieser Welt sind und daß sie letztlich immer siegen werden. Es ist nicht notwendig, entmutigt zu sein. Vermeiden Sie Hysterie und vermeiden Sie auch, gleichzeitig zwei Herren zu dienen, was wir alle mehr oder weniger tun. Haben Sie Ihre eigenen Überzeugungen und bewahren Sie sie manchmal für sich allein, wenn es nicht weise erscheint, darüber mit jedem zu sprechen. Bleiben Sie aber in Ihrem Herzen rechtschaffen, voller Liebe, verabscheuen Sie Haß und treten Sie jederzeit für Gerechtigkeit und angeborenes Recht ein. Überzeugen Sie sich aber, wenn Sie dafür eintreten, daß Sie keinen äußeren Propagandaeinflüssen erliegen, sondern treten Sie nur für das ein, was Sie im eigenen Herzen als richtig und wahr erkennen.
Es wäre wirklich traurig, wenn unsere Welt nur aus dem bestünde, was wir heute um uns herum beobachten oder in bestimmten Zeitabschnitten in der Vergangenheit erlebt haben. Doch zu allen Zeiten haben das Gewissen und der Gerechtigkeitssinn der Menschheit immer wieder über alle menschlichen Gefühle und Torheiten gesiegt und zu Ausgleich und Harmonie geführt. Seien Sie nicht hoffnungslos oder entmutigt und denken Sie nicht, daß die Welt vor die Hunde geht, nur weil Ihnen das gegenwärtige Treiben nicht gefällt. Es steht Ihnen zu, diese Dinge zu mögen oder aber zu verabscheuen; prüfen Sie jedoch auch, daß Sie nicht selbst, als Individuum, den Haß in der Welt vermehren oder zu ihren Schwierigkeiten und ihrem Unglück beitragen. Das ist mein Standpunkt.
Vergebung und karmische Handlung
Denken Sie daran, was die Alten Weisen meinten, wenn sie die Menschen als Verwandte der Götter, als Kinder von Gottheiten bezeichneten, die mit den Göttern in den Angelegenheiten des solaren Reiches zusammenarbeiten. Es ist wahr; und wenn wir im Laufe der Zeit vom menschlichen in den göttlichen Zustand übergehen, wenn wir zu Göttern werden, dann werden unsere unterstützenden Bemühungen sehr viel besser, schöner, reicher und in jeder Weise großartiger werden. Gegenwärtig sind wir noch junge Götter in der Schule, junge Götter, die spielen. Unser Heim ist das Sonnensystem. Ebenso ist es auch unsere Schule und unsere Universität. Diese Erde ist gegenwärtig gewissermaßen unser Klassenzimmer, bis wir in eine höhere Klasse aufsteigen. Unser gesamtes Tun spielt sich in der Universität des Lebens ab – in unserem Sonnensystem. Was für ein wunderbares Bild! Und ich kann Ihnen versichern, daß jeder menschliche Gedanke auf ewig auf den unzerstörbaren Tafeln der Zeit registriert wird. Ein Gedanke von mir wird mit fast unmerklichem Einfluß den entferntesten Stern in der Milchstraße berühren. Und er wird diesen Stern ebensosehr beeinflussen, wie ich von allen Gedanken um mich herum beeinflußt werde.
Stellen Sie sich die zwei Milliarden Menschen auf der Erde vor – die menschliche Rasse – das heißt, den verkörperten Teil der Menschheit. Nehmen Sie an, Sie würden – wie es Menschen gerade heute tun, aufgrund der raschen Verbesserung der Kommunikation – alle ungefähr zur gleichen Zeit über dieselbe Sache in ähnlicher Weise nachdenken; nehmen Sie weiter an, es handele sich um eine Panik oder eine Kriegshysterie, um ein großes Haßgefühl oder um eine starke Emotion: glauben Sie nicht, daß dieser riesige Strom freiwerdender psychischer Energie irgend etwas bewirken würde? Natürlich würde er es! Und es ist dieser Bereich, wo Karma tätig wird. Es ist eine alte, alte Lehre, daß die Unglücksfälle, die die Menschheit treffen, hauptsächlich durch die Menschheit verursacht werden, durch ihre eigenen bösen Gedanken und Gefühle, die ein wirklich erschreckendes Volumen an Energie und Kräften in das Astrallicht oder in die Erdatmosphäre werfen. Sie kennen das alte englische Sprichwort: „Flüche kehren wie die Küken ins Nest zurück.“ Sie gehen nicht fort, um auf einem fremden Bauernhof zu übernachten. Küken kehren zurück. Liebevolle Gedanken, schöne, gütige, wohlwollende Gedanken und Gefühle: auch sie kommen wie Boten der Götter und schwingen sich auf ihrem Weg zu uns zurück. Eines Tages, irgendwann, irgendwo, werden wir ernten, was wir säen. Wenn die Menschen dieses großartige Gesetz kennen würden, wie anders würden sie dann einander behandeln! Alle Rache- und Haßgefühle und die teuflische Frucht des selbstsüchtigen Materialismus, daß man sich um jeden Preis vor seinem Bruder schützen muß: solche Dinge könnten sich dann nie wieder in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen.
Wie wahr ist das Wort des alten hebräischen Propheten: „Die Rache ist mein, sagt der Herr.“ Was für eine Warnung! Die Theosophie zeigt uns, warum und wieso. Ein Mensch, dem eine Beleidigung zugefügt wird, täte grenzenlos besser daran, sie zu akzeptieren und zu vergeben und sie mannhaft zu tragen. Seine ausgleichende Belohnung wird eines Tages groß sein, was ihn verletzt hat, wird sich als Wohltat herausstellen. Wenn er sich menschlich verhält, wird er nicht nur nichts zu dem schrecklichen Gewicht üblen Karmas, das ihn bedrückt, beitragen, sondern er wird auch seinen Feind erheben. Eine solche Tat ist göttergleich. Ich sage Ihnen: „Liebe Deine Feinde.“ So sprach der Avatāra: „Tue denen Gutes, die Dich verfolgen. Gib nicht Falsches für Falsches, Haß für Haß.“ Wann werden die Menschen das lernen?
Die Welt mit Ideen erobern
Es braucht einigen Mut – und ich meine den wirklichen Mut des Sehers, den nichts einschüchtern und aufhalten kann – sich den Gedankenströmen der Welt zu widersetzen. Dieses erhabene Werk fordert wahrsten Heroismus, feinste intellektuelle Vision und tiefste spirituelle Einsicht. Diese Eigenschaften sind immer maßgebend. Manchmal verliert derjenige, der es wagt, gegen die Gedankenströme der Welt anzugehen, alles, was in der Welt am meisten gilt: sein Ansehen, sein Lebensglück, ja manchmal vielleicht sogar sein Leben. Aber sein Werk – das ist niemals vergebens.
Das hat H. P. Blavatsky getan, und das hat die Theosophische Gesellschaft seither immer getan. Es ist ein seltsames Paradoxon unseres Lebens auf dieser Erde, daß die erhabensten Dinge Opfer verlangen, und doch ist es eines der schönsten. Die Welt wird von Ideen regiert. Eine unvermeidliche Wahrheit ist jedoch auch, daß auf der Welt die niedrigen Denkweisen durch höherwertige ersetzt werden müssen. Nur eine umfassendere Denkweise kann einen engen und eingeschränkten Gedankengang überwinden und besiegen. Graecia capta Romam victricem captam subducit; das heißt: „Das besiegte Griechenland unterwirft schließlich selbst das siegreiche Rom und macht es sich untertan.“
Was anderes ist die Theosophische Bewegung, deren Lehren durch H. P. Blavatsky so wunderbar zum Ausdruck gebracht wurden, als eine Reihe, eine Sammlung großer Ideen? Diese Ideen waren nicht ihre eigenen. Sie hatte sie nicht aus den Werken verschiedener großer Denker zusammengetragen, sondern sie entstammen der göttlichen Weisheit der Welt. Sie fügte die Weisheitslehren der Menschheit zusammen, um jenen, die ein solches Bollwerk benötigen, die erhabenen Wahrheiten zu zeigen, die voller Sternenlicht sind und die den Stempel göttlicher Herkunft tragen. Nicht alle können diesen göttlichen Stempel erkennen. Wahrlich, sagen sie, das muß erst bewiesen werden! Sie müssen ihren Finger auf die Wunde legen. Millionen geht es so. Sie haben noch nicht denken gelernt.
Die einzige Möglichkeit, Ideen zu überwinden, besteht darin, sie durch bessere zu ersetzen, und das macht die Theosophie. Sie ist eine Ansammlung von göttlichen Ideen. Es sind nicht die Ideen von H. P. Blavatsky, sie war nur deren derzeitige Vermittlerin. Der alte, göttliche Weisheitsschatz auf Erden ist das Eigentum aller Menschen, aller Nationen, aller Völker und aller Zeitalter. Er wurde zu Beginn der Evolution den frühen Menschenformen dieser Erde von Wesen aus höheren Ebenen übermittelt, und diese wiederum erhielten ihn von noch höher stehenden Wesenheiten – eine ursprüngliche Offenbarung von Göttern. Das Echo dieser Offenbarung kann man in jedem Land, unter jedem Volk, in jeder Religion und in jeder Philosophie, die jemals Anhänger gewonnen hat, finden.
Als H. P. Blavatsky die Theosophie in die jetzige Welt brachte, hat sie nichts Neues gebracht. Ich möchte es nochmals sagen: sie brachte erneut die kosmische Weisheit, wie sie auf dieser Erde verstanden und von den Sehern studiert wurde. Diese kosmische Weisheit war in allen früheren Zeitaltern bekannt, die dem jetzigen vorausgingen, dieselbe sternklare Weisheit, göttlich in ihrem Ursprung – eine Wissenschaft, da sie die Fakten der Natur wiedergibt; eine Religion, da sie die Menschheit zur Göttlichkeit erhebt; eine Philosophie, da sie alle Probleme erklärt, die für die menschliche Intelligenz ein Rätsel waren.
Es war eine erstaunliche Welt, in die H. P. B. kam – und ich spreche jetzt von der westlichen Welt –, eine Welt, die kränkelte. In einer Hinsicht war die Welt sogar nicht ohne Glauben und fühlte sich dem Geist, d. h. den Lehren des Avatāra Jesus, genannt der Christus, verbunden, allerdings lediglich auf Glauben beruhend und auf die Anstrengungen von wenigen in den Kirchen. Auf der anderen Seite waren Millionen, der größte Teil der Männer und Frauen im Westen, wie gebannt – wovon? Von Tatsachen? Keinesfalls! Von Theorien, Annahmen, von Ideen, die sich eingebürgert hatten, weil sie aggressiv dargeboten wurden und einige wenige natürliche Tatsachen enthielten. Nun, die Wissenschaft jener Tage ist heute mehr oder weniger überholt. Die nachfolgende Generation von Wissenschaftlern hat ihre Vorgänger besiegt, welche die Hoffnung der Menschen in jenen Tagen zu zerstören drohten.
In eine solche Zeit kam H. P. Blavatsky und sie war nahezu allein in einer Ära, in der es als schlechtes Benehmen galt, selbst im eigenen Wohnzimmer oder gar in Gesellschaft über die Seele zu sprechen; das galt als Merkmal mangelnder Intelligenz. Allein, sie schrieb ihre Bücher und forderte damit die anerkannte Denkweise der westlichen Welt heraus, die von Fachgrößen und der sogenannten Psychologie gestützt wurde, ebenso von all dem, was damals die Menschen irreführte. Heute werden ihre Bücher von einigen der bedeutendsten Wissenschaftler unserer Zeit gelesen. Was hat sie getan? Ihr Angriff auf diese Weltpsychologie basierte hauptsächlich auf zwei Dingen: daß die Tatsachen der Natur göttlich sind; und daß die Theorien überheblicher Denker darüber keine Tatsachen der Natur, sondern menschliche Spekulationen sind. Diese sollten in Frage gestellt werden und, wenn sie gut sind, nach und nach akzeptiert, wenn sie falsch sind, verworfen werden. Sie gab das Beispiel; und andere Menschen, die die Bedeutung ihrer Arbeit erfassen, verstehen und begreifen konnten, scharten sich um sie. Einige bedeutende Wissenschaftler waren damals Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft, auch wenn sie selten für diese tätig waren. Gelegentlich bekannten sie sich zu ihr. Aber sie nahm sie mit den Ideen, die sie äußerte, gefangen, und diese Männer verarbeiteten diese Ideen in ihren eigenen Wissensgebieten. Das war wirklich schon ein großer Erfolg.
Bedenken Sie diese titanische Aufgabe: die Wandlung der veränderlichen und schwankenden Vorstellungen einer Gemeinschaft ernsthafter, wissenschaftlicher Forscher über die Tatsachen der Natur: das Ersetzen dieser veränderlichen Ideen, die damals als Wissenschaft bezeichnet wurden – und die während zwei Jahrhunderten alles verworfen hatten, was sich in unzähligen Jahrhunderten menschlicher Erfahrung als richtig und verläßlich erwiesen hatte. Sie ersetzte sie durch Gedanken, nach denen die Menschen leben und sich, wenn sie sie befolgten, bessern konnten; Gedanken, auf deren Grundlage die Menschen voller Hoffnung und in Frieden sterben konnten. Sie rief diese Gedanken mit der Kraft ihres eigenen Intellekts in das menschliche Bewußtsein zurück, indem sie die uralten Überlieferungen der göttlichen Weisheit, die sie brachte, aussprach.
Karmische Wirkungen und Bardo
Ich frage mich, ob wir im Tagesgeschehen für einen Augenblick die äußeren Umstände vergessen und dieses Faktum wirklich fühlen und erkennen können: daß wir irgendwann, irgendwo ganz exakt für alles geradestehen müssen, was wir sind: das heißt für alles, was wir getan und gefühlt haben und was wir gewesen sind – karmische Verantwortlichkeit!
Die meisten von uns erkennen das und akzeptieren es als einen philosophischen Lehrsatz. Wir haben es jedoch nicht als eine ernsthafte Realität in unser Bewußtsein aufgenommen, die uns beständig, in jedem Augenblick, unser ganzes Leben lang, täglich entgegentritt. Wir wären sonst unendlich achtsamer, als wir es sind, nicht nur mit unseren Gefühlen und Gedanken, sondern natürlich auch in unserem Handeln. Was immer wir tun, formt nicht nur unseren Charakter, wodurch unser ganzes zukünftiges Schicksal verändert wird, sondern es beeinflußt auch andere Menschen. Und andere Menschen wirken durch diese Tatsache wieder auf uns. Aktion und Reaktion: das erste Gesetz der Natur. Das ist das ganze Karma: die Lehre der Konsequenzen, ethisch gesehen, die Lehre der Verantwortung. Was ihr säet, das werdet ihr ernten, nicht irgend etwas anderes. Es ist erschütternd mit den Menschen, die glauben, sie könnten tun, was sie wollen, weil es ihnen gerade gefällt, oder weil sie Furcht davor haben und zu feige sind, anders zu handeln, und glauben, sie könnten davonkommen! Niemals, niemals, niemals. Man muß bis zum letzten Heller dafür bezahlen.
Es ist nicht nur das, was Ihnen widerfährt. Wenn wir ein Herz haben, das jemals von der heiligen Flamme des Mitgefühls, des Mitleids, berührt wurde, dann werden wir erkennen, daß alles, was wir denken oder fühlen, eines Tages eine Auswirkung in Form einer Handlung haben wird, und diese Handlung wird andere beeinflussen, wird ihnen helfen oder sie verletzen. Und Sie sind verantwortlich, kein anderer. Und Sie werden bezahlen. Selbst wenn Sie bis ans Ende der Welt fliehen, kann Sie nichts vor den entstehenden Folgen retten.
Durch dasselbe Gesetz werden jede freundliche mitleidsvolle Tat, jeder Gedanke an andere, jeder menschliche Herzschlag ihren heiligen Widerhall nicht nur in der momentanen Dankbarkeit anderer Menschen finden, nicht nur in ihrer jetzigen, aufrichtigen und aus ganzem Herzen gegebenen Freundschaft, sondern auch in zukünftigen Leben, denn zwischen diesen anderen und uns ist eine Sympathie entstanden. Wie wundervoll ist Sympathie! Sie ist eines der Dinge unseres Lebens, die es nicht nur erträglich machen, sondern sie umhüllt unser Leben mit Herzenswärme.
Ich glaube, daß kein Mensch verantwortungsbewußter ist als dann, wenn er aus Mitleid, aus einem mitleidsvollen Drang eine Tat vollbringt, oder wenn er durch das Diktat des Mitleids, das in seinem Herzen flüstert, eine Handlung unterläßt. Ein solcher Mensch ist ein wahrer Mensch, und sein Leben ist schön. Sein Lohn wird im Bardo sein, wie die Tibeter sagen, und ihn dort empfangen. Denken Sie nie, daß Sie den Folgen Ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungen entfliehen können. Diese Wahrheit ging im modernen Leben verloren, und die Greuel, die wir in der Welt um uns sehen oder gesehen haben oder sehen werden, hätten vielleicht nie stattgefunden oder würden vielleicht nie stattfinden, wenn der Mensch erst einmal von dieser spirituellen und natürlichen Wahrheit in der Welt überzeugt wäre: daß wir nämlich von den Gesetzen und Gewohnheiten der Natur verantwortlich gemacht werden, im Sinne einer genauen Abrechnung für alles, was wir tun; das heißt für alles, was wir denken und fühlen und was in Handlungen umgesetzt wird. Die Waagschalen der Natur können nicht getäuscht werden.
Bardo ist ein Wort, das „zwischen zwei“ bedeutet. Das heißt zwischen dem Ende des Lebens oder dem, was wir Tod nennen, und dem Beginn der nächsten Verkörperung, der Inkarnation. Es umfaßt all die verschiedenen Dinge, die zwischen dem letzten physischen Atemzug des einen Lebens und dem ersten physischen Atemzug des nächsten Lebens geschehen und alles, was dazwischen ist: die astrale Welt, Kāma-Loka und Devachan.
Die wirkliche Lehre der Tibeter über Bardo ist identisch mit unserer eigenen, weil sie aus der gleichen Quelle stammt. Aber die tibetanischen Praktiken, die mit der Lehre über den Bardo verbunden sind, sind nicht unsere eigenen. Diese Praktiken, die oft schwarze Magie sind, stammen von den ursprünglichen Bhöns, die zum Buddhismus bekehrt wurden. Es wäre jedoch unfair, diese Praktiken, wie sie heute von den Tibetern praktiziert werden, als schwarze Magie zu bezeichnen, weil das Motiv gut ist.
Wie sehen diese Praktiken aus? Wenn ein Mensch wahrscheinlich sterben wird oder am Rande des Todes steht, wird nach den Lamas gesandt. Diese kommen an das Sterbebett, setzen sich neben dem Sterbenden nieder, flüstern ihm zu und erzählen ihm, daß er großen Mut haben und nichts fürchten und sein Gemüt reinhalten soll. Dann erklären die Lamas ihm alle Dinge, die ihm begegnen werden, wenn er stirbt. Dies sind die Praktiken, die wir nicht gutheißen, weil sie die scheidende Seele beeinflussen, nicht notwendigerweise nachteilig, aber sie beeinflussen sie, weil sie eine Gedankenrichtung vorgeben, anstatt daß dem Karma des letzten Lebens erlaubt wird, ein eigenes Resultat aus den letzten Gedanken zu ziehen.
Tatsächlich gibt es in den orthodoxeren christlichen Kirchen etwas, das dieser Idee nahekommt. Der Geistliche oder der Priester kommt an das Bett des Sterbenden und spendet Trost und andere Dinge – all das beeinflußt den Geist des Sterbenden. Wenn der Sterbende verhältnismäßig einfach ist und die Dinge leicht glaubt und sein ganzes Leben lang ein Anhänger der Kirche war und an sie glaubt, entsteht daraus wahrscheinlich kein großes Übel.
Ich weise lediglich darauf hin, daß die Tibeter nicht die einzigen sind, die solche vor dem Tode auszuführenden Praktiken haben, um der Seele auf ihrem Weg zu helfen. Solche Praktiken zu unterlassen ist unendlich besser! Lassen Sie Karma, lassen Sie die Stimme der Stille sprechen. Lassen Sie die Magie des Webens von Gedanken und Gefühlen ihre stille Arbeit ungestört ausüben, erfüllt von der Struktur des Bewußtseins. Die mitleidsvolle Natur sorgt für alles, und es ist für das scheidende Bewußtsein unendlich besser, jene letzten heiligen Momente in absoluter, höchster Stille zu verbringen.
Achten Sie deshalb darauf, daß am Sterbebett kein lautes Geräusch ist, kein Weinen. Lassen Sie größtmögliche Ruhe herrschen und eine Atmosphäre des Friedens. Ein solches Verhalten ist reich an Güte und Verständnis. Wenn Ihre Zeit des Sterbens kommt, werden Sie sich daran erinnern und vielleicht dankbar sein, daß jene, die um Sie sind, Ihre letzten Minuten nicht stören.
Der Lohn des Selbstvergessens
Theosophie wirkt mit einer Magie auf uns, die bei weitem herrlicher ist, als nur die unbestrittene und wundervolle Wahrheit über unsere essentielle Göttlichkeit. Sie wandelt uns schwache und oft böse Menschen zu Göttern. Sie lehrt uns, uns selbst für andere zu vergessen – für die Welt. Sie läutert so unsere Naturen und unsere Herzen und unser Denken von Persönlichem und Begrenztem, so daß wir mit der Zeit dahin geführt werden, sogar uns selbst zu vergessen und im Universalen zu leben.
Für mich ist das der verlorene Grundton unserer modernen Zivilisation, die sich wie rasend um die Befriedigung unseres Egoismus dreht. Wenn wir in das Gedankenleben der Welt und unserer Mitmenschen Ideen, Denkprinzipien, ein sich daraus ergebendes Verhalten und Lehren religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Charakters und Wertes einfließen lassen, die die Menschen lehren und sie zu lernen befähigen, daß sie sich selbst vergessen und für andere leben, dann werden wir meiner Meinung nach mehr getan haben, als sie die zweifellos erhabene Wahrheit ihrer Einheit mit dem Göttlichen gelehrt zu haben – einer meiner liebsten Gedanken und Lehren. Denn selbst diese Lehre kann eine Atmosphäre von Egoismus, von spiritueller Selbstsucht, an sich haben.
Wenn unsere traurige und leidende Welt, am Rande einer Katastrophe befindlich – diese Welt als die einzelnen Männer und Frauen betrachtet –, diese eine einfache Lektion des Selbstvergessens, die Schönheit, die unermeßliche Genugtuung des Herzens und des Verstandes lernen könnte, die aus dem Selbstvergessen entstehen, aus dem Leben für andere, für die Welt, dann glaube ich ehrlich und von ganzem Herzen, daß neunundneunzig Prozent der menschlichen Schwierigkeiten gelöst wären. Dann würde Politik der Antrieb für menschliche Heldentaten sein und nicht für Selbstsucht und Zerstörung. Menschenfreundliche Werke würden in der Welt als das Edelste angesehen, weil sie von der Weisheit eines erweckten Herzens geleitet würden. Denn kein Mensch kann klarsehen, wenn er sich um die eigene Achse seines persönlichen Selbst dreht. Aber wenn die Vision universal wird, wird er verstehen, weil der ganze Umkreis in seinen Horizont, seine Reichweite und sein Blickfeld rückt.
So wundervoll die Lehren sind, die wir als individuelle Menschen in der Theosophie studieren können, und so bedeutend der Nutzen sein wird, den wir aus diesen Lehren ziehen werden – habe ich daher nicht recht, davon überzeugt zu sein, daß diese Lehren fürwahr etwas noch weitaus Höheres mit sich bringen? Nämlich daß wir unseren höchsten und erhabensten Gipfel des Erfolgs erreichen, wenn wir uns selbst vergessen. Finden wir nicht dieselbe wundervolle Wahrheit im Herzen, als Essenz und zentrale Idee, in jeder großen Religion der Vergangenheit, vorausgesetzt wir befreien sie von den dogmatischen Auswüchsen, die sich die Gehirne schwächerer Menschen ausdachten?
Bedenken Sie, daß wahre Theosophie eine Angelegenheit des Herzenslebens und des Herzenslichtes ist, wie auch eine Angelegenheit tiefgründigen, intellektuellen Verständnisses. Viele Menschen verstehen dies jedoch nicht und betrachten Theosophie lediglich als eine intellektuelle Philosophie, die nur ein Teil davon ist.
Wenn wir das in der Theosophie gelehrte, selbstlose Leben als das schönste ansehen, weil es universal und allumfassend ist, können wir dann noch ein wirklich selbstloses Leben führen, wenn wir die nächstliegenden Pflichten nicht beachten? Anders ausgedrückt: wenn ein Mensch so sehr danach verlangt, der Welt zu helfen, daß er hinauszieht und seine Pflichten vergißt, die er bereits übernommen hat, tut er dann, was menschlich ist? Lebt er das selbstlose Leben? Oder folgt er einem verborgenen, selbstsüchtigen Verlangen nach persönlichem Fortschritt? Handelt er wenigstens folgerichtig? Selbstlosigkeit bedeutet, niemals eine Pflicht zu vernachlässigen. Wenn Sie dies jedoch tun, werden Sie durch eine Überprüfung entdecken, daß Sie einem Begehren, einem selbstsüchtigen Gedanken folgen. Indem Sie jede Pflicht ganz und gar erfüllen und dabei Frieden und Weisheit erlangen, führen Sie ein Leben in größter Selbstlosigkeit.
„Die Rache ist mein“
Es gibt kein Entrinnen vor dem Naturgesetz, daß nämlich einer Ursache eine Wirkung folgt. Es gibt kein Entrinnen. Keine Gebete, keine Bitten, nichts wird die Reichweite der göttlichen Ordnung ändern: wie Sie sind und wie Ihre Werke sind, so werden die Früchte sein, die Sie hervorbringen. Und diese werden Ihre Kinder sein. Tun Sie Gutes, wird Ihnen Gutes widerfahren. Tun Sie Böses, wird die Natur den Übeltäter den gleichen disharmonischen Schwingungen und Gegenwirkungen aussetzen.
Das ist die Bedeutung der alten jüdisch-christlichen Feststellung: „Die Rache ist mein; ich werde vergelten, spricht der Herr“ – Worte, über die die Menschen seit 2 000 Jahren gesprochen und gepredigt haben, aber von deren Kraft sie nicht genügend überzeugt waren. Mit anderen Worten, sie haben Böses zu Bösem hinzugefügt, durch den Versuch, das Böse durch Böses zu beenden, was die Sache verschlimmerte. Machen Sie sich ein Bild aus den gewöhnlichen Begebenheiten des menschlichen Daseins! Rache ist kein Weg, um den Übeltäter zu bessern. Sie überzeugen ihn dadurch nur, daß er letzten Endes recht hat: er wird seine Rache nehmen, und Sie versuchen dann Ihrerseits, sich an ihm zu rächen. Gewiß, Sie können ihn einsperren. Aber Sie können Böses nicht durch Böses beenden. Sie können nicht Furcht mit Furcht und Haß mit Haß bekämpfen. Törichte Menschen haben das, weiß der Himmel, seit vielen Tausenden von Jahren versucht. Haben sie je einen Erfolg erzielt? Der Zustand der Welt ist die Antwort.
Selbst unsere üblichen menschlichen Gesetze der zivilisierten Gesellschaft erlauben es keinem Menschen, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen und Vergeltung zu üben. Die Menschen erkennen, wie unsinnig das ist, weil mehr Unheil als Gutes daraus entsteht. Die allgemein gebräuchlichen Gesetze, welche die menschliche Gesellschaft leiten, enthalten mehr gute, vernünftige Weisheit, als von den Nationen oder den einzelnen Menschen untereinander angewandt wird. Das Gesetz würde es Ihnen auch nicht gestatten, aus Rache Selbstjustiz an einem Menschen zu üben, der Ihnen Schaden zugefügt hat; und das aus gutem Grund, weil das Prinzip dieses Gesetzes auf einer tiefgründigen Weisheitslehre beruht. Die Natur würde es nicht dulden.
Die Menschen haben vergessen, daß sie das, was sie säen, auch ernten werden – nichts anderes. Bedenken Sie, was das bedeutet. Ganz gleich, wie dunkel der Tag auch sein mag, ganz gleich, wie verzweifelt die Lage auch ist, der Übeltäter und der Wohltäter erhalten zur rechten Zeit ihren Lohn, genau im Verhältnis zu dem Guten oder dem Bösen, das sie getan haben. Die Menschen vergessen, daß sie keine Haßgedanken hegen können, ohne ihren eigenen Charakter dadurch zu entstellen, und das bedeutet, ihn zu schwächen, ihn weniger stark, weniger strahlend, weniger intuitiv, weniger feinsinnig zu machen. Es erfordert Stärke, ein guter Mensch zu sein und dem Gesetz zu folgen, und das ist eine Stärke, die immer mächtiger wird, je mehr man sie anwendet.
Sehen Sie doch, was die menschliche Gesellschaft macht. Sie schützt sich selbst. Je zivilisierter die menschliche Gesellschaft ist, desto humaner sind die Maßnahmen gegen das Böse. Ist die Gesellschaft weniger zivilisiert, sind die Strafmaßnahmen, denen der Übeltäter unterworfen wird, dementsprechend grausamer, härter und ungerechter. Aber nicht für immer. Weshalb? Weil die Menschen im Grunde anständig sind. Ich fand Anstand auch im Herzen und Denken eines Verbrechers – er hatte einen äußerst schlechten Ruf. Selbst dieser Mensch wußte, was Anständigkeit ist, aber er war psychologisch von der Idee beeinflußt, es sei für ihn ganz zwecklos, es nochmals zu versuchen, weil gleichgültig, wie sehr er sich bemühen würde, doch alle Anzeichen gegen ihn sprächen. Sein Leben würde doch nur eine einzige Hölle sein.
Was man sät, das wird man ernten, und was man jetzt erntet, das hat man in der Vergangenheit gesät. Das ist genau das, was die Welt jetzt erlebt: die Ernte ihrer früheren Saat. Es dauert nicht an, es währt nicht ewig, es ist nur vorübergehend. Was wir die eisernen Zeiten der Prüfungen und Leiden nennen, wird wieder von milderen und freundlicheren Zeiten abgelöst, bis die Menschen erneut der Schönheit und der Harmonie überdrüssig werden und mit wahrer Begabung böse Taten und Ränke ersinnen. Dann kommt ein neues finsteres Zeitalter heran, ein neues Zeitalter des Schreckens, in dem die Menschen soviel wie möglich besitzen möchten und glauben, sie könnten es ohne Bezahlung erlangen. Sie können es nicht.
Das ist ein schönes, altes Sprichwort: die Strafe – nein, nicht die Rache; wir können das verstehen als die Wiederherstellung des Gleichgewichts, der Gerechtigkeit, der Harmonie im Universum – die Strafe ist mein. Kein vernünftiger Mensch zweifelt daran. Wir alle wissen, daß die Natur, wenn wir uns selbst mißtrauen, Vergeltung fordern wird. Wenn wir unseren Körper, einen Teil von uns, mißbrauchen, wenn auch nur durch kleine Nachgiebigkeiten wie durch alltägliche schlechte Handlungen, wird es nicht lange dauern, bis die Natur Vergeltung verlangt. Wir erleiden dann Schmerzen oder möglicherweise eine Krankheit. Auch für alle anderen Störungen des Naturgesetzes und der Harmonie müssen wir bezahlen.
Das ist die bedeutendste Lehre, die der menschliche Genius jemals aus dem Schoß der kosmischen Wahrheit barg: Es gibt kein Entkommen. Und sehen Sie, welche wunderbare Verhaltensregel dies für das menschliche Leben ist. Sie können nie davon loskommen, selbst wenn Sie es versuchen würden. Es gibt kein Entrinnen. Sie zahlen bis zum letzten Heller. Danach kommt eine neue Gelegenheit für Sie. Sie haben Ihre Schuld beglichen. Das ist die Lehre von Karma, und manche Menschen, die Karma nicht verstehen, glauben, es sei grausam und unfreundlich, daß die Natur ihre Gesetze hat und einen gerechten Ausgleich für die Verletzung dieser Gesetze zum Schutz der kosmischen Harmonie fordert. Aber bedenken Sie, was sonst uns zum Gehorsam bringen könnte, wenn es nicht so wäre. Die menschlichen Wesen und die Götter hätten keinen Schutz. Es gäbe weder Gesetz noch Ordnung. Die Wiederherstellung der Harmonie ist die größte und wundervollste Tätigkeit der Natur. Es ist der große Gedanke des Schutzes des Guten, das große Prinzip der Erhaltung des Guten und die Warnung an den Übeltäter.
Fassen Sie Mut. Begegnen Sie allem, was kommt, wie ein Mensch der Tat. Wenn Sie in der Vergangenheit fehlgegangen sind, werden Sie Ihre Schuld begleichen und dann frei sein, mit einem sauberen, unbeschriebenen Blatt, um Ihr neues Schicksal darauf zu schreiben. Die babylonische Warnung wird nicht länger an der Wand stehen. Die Natur sagt jedoch: „Ja, Kind, es ist gut. Ein neuer Pfad öffnet sich vor dir, eine neue Gelegenheit. Jetzt bist Du frei. Du hast deine Schuld getilgt. Du bist aus dem Gefängnis früherer Verhältnisse befreit.“
Es scheint mir, daß nichts so tröstend und so schön ist, als darüber nachzudenken, daß die Natur um uns – womit ich nicht nur die physische Natur meine, sondern den göttlichen Schoß des Seins, aus dem wir alle im Anbeginn der Zeit gekommen sind – immer noch unsere Mutter, Vater-Mutter ist, daß wir Kinder der kosmischen Harmonie sind, und daß in dieser Harmonie ein grenzenloser Frieden und unendliches Glück für unser tägliches Leben liegen und ein Verhaltenskodex, der uns nie im Stich lassen wird. Tun Sie Gutes, und Gutes wird zu Ihnen zurückkehren. Säen Sie Frieden, und Frieden wird zu Ihnen kommen. Spenden Sie anderen ein wenig von der Freude, die in Ihrem eigenen Herzen ist; dann wird Freude zu Ihrem Herzen zurückkehren, und in schwierigen Zeiten wird die Freude Frieden bringen. Säen Sie Böses in der Welt, und dieses Böse wird Sie eines Tages einschließen, gleich den sich ausbreitenden Kreisen des Schicksals, und dann wird es völlig zwecklos sein, zu den Göttern zu jammern oder zu sagen: „Warum ist dies über mich gekommen?“ Sie begleichen Ihre Schuld. Es ist schmerzlich, aber sobald die Schuld getilgt ist, sind Sie frei. Ist das nicht eine tröstliche, gesunde, vernünftige und in jeder Weise segenbringende Lehre?
Das menschliche Bewußtsein
Eines der interessantesten Dinge der menschlichen Konstitution bezeichnen wir als Bewußtsein, und es ist ein eigenartiger Widerspruch, daß gerade über das Bewußtsein am wenigsten bekannt ist. Jeder spricht davon, jeder sagt Bewußtsein, Bewußtsein, Bewußtsein; aber wenn man jemanden fragt, was er damit meint, beginnt er zu stottern. Sollen wir es als Wahrnehmung bezeichnen? Nun, das ist eine der Funktionen des Bewußtseins. Wir können lediglich sagen, daß es da ist, und wir alle wissen, was es ist. Es muß nicht beschrieben werden. Sobald man es zu definieren versucht, entsteht ein Wortgewirr und man verliert tatsächlich jede Einsicht, jedes Gefühl dafür, was es eigentlich ist. Das Bewußtsein geht sozusagen aus dem zentralen Bewußtsein in das niedere, eingeengte sprachliche Bewußtsein über. Wir alle kennen Menschen, die bei dem Versuch, sich auszudrücken, die Worte so durcheinanderbringen, daß sie tatsächlich vergessen, worüber sie sprechen, weil sich ihr Bewußtsein einfach nicht in Details und Worte einfügt. Sie haben die Hauptsache aus den Augen verloren.
Das menschliche Bewußtsein ist einheitlich und ganzheitlich, d. h. es gibt nicht zwei, drei oder mehr Bewußtseinsarten in der menschlichen Konstitution. Es ist vielmehr ein einheitliches Bewußtsein, das aus dem Geistigen in uns, dem göttlichen Zentrum, in dem die Wahrheit in Fülle wohnt, bis in unseren Gehirn-Verstand herunterreicht oder bis in unser normales Tagesbewußtsein; und dieses menschliche Zentrum in uns kann diesen himmlischen Besucher nicht vollständig übermitteln, weil dieser menschliche Teil in uns dicht und schwer von den Schichten des niedrigen Bewußtseins verschleiert ist. Unsere Gedanken, Gefühle und Emotionen wallen vor uns auf wie eine starke Gewitterwolke vor der Sonne. Hinter der Wolke ist jedoch das eine Sonnenlicht. Genauso ist es mit dem Bewußtsein.
Theosophische Seher verschiedener Religionen und Philosophien haben das menschliche Bewußtsein zum besseren Verständnis seit vielen Zeitaltern in vier Stufen eingeteilt: Jāgrat, der Wachzustand, Svapna, der Schlafzustand, Sushupti, der vollkommen traumlose Schlafzustand, der Zustand des Todes für die meisten Menschen und Turīya, der göttliche Zustand, von dem uns die Gottmenschen und die großen Seher und Weisen berichtet haben, weil diese ihn in gewissem Ausmaß erleben. Aber alle Zustände sind dennoch ein Bewußtsein. Jāgrat ist der Zustand, in dem wir hier jetzt alle sind – außer es schläft einer unserer Zuhörer, und wenn er das tut, dann befindet er sich im Svapna-Zustand, im Schlafzustand, in dem er mehr oder weniger träumt. Manchmal sind die Menschen halb im Traum, während sie im Jāgrat-Zustand sind. Wir nennen das Tagtraum. Ich meine damit nicht das schöpferische Erträumen von Ideen, ich meine das träge Dahindämmern, bei dem die Gedanken umherschweifen. Es ist ein Teil-Svapna im Jāgrat-Zustand. Dann folgt Sushupti, der traumloser Schlaf ist. Es ist der Zustand der meisten menschlichen Seelen nach dem Tod: ein vollkommen lieblicher, traumloser Bewußtseinszustand, in dem tausend Tage wie ein Tag sind und die Zeit nicht existiert, weil sich das Bewußtsein nicht in diesen niederen Ebenen der Zeit befindet, die mit Zeitmessern, Armbanduhren und Bewegungen von Himmelskörpern gemessen werden. Das Bewußtsein ist dort nicht im Zeitstadium. Der höchste Zustand dieses selben einheitlichen Bewußtseins also, der Ursprung unseres Bewußtseins, wird Turiya genannt. Die Buddhisten nennen ihn Nirvana. Die Hindus nennen ihn Mukti oder Moksha. Wir gebrauchen diese Ausdrücke ebenfalls, weil sie so absolut anschaulich sind. Es ist das reine Bewußtsein des menschlichen Geistes, ein Strahl aus dem Göttlichen oder ein Funke aus dem Göttlichen.
Hier ist die Folgerung, die Moral, die sich aus diesen Tatsachen ableiten läßt. Wir alle haben diesen einen Bewußtseinszustand, der sich für die meisten von uns in drei Zuständen manifestiert: physischer Wachzustand, Schlaf mit Träumen, traumloser Schlaf oder Todeszustand für die meisten Menschen, bis sie sich wiederverkörpern. Wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, daß wir Menschen uns dessen, was in uns ist, und was wir tun können, nicht klar bewußt sind. Hier liegt der Schlüssel zu den Mysterien der Einweihung. Lernen Sie zuerst, voll wach zu sein, im Jāgrat-Zustand, in dem wir jetzt sind – physisches Erwachen. Lernen Sie, völlig wach zu sein. Lernen Sie als nächstes, diesen Zustand der Selbst- Bewußtheit beizubehalten, wenn Sie schlafen, so daß Sie im Schlaf ebenso bewußt sind wie Sie es während des Wachzustandes sind oder zu sein glauben. Und drittens der höchste Schritt: lernen Sie, nach dem Tode bewußt wach zu sein. Denn es ist ein Bewußtsein, das in allen drei Zuständen wirkt, und jeder von uns besitzt es, und jeder von uns unterliegt diesen drei Bedingungen oder Zuständen dieses einen, einheitlichen Bewußtseins.
Bedenken Sie, was das für unseren zukünftigen evolutionären Fortschritt bedeutet. Warum sollen wir nicht jetzt beginnen? Ich erinnere mich an eine Geschichte, die über die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, H. P. Blavatsky, berichtet wurde. Einer ihrer Schüler kam eines Tages zu ihr und sagte: „H. P. B., Sie wissen, ich bin schrecklich müde, ich habe den ganzen Tag über gearbeitet.“ – „Das tut mir leid“, sagte H. P. B., „Sie sollten lieber gehen und sich ausruhen. Nebenbei, schlafen Sie wirklich, während Sie schlafen? Nun, dann machen Sie es besser als ich. Ich arbeite, während ich schlafe.“ Sie hatte jenen Punkt erreicht, wo sie ihr Wahrnehmungsvermögen bewußt beibehalten konnte, während andere Menschen schliefen. Mit anderen Worten, sie konnte selbstbewußt bleiben, während die meisten anderen Leute schlafen.
Die dritte Stufe ist, wie ich schon sagte, nach dem Tode bewußt zu bleiben. Wenn man diese Stufe erreicht hat, ist die nächste der Zustand der Gottmenschen, oder der Menschengötter, von denen die Menschheit wußte: die Buddhas und Christusse, Menschen wie Śankarāchārya, Tsong-kha-pa und Apollonius. Wer diesen Zustand erreicht, ist die ganze Zeit über bewußt, im Wachen, im Schlaf, nach dem Tod und bis er zurückkehrt, denn er hat sich selbst gefunden.
Haben Sie sich nie gefragt, wie es kommt, daß Sie nach traumlosem oder von Träumen erfülltem Schlaf wieder als derselbe Mensch erwachen? Das ist eine so allgemeine, so gewöhnliche Erfahrung, daß es dem durchschnittlichen Menschen gar nicht auffällt, daß er nicht völlig aufmerksam, völlig bewußt ist. Das Genie sieht das und erkennt, daß diese überaus allgemeine Erscheinung gerade zu jenen zählt, die von der Wissenschaft nie erklärt wurden. Und trotzdem ist die Erklärung ständig vorhanden. Wir kehren wieder, weil wir nie fortgegangen sind. Wir werden uns wieder unserer selbst bewußt, weil wir nie etwas anderes waren. Das Bewußtsein ist eine Kontinuität. Wir haben es uns nicht beigebracht, bewußt wach zu sein, während wir schlafen, bewußt wach zu sein, wenn wir sterben. Die Kraft dazu liegt jedoch in uns. Wir brauchen sie nur aufzugreifen. Sie erinnern sich, daß Pythagoras jene Menschen, die das Leben und den Tod verschlafen, als „lebendig Tote“ bezeichnete. Wie lange wird das für Sie Gültigkeit haben?
Theosophen und Gebet
Beten Sie nicht zu den Göttern; wenn diese es hören, dürfen sie nicht handeln. Denn die Götter unterliegen selbst den Grenzen des kosmischen Gesetzes, das sie nicht abwandeln können. Unsere Gebete entspringen unserer Unwissenheit und Schwäche: Unwissenheit über unsere dringendsten Bedürfnisse und Schwäche, weil wir wünschen, daß andere Dinge für uns tun sollen, weil uns der Mut oder der Wille fehlt, damit zu beginnen, es selbst zu tun.
Ich bedauere jene armen Herzen, die in ihrer Einfalt denken, daß durch Gebete an einen allmächtigen Gott ihre Gebete beantwortet würden. Wir müssen darüber nachdenken! Aus welchem Grund beten so viele Menschen gern? Sie wissen wirklich aus Erfahrung, daß ihre Gebete unbeantwortet bleiben. Sie beten aus folgendem Grund: weil es Frieden bringt, weil es das Gefühl vermittelt, daß sie ihre Last einem anderen aufbürden und auch, weil es das unauslöschliche Gefühl des menschlichen Herzens stärkt, daß es geistige Kräfte von gewaltiger – wie soll ich sagen – gleichbleibend gewaltiger Aktivität in der Welt gibt, und daß wir, indem wir an diese Wesen denken, mit ihnen in Berührung kommen.
Ja, so ist es! Und wenn jedes Gebet nur ein Streben wäre, enger mit diesen spirituellen Kräften in Berührung zu kommen, dann wäre es wunderbar. Aber man kann es noch anders betrachten: zwei Armeen stoßen aufeinander, um sich gegenseitig abzuschlachten und zu vernichten. Jede Seite sendet Bitten an den allmächtigen Gott für den Sieg der eigenen Armee. Schreckliche Gotteslästerung liegt darin und äußerster Mangel an Verständnis über den göttlichen Charakter der Regierung des Universums.
An Gebete, die eine Bitte beinhalten, glauben die Theosophen nicht: an die Bitten an den allmächtigen Gott um physische und andere Wohltaten, die der Bittsteller entweder aus Trägheit oder aus Gleichgültigkeit seinen Pflichten gegenüber nicht selbst zustandezubringen bemüht ist. Solche Gebete sind oft absolut unmoralisch, ob sie im Verborgenen oder öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, z. B. wenn jemand den allmächtigen Gott um egoistische Vorteile seinen Mitmenschen gegenüber bittet.
Doch wie sehr sehnt sich das menschliche Herz nach Mitleid, nach Sympathie, nach Schönheit und nach dem verständnisvollen Händedruck eines anderen. Und wir erkennen aus unseren Studien und unseren Intuitionen ganz klar die lebendige Realität großer geistiger Mächte im Universum, die uns ständig umgeben und unsere unendlich getreuen Verbündeten und Helfer sind, wenn wir danach streben, uns selbst geistig und intellektuell zu ihnen zu erheben. So haben wir Menschen etwas viel Schöneres und Edleres als Gebete an Gottheiten, die uns nicht hören, etwas, das unseren Herzen und Seelen unvergleichlich näher ist, etwas wunderbar Schönes, Vornehmes, Mitleidvolles, immer hörend, immer helfend: die Bruderschaft des Mitleids und der Weisheit. Diese Bruderschaft erstreckt sich von uns Menschen in einer ungebrochenen Kette aufwärts über die Chelas und die Meister und weiter zu den höchsten Höhen der ätherischen Räume. Ich weiß nicht, wie hoch die Hierarchie reicht, bestimmt so hoch wie die höchsten Gipfel unserer eigenen Galaxie. Und diese Treppe entlang steigt der Chela, der Schüler, empor, hinauf und immer weiter hinauf. Und wunderbarer Erzählung okkulter Sinn: ungeheuer schnell, am schnellsten klettert jener, dessen Hand des Mitleids nach rückwärts gestreckt ist, um denen zu helfen, die nach ihm kommen. Ist das nicht ein seltsames Wunder?
Es sind die Helfer der Menschheit, die Meister und ihre Chelas und jene über den Meistern, die uns ständig die Hilfe ihrer immer mitleidsvollen Herzen, ihre Stärke, so wunderbar sie ist, ohne Lohn zu fordern anbieten. Sie sind in ihrem Geben sehr weise, denn die Hilfe, die sie geben, ist selten bekannt. „Lasse Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte tut.“ Ich könnte einige Dinge erzählen, die die Helfer für die Menschen tun, unsichtbar, unbekannt, selbst für die Empfänger ihrer Wohltätigkeit und Fürsorge: Leben, auf vielerlei Weise gerettet, Unglücksfälle, auf vielerlei Art verhindert. Jene Unglücksfälle, die nicht verhindert werden können, weil sie vom eigenen Egoismus und Übeltun des Menschen geschaffen wurden, abgemildert, so daß ihre Stärke und Härte den Menschen weniger verletzen. Dinge wie diese werden ständig getan, und wir Menschen wissen wenig oder gar nichts darüber. Wir sehen lediglich die Ergebnisse. Darum wird diese Hierarchie des Mitleids der Schutzwall um die Menschheit genannt.
Der Selbstsüchtige und Faule, der keine Anstrengung zur Erneuerung des eigenen Lebens macht, steigt nicht die Treppe hinauf, die zur Hierarchie des Mitleids führt. Paradoxerweise geben in der Regel die am wenigsten, die das meiste erbitten. Welche Gabe ist größer als das Herz eines Menschen, als er selbst? Zeigen Sie mir etwas Edleres, etwas Geeigneteres, etwas, das schneller Ergebnisse bringt. Wissen Sie, was heute mit der Welt vorgeht? Die Menschen sind wegen ihrer eigenen Schwäche verwirrt. Sie haben nicht die Willenskraft, auch nur eine Woche oder einen Monat und noch weniger ein Jahr lang, einen einzigen Pfad zu verfolgen. Ihr Wille schläft, ihr Geist ist geschwächt mangels Übung, und sie sind von äußerer Hilfe abhängig. Der Geist in ihnen hat keine Gelegenheit, seine Flügel auszubreiten und sich emporzuschwingen.
Die Behauptung, daß Theosophen nicht an Gebete glauben, ist ein Mißverständnis der theosophischen Einstellung. Aber die meisten Gebete sind unglücklicherweise versteckte oder offene Bitten, und solche Gebete schwächen den Charakter. Wenn ich der christliche, allmächtige Gott wäre, würde ich zu dem sagen, der so betet: „Sohn, die Wahrheit ist in Deinem eigenen Herzen eingeschlossen. Du bist belehrt worden. Erhebe Dich und sei!“ Das schönste Gebet ist Streben, das in die Tat umgesetzt wird. Das ist dann der wirkliche Mann, die wirkliche Frau. Kein Theosoph hat je gegen das Gebet gesprochen, wenn es auf innerem Streben und auf dem Willen beruht, sich in geistigen Dingen zu erneuern und diese innere Haltung der Seele in positive Handlungsweisen auf der Welt umzuwandeln. Wo es dieses Gebet-in-der-Tat gibt, vollzieht sich das ganze Leben nach dem Gebet des Avatāra Jesus: „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!“