Der Wind des Geistes
Der direkte Weg zur Weisheit
Worin besteht der direkte Weg zur Weisheit? Dies ist, wie ich glaube, das wichtigste Gesprächsthema, das man heutzutage aufgreifen kann. Ist irgend jemand in der Lage, genau zu definieren, was dieser direkte Weg zur Weisheit ist, im Unterschied zu dem, wie ich ihn nennen würde, indirekten Weg?
Man könnte den indirekten Weg auch als den bezeichnen, der von außen her in unser Bewußtsein führt. Es ist der Weg der Instruktion, der übliche Weg der Kirchen und der Vortragssäle. Er kann für bestimmte Gemüter zuweilen hilfreich und anregend sein. Aber können wir wirklich sagen, daß wir auf diesem Wege oder Pfad Weisheit erlangen können?
Der direkte Weg zur Weisheit ist der Weg des inneren Lichtes, des Verstehens, der aus dem inneren Streben und der inneren Erfahrung entsteht. Er wurde zumindest in Andeutungen von jedem der großen Lehrer der menschlichen Rasse gelehrt. Mystisch gesprochen könnte man sagen, daß derjenige ihn gefunden hat, der sich mit dem eigenen inneren Gott in ihm selbst vereinigt hat, in mehr oder weniger vollkommenem Grade. Das ist der direkte Weg.
Was braucht die Welt heute? Was sind die Ursachen ihrer mannigfaltigen inneren Schwierigkeiten, ihrer Unschlüssigkeiten und ihres Verlustes an Vertrauen? Die Antwort findet man darin, daß die Menschen größtenteils innerlich leer sind. Sie sind als Masse und als einzelne relativ leere Gefäße: sie besitzen keine innere Fülle, die sie mit anderen teilen könnten, keinen inneren Reichtum des Verständnisses, durch den wir die Probleme, die die Menschheit bedrängen, begreifen und lösen könnten und auf diese Weise uns selbst und den anderen auf kluge Art helfen würden. Anstatt einig und verständnisvoll zu handeln, was sich aus solchem inneren Reichtum zwangsläufig ergäbe, sehen wir nichts anderes als Opposition, Streit, Zank und als unausbleibliche Folge davon Elend, verbunden mit drückender Armut und entsetzlicher Not. Daher meine ich, daß der innere spirituelle Reichtum, der aus der inneren Einheit des Lebens hervorgeht, der direkte Pfad zur Weisheit ist, denn alles, was das Leben lebenswert und großartig macht, ist darin enthalten.
Die meisten Menschen sind seelenlos, oder fast so. Das bedeutet nicht, daß sie keine Seelen besitzen oder daß sie „verlorene Seelen“ sind. Es bedeutet vielmehr, daß sich die innere Seele nicht durch uns nach außen manifestiert und ihre transzendenten Kräfte nicht in unserem Leben zum Ausdruck bringt. Halten Sie sich immer vor Augen, daß die spirituelle Seele in und über uns ist, und daß sie beständig versucht, unser Leben zu inspirieren und zu erfüllen, damit es reicher, kraftvoller, erfüllter und schöner wird. In diesem Sinne sind die meisten Menschen noch nicht beseelt. „Wir stoßen an jeder Straßenecke auf seelenlose Menschen“, sagte H. P. Blavatsky. Mehr als irgend etwas anderes ist es die Pflicht und das große und vornehme Bemühen und Privileg der Theosophischen Gesellschaft dabei zu helfen, daß sich denkende Männer und Frauen die Erkenntnis und die Gewißheit der Tatsache, daß sie beseelte Wesen sind und sein sollten, ins Gedächtnis zurückrufen.
Wie würde dies, setzte die Mehrzahl unserer Mitmenschen das in die Tat um, das Antlitz der Erde verändern! Alles wäre anders. Statt Unglück würde Glück einkehren. Streit würde dem Frieden Platz machen, Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme würden an die Stelle von Haßausbrüchen und Verachtungsbeweisen treten, die uns alle jetzt zur Schande gereichen. Denn die Menschen wären mit innerem Licht und innerer Stärke erfüllt. Dadurch wiederum würden sie Verständnis, gegenseitige Sympathie, Güte und instinktives brüderliches Verhalten entwickeln. Ein universales Streben nach Frieden und Wohlwollen wäre die Folge.
Die meisten der heutigen Menschen sind seelenlos und leere Gefäße, anstatt gefüllte Gefäße zu sein, erfüllt mit innerer Kraft und Licht. Anstatt sich vom inneren Geist und seinen unwiderstehlichen Befehlen leiten zu lassen, folgen sie den selbstsüchtigen Intrigen des Gehirnverstandes. Immer heißt es: „Erst komme ich, und alles andere schere sich zum Teufel.“
Zweifellos kann der indirekte Weg zur Weisheit helfen, diese Umstände zu ändern. Um jedoch der Wahrheit die Ehre zu geben, sollte man einräumen, daß er vielleicht nur für bestimmte schwache und unsichere Leute hilfreich sein kann. Er ist auf jeden Fall ein Umweg und führt im Kreis herum. Er besteht in dem Versuch, Dinge von spirituellem und intellektuellem Wert allein von außerhalb von uns zu erhalten, ohne sich darum bemüht zu haben, sie in uns selbst entstehen zu lassen. Vielleicht können wir diese äußeren Gaben sogar irgendwie horten. Es ist gut, wenn man dies kann. Trotzdem sind sie nur dünne Pilgerstäbe in unseren Händen. Die Stäbe sind nicht fest genug. Wenn jedoch das innere Leben, die innere Leere mit dem Reichtum und der heiligen Kraft der spirituellen Wirklichkeit in uns erfüllt ist, erlangen wir Weisheit und Wissen: wir wissen.
Es wird erzählt, daß H. P. Blavatsky Tränen über ihre Wangen liefen, als sie von einem Erholungsspaziergang nach ihrer morgendlichen Arbeit zurückkam und sie die Diele ihrer Wohnung gequält von innerer Verzweiflung durchschritt. Als Grund dafür gab sie später an: „Oh, diese seelenlose Masse. Ihre Gesichter sind leer, voller Vorurteile und voller Dummheit. Man kann in ihnen weder Wissen noch Weisheit erkennen. Diese Menschen hungern, sie jagen nach Wahrheit und schreien vergeblich. Sie versuchen, die schmerzliche Leere von außen her zu füllen, anstatt aus der immerwährenden Quelle der Inspiration, die in ihren Herzen strömt!“
Ich glaube, es ist unsere vordringlichste Pflicht, unser Äußerstes zu tun, diese Leere in den Menschenherzen auszufüllen, den Menschen den direkten Pfad zur Weisheit zu zeigen und ihre innere Leere mit Reichtum zu füllen, einem Reichtum an Weisheit und augenblicklicher, verstehender Sympathie. Dadurch würde ihr Leben groß, voller Stärke und Wahrhaftigkeit werden. Wir würden gerecht handeln und in all unseren Handlungen edler Vernunft den Vortritt lassen. Viel, wenn nicht alle menschliche Dummheit wäre dann verschwunden, und das Licht der Weisheit würde unsere Schritte leiten.
Was ist das Alter?
Was ist das Alter, die wissenschaftliche Begründung für das Älterwerden? Krankheit ist – wie jedermann weiß – Nichtbefolgung der Naturgesetze, der Gesetze der Gesundheit, deren Mißachtung wir alle mehr oder weniger schuldig sind. Der Tod ist einfach der Rückzug der feineren Kräfte von dieser physischen Ebene, damit das wandernde Ego in seiner egoischen Fülle zu anderen Abenteuern weiterzuziehen vermag, wenn der Ruf und die Anziehung dieser Erde zeitweilig aufgehört haben. Allein über diese beiden Punkte könnten Bücher geschrieben werden. Was also ist das Alter?
Haben Sie sich jemals über die einfache Tatsache gewundert, daß die meisten Menschen mehr oder weniger innerhalb einer gewissen Spanne von Jahren sterben? Wenn wir Krankheiten und Unfälle beiseite lassen, ist die durchschnittliche Lebenserwartung überall in der Welt so ziemlich die gleiche: wir werden nicht tausend Jahre alt, und wenn wir nicht durch Unfall oder Krankheit in die anderen Sphären fortgenommen werden, leben wir länger als zehn oder hundert Tage. Wie kommt es also, daß die Lebensspanne für den Durchschnittsmenschen ungefähr zwischen fünfzig und achtzig Jahren liegt? Lassen Sie uns hundert Jahre sagen, wenn Sie wollen. Das ist immer noch sehr kurz. Warum ist es so? Sind wir nur wie Schafe, daß wir eine Tatsache akzeptieren, weil sie so ist, und weil wir nicht darüber nachdenken und uns fragen, warum sie so ist? Warum sollte ein Wal oder eine Schildkröte nahezu 200 Jahre alt werden, wie manche sagen, und wir Menschen werden gewöhnlich schon vom Todesengel eingeholt, ehe wir einhundert Jahre alt geworden sind? Für einen Menschen ist es so selten, über diese hundert Jahre im physischen Leben hinauszukommen, daß man diese außergewöhnlichen Fälle sogar aufzeichnet, wenn manche hundertfünf oder hundertdreißig oder über hundertvierzig Jahre alt werden.
Ich will Ihnen sagen, was es ist. Es ist Gewohnheit. Die Gewohnheit, die wir in den Aktionen und Reaktionen in dem evolutionären Stadium, in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet, angenommen haben. Wir sprechen über die Planeten und wie diese die Lebensspanne des Menschen regieren. Vollkommen richtig; aber wie kommt es, daß die Planeten zulassen, daß ein Mensch eine Zeit übersteht, die man vielleicht als kritische Zeit bezeichnen könnte, und möglicherweise erst weggenommen wird, wenn er erneut eine solche Periode passiert? Er hat sie vielleicht in seinem bisherigen Leben schon viele Male passiert. Warum erfaßt es ihn zu einer bestimmten Zeit? Das sind faszinierende und interessante Tatsachen, und ich frage Sie, warum ist es so? Meine Antwort lautet: Es ist eine Gewohnheit der Natur, entsprechend unserem vergangenen Karma, entsprechend unseren Gefühlen, Gedanken und unserem vergangenen Denken. Wir haben uns selbst einen Rahmen aus psychischen und intellektuellen Gewohnheiten geschaffen, die den Todesengel veranlassen, uns mehr oder weniger innerhalb dieser kurzen Spanne zwischen einem und siebzig oder hundert Jahren abzurufen.
Wie entstand diese Gewohnheit? War diese Gewohnheit immer so? Wird sie immer so bleiben? Mit anderen Worten, lebten Vorfahren zum Beispiel vor hundertzwanzig Millionen Jahren ebenfalls nur fünfzig oder sechzig oder siebzig Jahre und starben dann? Sie taten es nicht. Sie wurden mehrere hundert Jahre alt. In allen Schriften des Altertums findet man Aufzeichnungen darüber; zum Beispiel in der jüdischen Bibel, nach der Methusalem über neunhundert Jahre alt wurde. Ich halte das zwar für eine Übertreibung, aber es ist ein Beispiel, und wir können es dabei belassen. Dann wurden die Tage der Menschen auf der Erde geringer, weil sie das Böse suchten und das Böse und seinen heißen und tödlichen Atem liebten. Da das Böse eine Zunahme an vitalem Tempo bedeutet, wird das vitale Reservoir vor seiner normalen Zeit erschöpft. Dadurch wurde die Lebensdauer der Menschen kürzer. Das ist eine zutreffende Erklärung, und wenn die Menschheit in Millionen von Jahren eine psychische Gewohnheit erwirbt, dann reagieren selbst die Atome des menschlichen Körpers auf diese Gewohnheit; sie folgen ihr. Das gilt für alle Arten von Gewohnheiten; zum Beispiel für das Aufwachen an jedem Morgen zu einer bestimmten Stunde. Man kann sich angewöhnen, zu viel zu essen oder zu hungern. Man kann alle Arten von Gewohnheiten erwerben. Jeder aufmerksame Arzt kennt die physiologischen Gewohnheiten genau, denen jeder normale menschliche Körper bei der Geburt, bei Heilprozessen und selbst bei Krankheiten unterliegt.
Das beantwortet aber immer noch nicht die Frage, wie es kommt, daß der Mensch gewöhnlich nur zwischen achtzig und hundert Jahre alt wird, was verglichen mit der endlosen Zeit so kurz ist. Nur ein kurzes Aufblitzen und vorbei! Denken Sie an die Sterne und auch an die anderen Geschöpfe der Erde. Viele sind viel langlebiger als wir Menschen. Warum sollte das gerade so sein? Dazu noch ein okkulter Gedanke, von dem Sie halten mögen, was Sie wollen, er ist trotzdem wahr. Diese Gewohnheit wurde nicht nur durch unser vergangenes Karma geschaffen, d. h. durch Dinge, die wir taten, durch die Gedanken, die wir hatten, und durch die Gefühle, die wir durchlebten, und denen wir in all unseren vergangenen Reihen von Leben folgten oder nicht folgten, sondern sie entsteht auch daraus, daß die Menschheit sich auf ihrer evolutionären Reise zu einer weit größeren Vollkommenheit, als wir sie jetzt haben, nur etwa am mittleren Punkt dieser evolutionären Reise auf der planetarischen Kette, wie sie in der Theosophie genannt wird, befindet. Mit anderen Worten, die Menschheit hat in ihrer Reihe von sieben Runden gerade etwas mehr als den zentralen Punkt, der am weitesten unten in der Materie liegt, passiert. Der Ruf des physischen Stoffes ist daher am stärksten.
Wenn man nun das Alter betrachtet, wird man verschiedene Dinge bemerken: Fälle, in denen das Alter höchst wundervoll ist. Diese Menschen verlieren nie ihre Kräfte, außer wenige Tage oder vielleicht eine Woche vor dem Tod. Ihre Kräfte bleiben intakt – nicht die körperlichen Kräfte, weil der Körper ja rasch altert. Ich meine jedoch die wirklichen Kräfte, die uns zu einem Menschen machen. Lediglich einen physisch kräftigen Körper zu besitzen ist nicht das Kennzeichen eines wahren Menschen. Manche schwerfälligen Tiere haben Körper, die weitaus kräftiger sind als der Körper des hoch intellektuellen und zivilisierten Menschen. Es sind die inneren Kräfte, die uns zu Menschen machen, und es sind diese Kräfte, die bei diesen Fällen bis in das reinste, hohe Alter erhalten bleiben, weil diese Menschen die reinsten, die in der gegenwärtigen Zeit am weitesten entwickelten Menschen sind. Es ist, als ob sie der Rasse mit tastenden Schritten vorangehen – wegen dieser Reinheit des evolutionären Standes selbst in der heutigen Zeit – in die Zukunft und in ihre größere Herrlichkeit und dieses evolutionäre Vorausschreiten beibehalten, sozusagen als Vorläufer der rassischen Gewohnheit, bis der Tod sie ereilt.
Wir befinden uns gegenwärtig in der sogenannten vierten Runde, gerade etwa an ihrem zentralen und niedrigsten Punkt. Wenn wir die fünfte Runde erreicht haben, wird der Tod nicht mehr so schnell eintreten. Die menschliche Lebensspanne wird dann weitaus länger sein als nur die dreimal zwanzig und zehn Jahre, die uns die hebräische Bibel als normale menschliche Lebensspanne gibt. Wenn wir die sechste Runde erreicht haben werden, wird die Lebensspanne noch länger sein. Wenn wir die siebte und letzte Runde dieser planetarischen Verkörperung erreicht haben werden, wird die Lebensspanne am längsten sein. Es wird kein Greisenalter mehr geben. Es wird für diese besondere Planetenkette keine Zukunft mehr geben, keinen besten Menschen sozusagen, der der Norm etwas voraus ist, denn alle Menschen werden ihre Fähigkeiten bewahren, bis der Tod eintritt. Während dieser siebten Runde wird die Menschheit im Verhältnis zu uns zu einer Rasse von Buddhas und Christussen geworden sein. Der Tod, der zuletzt zu überwindende Feind, wie das christliche System ihn nennt, wird dann überwunden sein. Krankheit wird nicht mehr existieren, denn die Menschen werden nach einer Gewohnheit leben, die absolut mit den Naturgesetzen übereinstimmt. Was wir Tod nennen, wird einfach ein Einschlafen sein, um in höheren Reichen zu erwachen. Ich meine genau dies – kein Kampf wie gegenwärtig, weder ein sanfter noch ein heftiger Kampf, sondern einfach ein Einschlafen.
Sie sehen, wir schauen Millionen und aber Millionen Jahre voraus, in eine Zeit, in der das menschliche Leben wieder einige hundert Jahre dauern wird, in der seine Gesundheit eine relative Perfektion erreicht haben wird, weil alle Naturgesetze von der Menschheit automatisch befolgt werden. Der Tod wird dann, wenn er kommt, gleich einem sanften Schlaf eintreten, worauf die Entlassung in die inneren Welten erfolgt. In jener Zeit können die Menschen willentlich aus ihrem Körper heraustreten, wenn sie müde sind, ihn hinter sich lassen und willentlich einen neuen Körper annehmen oder in andere Sphären gehen, denn wir werden dann den Tod überwunden haben. Es wird keinen Tod mehr geben, so wie wir ihn verstehen. Das bringt uns die Evolution in der Zukunft – ein wundervolles Bild! Dann werden die Menschen – anstatt sehr alt zu sein – im vollsten Besitz ihrer Fähigkeiten bleiben, nicht nur im Besitz der physischen Kräfte, wie wir sie jetzt so um die fünfundvierzig haben, sondern ihr Intellekt, die Spiritualität, die Einsicht und der Verstand werden auf höchster Stufe stehen. Das kommt sogar heute gelegentlich bei den besten Menschen der menschlichen Rasse vor, die ihren sich entwickelnden Brüdern, die hinter ihnen einhergehen, ein kleines Stück voraus sind. Sie erfassen intuitiv, sie haben Intuitionen, gewissermaßen wie ein Kind, das unsichere Schritte auf etwas noch Unbekanntes zu macht. Die Natur drängt sie vorwärts, so daß ihre Altersperiode derjenigen gleicht, wie sie in der Zukunft für alle Menschen sein wird. Visionen der Zukunft werfen ihre Schatten zu uns hierher zurück.
In der heutigen Zeit gehen wir aufgrund unserer Vergangenheit so auf das Alter zu, wie wir es tun; aber in jenen noch weit entfernten Äonen, so können wir sagen, wird der Mensch mit zunehmendem Alter noch stärker und kraftvoller in allen Dingen, sogar sein Körper. Aber so weit sind wir noch nicht! Das Alter ist bei uns sozusagen eine Kopie im Kleinen von allem, was die Menschenrasse bis jetzt erreicht hat. Es wurde zu einer rassischen Gewohnheit.
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen: Bloßes physisches Alter ist keinesfalls etwas Wünschenswertes. Wenn man bedenkt, was das hohe Alter für so viele Millionen Menschen bedeutet, ist es bedauernswert – Verlust der intellektuellen Kräfte, Verlust der Spiritualität, Verlust natürlich auch der physischen Kräfte; Verlust der seelischen Einsichten und großenteils Verlust des Verstandes. Trotzdem leben sie weiter, weil die physische Vitalität so stark ist. Wer möchte das? Aber das ideale Alter, nach dem wir sogar jetzt schon streben und das wir entsprechend unserer Anstrengung gewinnen können, beinhaltet, daß wir den Tod, wenn er kommt, mit Freude empfangen, denn er ist der Beginn eines wunderbaren Abenteuers. Bis diese Zeit jedoch herankommt, gilt es von der Geburt an bis zum Zeitpunkt des Todeseintritts so zu leben und so zu denken und so zu fühlen und so zu streben, daß der Geist, während der Körper mit dem Eintritt des Alters unausweichlich immer schwächer wird, unbeeinträchtigt bleibt, die Spiritualität zunimmt und zur Verherrlichung der Jahre führt, die so unangemessen als Abstiegsjahre bezeichnet werden. Das Ideal hohen Alters ist ein Mensch, der an innerer Kraft, an innerer Vision, an Gedankenkraft, an Intellekt, an Spiritualität zunimmt – so daß er bis wenige Stunden vor seinem Tode mit jedem fortschreitenden Tag ein größerer Mensch ist als am Tag vorher oder ein Jahr vorher. Das ist kein unmögliches Ideal. Wenn man richtig lebt, ist das der Lohn.
Es gibt jedoch im Leben vieler Menschen karmische Dinge, die Krankheiten bringen; Krankheiten, die auf weit vergangene Leben zurückgeführt werden können. Deshalb sollten wir in diesen Dingen weise sein und uns an die schöne alte Regel erinnern: Richte deinen Bruder nicht, auf daß Du nicht gerichtet werdest. Man weiß nie, ob dieser Bruder vielleicht eine schreckliche Vergeltung in diesem Leben durchmacht für eine Missetat, die vielleicht zehn Leben zurückliegen mag und die wie ein Same des Unheils verborgen lag und sich nun entfaltet. Richte ihn nicht, er mag Dir weit voraus sein – sobald dieses Leben zu Ende ist, und er einen neuen Körper und ein neues Karma hat, kann dieses weitaus besser sein als alles, was Du erwarten könntest.
Wir haben noch viele Gebirge der Erfahrung zu erklimmen. Aber welche Freude liegt in all diesen wunderbaren Abenteuern. Blicken Sie auf die zukünftigen Verkörperungen in allen Arten von Rassen und allen möglichen Ländern, von denen sich einige aus der Oberfläche des Wassers erheben, wenn unsere jetzigen dann versunken oder untergegangen sein werden: neue Länder, neue Sprachen, neue Erfahrungen, neue Abenteuer, wobei wir immer vorwärts- und aufwärtsgehen und immer besser werden.
Aber hier ist ein Trost für die gegenwärtigen Zustände: daß die Rasse als Ganzes den zentralen Punkt passiert hat. Von jetzt an wird es nicht länger abwärts in die Materie gehen. Die Menschheit wird vielmehr langsam aufwärts klettern bis zum Ende der Zeit dieser Erde. Den Tod wird es nicht mehr geben. Die evolutionäre Gewohnheit, welcher die menschliche Rasse gegenwärtig unterliegt und die die Lebensspanne auf diese lächerliche geringe Zahl von Jahren begrenzt, wird sich geändert haben. Der Tod wird verschwunden sein. Die Geburt wird auf andere Weise zustandekommen. Der menschliche Genius wird sich mit den Göttern unterhalten. Inspiration wird das allgemeine Erbe aller Menschen sein. Es wird keine Armut, keinen Kummer, kein Leid mehr geben; denn die Sonne der Wahrheit wird in den Menschenherzen aufgegangen sein und Heilung in ihren Schwingen tragen!
Errette Dich selbst
Dies ist die Lehre der großen Weisen und Seher aller Zeiten: errette Dich selbst! Übe die Kräfte in Dir, mit denen Du ausgestattet bist. Bedeutet die Tatsache, daß die Menschen verwirrt und oft von Gewissensfragen geplagt werden, daß wir ohne Führung gelassen wurden? Sehen Sie nicht, daß uns die Natur vielmehr eben dadurch dazu auffordert, die latent in uns liegenden Kräfte auszuüben? Durch die Ausübung von Urteil und Unterscheidungskraft werden Urteil und Unterscheidungskraft gestärkt. Wenn wir unsere eigenen göttlichen Rechte spiritueller und intellektueller Urteilskraft nicht ausüben, werden wir schwächer und schwächer. Nur durch diese Übung entwickeln wir uns und bringen wir die gottgleichen Kräfte in uns immer mehr hervor.
Schauen Sie auf die großen, hervorragenden Vorbilder menschlicher Spiritualität und Genialität, auf denen sich die Annalen der menschlichen Geschichte aufbauen. Sie sind in der Tat herrlich. Sie geben uns Mut und zeigen uns, daß auch wir das, was andere erreicht haben, erreichen können. Sie sind Wegweiser entlang jenes mystischen Pfades, der zu den Höhen des Geistes führt. Wir selbst aber sind es, die diesen Pfad gehen müssen, und wir selbst müssen unsere eigenen Entscheidungen fällen und an ihnen festhalten. Gerade darin liegt ihre große Schönheit.
Was Ihr säet, werdet Ihr ernten. Nichts anderes als das, was Ihr gesät habt. Denken Sie darüber nach, was das bedeutet. Wenn die Menschen davon überzeugt sein werden, wird ihr Urteilsvermögen erweitert sein; dann werden sie keine voreiligen Entscheidungen mehr treffen. Sie werden sich nicht einfach auf andere verlassen und damit ihr eigenes Urteilsvermögen schwächen, weil sie es nicht benutzt haben. Sie werden die großartigen Beispiele der menschlichen Geschichte als Ermutigung annehmen. „Was er als ein Sohn der Menschen getan hat, das kann auch ich tun, indem ich die gleichen Kräfte in mir anwende, die jene große Gestalt der menschlichen Geschichte angewandt hat.“ Ihr Leben ist ein immerwährendes Beispiel für uns. Aber wir selbst sind es, die wachsen müssen und durch die Anwendung unserer Kräfte wachsen wir. Mit jeder Ausübung wird die Unterscheidungskraft schärfer, das Urteil sicherer und das Licht heller. Wenn die Prüfung dann kommt, wissen wir, welchen Weg wir einschlagen müssen.
Der Prüfstein der Wahrheit
Wie kann man etwas über die Zustände nach dem Tode wissen? Zu oft verbirgt sich hinter einer solchen Frage die Annahme, daß es ein Wissen über Dinge, die nicht sichtbar sind, nicht geben kann – nicht sichtbar, nicht erreichbar. Warum nur hat sich das menschliche Denken so unglücklich gerade an diese Torheit geheftet? Wenn Sie die Geschichte der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft studieren, werden Sie entdecken, daß einer der traurigsten Züge des menschlichen Wesens die häufige Neigung ist, Tatsachen nicht anzuerkennen. Bedenken Sie folgendes: Die Dinge, die man berühren und sehen kann, sind genau die Dinge, die am meisten in die Irre führen. Denn erstens muß man sich mit den Unvollkommenheiten seiner Sinne abfinden – Fühlen, Sehen, Hören und so weiter – und dann folgt diesen unvollkommenen Wahrnehmungsorganen des Verstandes der Verstand selbst, der auch kein perfektes Urteilsinstrument ist, wenn er Schlüsse ziehen muß.
Aber es gibt etwas im menschlichen Wesen, das aus erster Hand erkennt. Nennen Sie es Geist, nennen Sie es Intuition, bezeichnen Sie es, wie Sie wollen. Die Tatsache bleibt, daß das einzige Wissen, dem Sie jemals trauen können, nicht in dem liegt, was Sie fühlen und sehen können, sondern in dem, was von innen zu Ihnen kommt. Darüber hinaus wissen Sie nichts. Über andere Dinge haben Sie Vorstellungen, oder Sie legen die Vorstellungen anderer Menschen aus.
Erkennen Sie, daß praktisch jede große Erfindung, die je inner- oder außerhalb der Wissenschaft auf jedem Gebiet menschlicher Anstrengung gemacht wurde, von einem Menschen stammt, der auf diese Weise inspiriert wurde? Und wenn er dieses wunderbare Geschenk der Menschheit übergibt, wird die Menschheit erhoben. Jedes Geschenk solcherart wurde von dem inneren Genius des Menschen hervorgebracht. Jede große Erfindung war zuerst ein Blitz der Inspiration; zuerst kam die Idee und dann kommen vielleicht Jahre der Arbeit, um sie herauszuarbeiten und andere von ihr zu überzeugen.
Durch diese innere Kraft können Sie die Wahrheit erkennen. Wenn Sie aber diese Kraft in sich finden wollen, dann stehen Sie in der Tat vor einer Menge harter Arbeit.
An jene, die trauern
Die wunderbare Botschaft, die die Theosophie jenen geben kann, die trauern und sich grämen, bezieht sich nicht allein auf den Tod. Sie wendet sich auch nicht nur an die Hinterbliebenen von Verstorbenen. Sie gilt in gleichem Maße jenen, die mit dem Tod noch nicht in Berührung gekommen sind, allen, die auf dieser Erde leben müssen, wo mehr Gram, Verzweiflung und geistige Müdigkeit existieren als Glück und wirklicher Friede. Ich zweifle daran, ob ein weichherziger Mensch in einer Welt wie der unseren wirklich glücklich sein kann, wenn wir die entsetzlichen Beweise der Unmenschlichkeit sehen, die uns überall umgeben und die von Menschen an ihren Mitbrüdern begangen werden. Wie können wir uns in unsere unanfechtbaren Bastionen des Geistes und des Herzens in unseren Lebensbereichen zurückziehen, wenn wir sehen, was rund um uns herum passiert, nicht nur innerhalb der Menschheit, sondern ebenso unter den hilflosen Tieren: nur Leid, Schmerz und Kummer. An allen Ecken und Enden erhebt sich der Hilfeschrei dieser Märtyrer zum Himmel!
Wir sprechen über die Trauernden und beschränken uns dabei auf uns selbst, jeder einzelne von uns. Warum? Schätzen wir nicht die gütige Hand, die sich in Mitleid und Verständnis den anderen entgegenstreckt, die in Einsamkeit leiden? Der Tod an sich ist nichts, über das man sich grämen müßte. Wir sind ihm auf dieser Erde tausendmal begegnet. Wir kennen ihn gut. Er ist für uns eine alte Erfahrung und nun sind wir wieder hier. Aber wir fühlen mit jenen, die während ihres Lebens trauern: trauern um den Verlust eines geliebten Angehörigen; trauern um entschwundenes Glück. Vielleicht haben sie sogar Schwierigkeiten, das tägliche Brot für den Lebensunterhalt jener zu besorgen, die sie lieben. Dann sind da die anderen, die trauern, weil sie es schwer haben, eine ihnen entsprechende Arbeit zu finden, die es ihnen ermöglicht, ihre hungrigen Kinder zu ernähren. Oder die, die trauern, weil sie eine Freundschaft, eine Liebe, eine Hoffnung verloren haben oder vielleicht das Entsetzlichste von allem: weil sie das Vertrauen in ihre Mitmenschen verloren haben.
Jeder Mensch weiß, was es heißt, um etwas zu trauern, es sei denn, er wäre herzlos. Jemand, der nicht trauert und nicht trauern kann, ist meiner Meinung nach unmenschlich. So großartig und wundervoll ist die Natur beschaffen, daß wir gerade aufgrund dieser göttlichen Eigenschaft, trauern zu können, fähig sind, für andere Mitgefühl zu empfinden und ein verständnisvolles Herz für die Trauernden zu haben. Und welch seltsame Magie des menschlichen Geistes ist es, daß Trauer, Gram und Leid unsere weisesten Freunde sind. Wie sie unsere Herzen bereichern! Welch unvergleichlicher Schatz ist die Erweiterung des Bewußtseins, die erfolgt, wenn Trauer ihre oft brennende, aber stets heilende Hand auf unsere Herzen legt. Wir bringen ein Opfer; aber in diesem Opfer liegt Läuterung, es ist das Erwachen zu einem größeren Leben. Durch Gram, durch Trauer und durch das als Folge davon hervorquellende Erbarmen und Mitleid lernen wir wahrhaft zu leben. Selbst kleine Kinder wissen, was Leid ist. Welch wundervolle Erfahrung ist es für sie, wenn sie das größte, was das Leben zu bieten vermag, kennenlernen: zu lernen und dadurch bereichert zu werden, dadurch größer gemacht zu werden.
Wie erbärmlich ist ein Mensch, der nicht mit anderen fühlen kann. Er ist gänzlich im winzigen Gefängnis seines kleinen Selbst eingeschlossen. Wo in ihm ist Größe? Selbst wenn Sie danach suchen, können Sie keine finden. Der Mensch jedoch, der gelitten hat, fühlt mit der ganzen Welt. Jedes Wehklagen der Trauer fällt auf sein Herz wie eine heiße Träne, und er gewinnt dadurch an Größe. Die Natur arbeitet hier in einer magischen Weise, denn in diesem Prozeß ruht knospenhaft eine vielversprechende Hoffnung, eine von Sternenlicht erfüllte Inspiration, die aus dem erweiterten Bewußtsein entsteht.
Seliger Friede, unbeschreibliche Freude und alles Glück, das ein menschliches Herz und ein menschliches Bewußtsein ertragen können, sind das spirituelle Erbe jener, deren Herzen durch Leid geläutert wurden. Diejenigen, die niemals gelitten haben, sind hartherzig und unreif in ihrem beschränkten Bewußtsein. Wer als Mensch niemals gelitten hat, weiß nicht, was innerer Friede ist. Er hat ihn niemals erfahren. Wer nie Trübsal kennengelernt hat, kennt weder ihr Nachlassen noch die Seligkeit, die uns erfüllt, wenn sich die Ruhe auf uns legt.
Es sind die Trauernden – sie bilden eigentlich die gesamte menschliche Rasse – denen Theosophie ihre erhabene Lehre der Hoffnung und des Friedens vermittelt, denn sie lehrt uns, zu verstehen. Es gibt ein französisches Sprichwort, das besagt: Tout comprendre c’est tout pardonner, das heißt übersetzt: Alles verstehen heißt alles vergeben.
Ist es nicht klar, daß innere Größe aus einer Erweiterung kommt, und daß eine Erweiterung unseres Bewußtseins, unseres Verständnisses und unseres Herzens aus Leid entsteht? Auch Freude kann uns ein Lächeln auf die Lippen und einen Glanz von Glücklichsein in die Augen zaubern. Aber stimmt es nicht, daß sich sämtliche alltäglichen Lebensfreuden in unserem Mund zu Asche verwandeln? Stimmt es nicht ebenso, daß diese Lebensfreuden uns allzuoft selbstsüchtig werden lassen? Wir haschen nach den Freuden und erschrecken, wenn sie uns verlassen. Oft machen sie uns engherzig. Aber Mitgefühl und durch Leid erwachsene Sympathie lassen alle Welt gütig sein. Ein Mensch, der in seinem Leben nur Freude erlebt, hat vielleicht keine Bedenken, einem Mitmenschen Kummer zu bereiten. Er ist noch nicht erwacht und kann nicht begreifen. Er ist verwirrt und unwissend. Aber Menschen, die gelitten haben, die Trauer empfunden haben, sind in ihrer Güte und in ihrem Verständnis groß, denn sie verstehen und begreifen. Ihr Bewußtsein ist erweitert, und sie sind großherzig. Die höchste Verfeinerung davon ist, daß sie im buchstäblichen Sinne verklärt werden. Sie werden glorifiziert und den Gottmenschen auf Erden ähnlich.
Unsere segensreiche Botschaft an die Trauernden ist deshalb: Fürchtet die strahlende und heilige Flamme nicht. Sie wird Euch zu wahren Männern und Frauen machen, zu mehr als nur männlichen oder weiblichen Wesen. Was ist das große und hervorragende, charakteristische Merkmal der Gottmenschen, die von Zeit zu Zeit unter uns lebten? Es ist ihr verstehendes Herz, das sie befähigte, zu der Frau, die sich in Schwierigkeiten befindet, zu sprechen und ihr zu helfen; zu dem unwissenden Mann und ihm Beistand und Frieden zu geben; zu den kleinen Kindern und ihnen Verständnis zu bringen. Denn das einfache Herz des großen Mannes spricht zu dem einfachen, direkten Herzen des Kindes, bevor es noch verdorben wird, zugrunde gerichtet von der Falschheit, die es nur allzuoft lernt, wenn es heranwächst, und die es wieder verlernen muß, um ein wahrer Mann, eine wahre Frau zu sein.
Zu denen, die trauern, kommt die frohe Botschaft: Möge die heilige Flamme wie ein besuchender Gott in Ihre Herzen einkehren. Begegnen Sie ihm freundlich. Heißen Sie ihn willkommen. Empfangen Sie ihn wie einen Gast. Und jener leidgeprüfte Gast wird Sie der Trauergewänder entledigen. Sie werden erkennen, daß Sie unvermutet einem Gott gegenüberstehen. Und dieser Gott sind Sie selbst. Sie haben zu sich selbst gefunden.
Die Hingabe des Selbst
Keine Freiheit ist so groß, kein Glück so gewaltig und so weitreichend wie die Hingabe des Selbst im Dienen. Der Held ist es, der sich selbst gibt. Wenn er sich nicht völlig hingeben würde, läge kein Heroismus darin. Die Hingabe ist das Heroische.
So ist es auch mit der Liebe. Wo sie in Frage gestellt wird – nicht Unsicherheit, denn Unsicherheit ist in diesen Dingen immer sehr natürlich; man möchte sicher sein – wo die damit verbundenen Werte bezweifelt werden, wo selbstsüchtig nach dem gesucht wird, ‘was ich will’, da gibt es keinen Heroismus, keine Liebe, keine Selbsthingabe. Es gibt in einem solchen Falle nicht den Hauch eines Schattens einer Chance für die gottgleiche, heroische Eigenschaft der Selbstverleugnung.
Wenn das Jahr anfängt, wenn es beginnt, lasse ich immer dieses eine Mantram in meinem Herzen und in meinen Gedanken erklingen: Ein neues Jahr beginnt. Kann ich mich in diesem Jahr etwas mehr hingeben als im letzten Jahr? Ich bedaure aus tiefer Seele jeden Menschen, der nicht die außerordentliche Freude der Hingabe des Selbst kennengelernt hat. Es gibt nichts auf der Erde, was dem an Schönheit, an Größe, an Erhabenheit und Frieden und Reichtum gleicht, die sie für Herz und Verstand bringt.
Warum nicht über sich selbst lachen?
Viele Menschen sprechen über die heroische Tat der Selbstüberwindung – eine Sache, der wir alle zustimmen. Aber ich frage mich manches Mal, ob unsere Vorstellung vom heldenhaften Kampf mit uns selbst nicht etwas hysterisch, ja sogar töricht ist! Dabei meine ich nicht das Heroische, sondern unser niederes Ich, das arme kleine Ding! Es spielt die ganze Zeit verrückt mit uns, nur weil wir uns selbst mit ihm identifizieren und immer versuchen, es zu bekämpfen und es ebenso groß zu machen, wie wir sind. Ist es heroisch, gegen ein selbstgeschaffenes Gespenst zu kämpfen?
Was sagte doch der weise, alte Lao-tse? Wenn Du dein niederes Ich überwinden willst, lasse es beschämt sein über sich, lasse es lächerlich erscheinen. Lache es aus; lache über Dich selbst. Solange Du etwas beachtest, hebst Du es hervor und stellst es auf Dein eigenes Niveau, und wenn Du es dann zu bekämpfen versuchst, bekämpfst Du in Wirklichkeit einen anderen Teil Deiner selbst, der wirklich äußerst nützlich sein könnte.
Ich hörte jemanden sagen: Töte das niedere Selbst. Nehmen Sie einmal an, wir könnten dies tun. Wir wären dann die unglücklichsten Wesen. Ja, wir wären dann überhaupt nicht vorhanden. Das niedere Selbst ist, wenn es im Zaum gehalten wird, ein gutmütiges, kleines Tier. Es hilft uns. Unsere Pflicht besteht nur darin, es im Zaum zu halten. Wenn jemand einen launischen Hund oder ein störrisches Pferd oder ein anderes Haustier besitzt, was es auch immer sei, dann tritt er es nicht oder versetzt ihm Hiebe oder schlägt es auf den Kopf, um es gutmütig zu machen. Er würde es dadurch eher rebellisch, feige und hinterhältig machen. Er würde es erniedrigen. Daher sollte das niedere Selbst nie erniedrigt oder mit der falschen Würde eines Gegners ausgestattet werden, der irrtümlich in den Rang des höheren Selbst erhoben wird. Es sollte an seinem Platz gehalten werden und mit Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Höflichkeit behandelt werden, jedoch immer mit einer festen und führenden Hand. Wenn aber das niedere Selbst anmaßend wird, dann stellen Sie es an seinen ihm zustehenden Platz, aber nicht durch Brutalität oder durch Bevorzugung noch durch Bekämpfung. Verspotten Sie Ihr niederes Selbst, und Sie werden bald sehen, wie das niedere Selbst wieder seinen ihm zustehenden Platz einnimmt, weil es sich eine Zeitlang schämt und an Ansehen verloren hat – ‘es hat sein Gesicht verloren’, wie die Chinesen sagen.
Genauso ist es bei einem Hund. Haben Sie nicht schon erlebt, wie ein Hund seinen Schwanz zwischen die Beine einzieht, wenn man ihn auslacht? Die Hunde wissen es, wenn man sie auslacht, und es ist eine der besten Möglichkeiten, mit einem Tier umzugehen.
Ich glaube, daß Lao-tse aus China eine sehr weise Feststellung traf; er sagte: eine der besten Möglichkeiten, einen Feind zu überwinden, besteht darin, ihn lächerlich erscheinen zu lassen.
Nun, das schickt sich natürlich nicht zwischen Mensch und Mensch, weil es sehr oft hart und grausam ist. Beide stehen auf gleicher Stufe. Man kann einen Menschen schrecklich und ungerecht verletzen, wenn man ihn in eine falsche Lage bringt, indem man ihn lächerlich macht. Unmöglich! Aber versuchen Sie es bei sich selbst. Das nächste Mal, wenn das niedere Selbst Ihnen sagen will, was Sie tun sollen, dann lachen Sie darüber. Schenken Sie ihm keine Beachtung, geben Sie ihm nicht Rang, Kraft oder Stärke, indem Sie es bekämpfen. Beleidigen Sie es andererseits auch nicht und machen Sie es nicht schwach und hinterhältig und feige. Stellen Sie es an den richtigen Platz durch Spott und manchmal auch durch eine freundliche Geringschätzung. Lernen Sie den größeren Heroismus. Lachen Sie über die Sache, die Sie stört.
Die Rolle, die ein Sinn für Humor im menschlichen Leben spielt, das heißt, im menschlichen Denken und Fühlen und folglich auch im Verhalten, und die Rolle, die der Humor in spirituellen Dingen spielt, wird allzuoft übersehen. Wir mögen den Sinn für Humor definieren als ein Erkennen der harmonischen Beziehungen zwischen scheinbar nicht übereinstimmenden Dingen, zwischen den Übereinstimmungen und den Nichtübereinstimmungen, die den Sinn für das Komische in uns wecken.
Die Fähigkeit, Humor in dem zu erkennen, was uns widerfährt, ist eine spirituelle Eigenschaft, denn letzten Endes ist Humor ein Urbestandteil des Universums. Ich glaube, eine der größten Tragödien im persönlichen Dasein ist die Unfähigkeit, die komische Seite der Dinge zu sehen, wenn Schwierigkeiten auftreten. Wenn uns Unglück zustößt, sollten wir versuchen, das Komische daran zu sehen; damit ersparen wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur eine Menge Kummer, sondern gewinnen daraus auch noch großen Spaß.
Ich erinnere mich an den großen Spaß, den ich in meiner Kindheit bei einer Diskussion mit meinem lieben alten Vater hatte. Mein Vater hatte in einer theologischen Zeitschrift einen Artikel von einem bedeutenden christlichen Geistlichen gelesen, der dafür plädierte, daß der „allmächtige Gott“ einen Sinn für Humor habe. Ich sagte, das sei einfach großartig. Unser Sinn für Humor ist zwar menschlich und gering, weil wir gering sind, aber ist es möglich, daß der Mensch als Teil etwas besitzen kann, was das allmächtige Ganze, das Göttliche, nicht besitzt? Wenn das Göttliche einen Sinn für Humor hat, sagte ich, dann muß es natürlich ein Sinn für göttlichen Humor sein; aber es ist trotzdem Humor.
Es steckt sehr viel vernünftige Wissenschaft und Philosophie in der alten hinduistischen Idee, daß Brahma(n) das Universum im Spiel, in der Freude hervorgebracht hat. Die Worte unterscheiden sich von jenen des christlichen Geistlichen, aber die Idee ist die gleiche. Mit anderen Worten, die Hervorbringung aller Dinge war keine Tragödie, es lag Schönheit darin; es lag Harmonie darin; es steckte Humor darin; und wer in diesem Universum lebt, kann den Humor darin erkennen, wenn er will.
Betrachten Sie die Religionskriege und die religiösen Streitereien, die nie stattgefunden hätten, wenn die Menschen einen Sinn für Humor gehabt hätten. Wenn heutzutage die Menschen die humorvolle Seite der Dinge sehen würden, dann würden sie anfangen, miteinander zu leben, einander zu lieben, miteinander zu lachen und gegenseitigen Rat anzunehmen, anstatt einander zu mißtrauen.
Der Schutzengel
Ich bitte um Ihre ehrerbietige Aufmerksamkeit für eine tiefe und schöne Tatsache der Natur. Für mich ist dieser Gedanke einer der schönsten der theosophischen Lehren. Nämlich, daß die „Engel“ oder die „Schutzengel“, wie die Christen sagen, uns behüten. Diese wunderbare Lehre, die für Menschen in Zeiten der Not und Trübsal soviel Trost und Hilfe bedeutet, wird jedoch von den heutigen Christen nicht mehr verstanden, weil ihnen der ursprüngliche Sinn verlorengegangen ist. Sie scheinen anzunehmen, daß es ein Engel außerhalb von uns ist, den der allmächtige Gott beauftragt hat, für das Kind eine Art schützender Elternteil zu sein. Manche Christen nehmen wohl auch an, der Schutzengel trenne sich wieder von dem Kind, nachdem es erwachsen wurde. Diese Lehre von beschützenden und leitenden spirituellen Einflüssen in der Welt ist eine sehr alte Lehre der Weisheitsreligion. Sie wurde in Persien, Indien, Ägypten, bei den Druiden, ja, soweit mir bekannt ist, tatsächlich überall gelehrt.
Sie besagt einfach: In und über dem Menschen ist etwas Geistiges oder eine Macht, die ihn führt und die sein Herz und seinen Geist mit Hoffnung, Trost, Frieden und Rechtschaffenheit erfüllt. Wer aufnahmebereit ist und es einläßt, der wird den inneren Weisungen folgen und offen danach handeln. Die Gegenwart des Schutzengels wird ihm mehr oder weniger bewußt sein. Er wird ihn als Helfer ansehen, der Tag und Nacht bei ihm ist, der niemals versagt, der ihn immer leitet und lehrt, sich selbst zu schützen. Geist und Herz müssen jedoch empfangsbereit sein, andernfalls kann das Gehirn die Führung und Inspiration nicht wahrnehmen.
Was ist dieser Schutzengel? Man kann ihn einen Dhyāni-Chohan nennen. Unsere eigene, spezielle Fachbezeichnung für ihn ist das Sanskritwort Chitkāra: „Gedankenwirker“. Sie erinnern sich, daß von dem großen griechischen Philosophen Sokrates berichtet wurde, er sei von seinem inneren Daimon, seinem ständigen Begleiter, geführt worden, der ihm – seltsam genug – nie sagte, was er tun sollte, ihn aber stets davor warnte, was er nicht tun sollte. Es wurde berichtet, daß er oft, wenn er sich über den einzuschlagenden Weg nicht sicher war, beiseite ging, die Augen schloß, sich ganz ruhig verhielt und versuchte, seinen Geist von allem bruchstückhaften Gerede und von der Unruhe und Rastlosigkeit fahriger Gedanken zu befreien – mit anderen Worten, das Denkorgan leer und klar zu machen, damit der innere Schutzengel in das materielle Gehirn eindringen konnte. Das war in diesem Falle der Schutzengel.
Nun, was ist dieser Schutzengel? Befindet er sich außerhalb des Menschen? Er ist ein Teil des Geistes im Menschen, er gehört seiner Pneumatologie an; er ist nicht der menschliche Teil, sondern ein Teil seines spirituellen Wesens. Man kann ihn das Höhere Selbst nennen, aber ich bezeichne ihn lieber als das Spirituelle Selbst, weil der Ausdruck „Höheres Selbst“ eine bestimmte enger begrenzte Bedeutung in der Theosophie hat. Die innerste Wesenheit des Menschen, der Schutzengel, das Spirituelle Selbst, ist daher im Vergleich zu dem Menschen aus Fleisch und Blut, dem Gehirnmenschen, wie ein Gott. Verglichen mit seinem menschlichen Wissen, ist sie allwissend; verglichen mit seiner menschlichen Vision, hat sie die Vision der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die alle drei in Wirklichkeit nur ein ewiges JETZT in der ewigen Gegenwart sind.
Dieser Schutzengel wird stets und unaufhörlich danach streben und trachten, sein eigenwilliges irrendes Kind – den irdischen Menschen – zu leiten. Wenn Sie Ihren Verstand diesem inneren Lehrer öffnen und seinen Weisungen folgen, dann wird Ihr Leben sicher, glücklich und erfolgreich sein. Natürlich müssen wir durch alles hindurch, was Karma uns bringt, d. h. durch alles, was wir in der Vergangenheit geschaffen haben; dies muß sich auswirken. Wenn man seinen Finger in das Feuer hält, wird er verbrannt. Wenn man mit seinem Fuß in eine Maschine gerät, wird er gequetscht. Aber der innere Krieger, der Schutzengel, wird uns, wenn wir ihn erst einmal zum Gefährten gewonnen haben, mit der Zeit daran hindern, den Finger ins Feuer zu halten oder den Fuß dorthin zu setzen, wo er zerquetscht werden kann. Soweit es mich betrifft, ist mein Leben dadurch sechsmal gerettet worden. Ich muß mich nur tadeln, daß ich nicht eher, nicht schon als jüngerer Mensch, den Versuch unternommen habe, diesen wunderbaren Lehrer, diesen göttlichen Funken, dieses Spirituelle Selbst in mir, das wirklich aus dem Stoff der Göttlichkeit geschaffen ist, noch klarer zu erkennen und mir selbst noch bewußter zu machen. Im Vergleich zu mir, ist mein Beschützer ein Engel, ein Gott.
Der einzige Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Menschen einerseits und dem Christus- und dem Buddhamenschen andererseits ist der, daß es uns gewöhnlichen Menschen noch nicht gelungen ist, mit dem Schutzengel in uns vollkommen eins zu werden, wie es die Buddhas und die Christusse geworden sind. Buddha oder Christus ist einer, der sich, sein ganzes Wesen, sein Herz, dem Eintritt des innwendigen Schutzengels so öffnete, daß dieser sich tatsächlich in ihm verkörpert hat, so daß der niedere Mensch kaum noch vorhanden ist. Es ist dann der Schutzengel, der mit den Lippen des Fleisches spricht, er ist der Bodhisattva, der innere Christus.
Dieses sind einige der vergessenen Werte im menschlichen Leben, und ich kenne keine größeren Werte als diese beiden: erstens, wir sind eins mit dem Universum, eins mit der Göttlichkeit, untrennbar von ihr. Damit wird es ziemlich unwichtig, was einem widerfährt. Was auch kommen mag, es ist ein Teil des universalen Schicksals. Mut und Hoffnung und Frieden werden uns erfüllen. Der andere vergessene Wert ist der vorhin erwähnte Chitkāra. Lassen Sie diesen Schutzengel in Ihnen lebendig werden und durch Sie sprechen, und das so bald wie möglich. Ich sage das, was ich weiß, nicht nur um vor Not und Gefahr zu bewahren, sondern auch vor Unheil aller Art. Er bringt Frieden und Trost, Glück und Weisheit und Liebe, denn diese sind seine Wesensart. Dieser Dinge bedarf die arme Menschheit heute ganz besonders, denn die meisten Menschen haben den Eindruck, daß all die Not in der Welt ganz zufällig entstanden ist, und daß es keinen Ausweg gibt, außer durch einen glücklichen Zufallstreffer. Das ist natürlich barer Unsinn. Diese Welt ist eine Welt von Gesetz und Ordnung, und wenn wir die Regeln dieser Gesetze und Ordnung brechen, müssen wir leiden.
Wenn doch die Menschen diese einfachen Wahrheiten der universalen Natur erkennen würden! Sie helfen so sehr. Sie geben dem Leben Inhalt und machen es wunderbar sinnvoll. Sie regen uns dazu an unsere Arbeit zu tun, und zwar so, wie es dem Menschen gebührt. Sie bewirken, daß wir unsere Mitmenschen lieben, und das veredelt uns. Wer nur sich selbst liebt, der beschränkt sein Bewußtsein auf einen kleinen Punkt, und es ist keine Weite oder Größe in ihm. Wer hingegen seine Mitmenschen liebt und damit beginnt, alle Dinge zu lieben, ob groß oder klein, dessen Bewußtsein wächst über sich selbst hinaus und fängt an, alles zu umfassen, zu verstehen und aufzunehmen. Es wird schließlich zu universaler Empfindung, zu universaler Sympathie, zu universalem Verständnis. Das ist groß, das ist göttlich!
Stärke durch Übung
Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir können uns selbst fördern oder verderben. Kein Gott verbietet, kein Gott zwingt; wir sind Kinder des Göttlichen und daher Teilhaber an der göttlichen Willensfreiheit. Auf unsere eigene, schwache Weise als nur teilweise entwickelte Seelen erarbeiten wir unser Schicksal. So wie wir unser Leben gestalten, so wird unser Leben werden: Gut, schlecht, wohlgestaltet, entstellt, schön oder häßlich. Wir machen es so. Darin liegt kein Fatalismus. Die Natur, die uns umgibt, unterstützt uns nicht nur, sondern sie behindert uns seltsamerweise auch gleichzeitig in gewissem Maß, um uns die Gelegenheit zu geben, unsere Stärke an der Opposition zu üben; das ist der einzige Weg, mehr Kraft zu entwickeln!
Übung bringt Stärke heraus. Wenn die Natur uns keine Gelegenheit gäbe, den Gott in uns zu erproben, dann würden wir niemals wachsen. Daher ist die Natur nicht nur eine sehr schöne, hilfreiche Mutter, sondern auch eine strenge Amme, die mit unendlich mitleidvollem Auge über uns wacht. Und mit ihrem Wirken und mit ihren Reaktionen auf das, was wir tun oder mit unserem Willen verfolgen, drängt sie darauf, daß dieser Wille durch Übung an Stärke zunimmt, daß unser Verständnis durch Anwendung klarer und schärfer wird.
Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung
Was ist heutzutage mit der Welt los? Das Problem ist der verzweifelte Wunsch der Menschen, anderen ihre Meinung aufzuzwingen. Seit dem Untergang des Heidentums war und ist das im Westen ein Grund für Unruhe. Es war der Schandfleck in der Geschichte der christlichen Kirche – ich sage dies mit Ehrfurcht vor den vielen nobel gesinnten Herzen, die in dieser Kirche wirkten und sie durch ihr Leben mit Licht erfüllten. Seit der Zeit des Niedergangs von Rom war der große Fehler der Menschen aller europäischen Länder, natürlich auch der unserer beiden Kontinente, rücksichtslos darauf zu bestehen, daß andere genauso denken müssen wie sie, in der Religion, in der Politik, im Gesellschaftssystem, gleichgültig, worum es sich handelt.
Diese Geisteshaltung schürte die Scheiterhaufen der Märtyrer. Sie ist auch verantwortlich zu machen für die marodierenden Banden, die man schickte und beauftragte, andere Menschen umzubringen. Mit dieser Geisteshaltung wurden Verträge geschlossen, besiegelt und anderen Nationen aufgedrängt. Und heute beunruhigt uns das, man sieht es überall, genauso. Diese Haltung können Sie sogar in friedlichen Ländern beobachten. Sie sehen es zum Beispiel in unseren Gesellschaftsformen. Die Leute in der westlichen Hemisphäre scheinen nicht eher glücklich zu sein, als bis es ihnen mehr oder weniger gelingt, ihren Willen, ihr Denken und ihre Vorstellungen darüber, was richtig ist, anderen aufzuzwingen: So und so sollte die Welt funktionieren, dieses und jenes sollte auf solche Weise getan werden, und vor allem sollten andere Völker nur bestimmte Dinge glauben und für richtig halten. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie hoch wir selbst das Heiligtum unserer eigenen Herzen schätzen, die Freiheit unseres eigenen Lebens und unser Recht, frei zu denken, dann können Sie leicht erkennen, wie tragisch die Konsequenzen immer sind.
Ich sah dasselbe falsche Verhalten sogar im Denken von Theosophen. Diese schienen zu glauben, alle anderen Theosophen, die ihre theosophischen Meinungen nicht akzeptierten, seien allesamt auf dem falschen Pfad. Das ist eine Wiederholung desselben alten und üblen Wunsches, andere Weggefährten müßten ebenso denken wie sie.
Was Sie auch immer versuchen, Sie können damit niemals vollen Erfolg haben. Sie können die Menschen töten, ihre Körper in Ketten legen, ihren Verstand und ihr Herz quälen und versuchen, sie zu verwirren. Aber die menschliche Seele läßt sich nicht in Ketten legen. Sie wird sich immer befreien. Dann beginnt dieselbe alte Tragödie von neuem. Das ist erschütternd. Das Pathos liegt keinesfalls nur in dem großen menschlichen Leid, das damit verbunden ist. Mindestens ebenso bedauerlich ist, daß die Menschheit freiwillig auf die immensen Schätze verzichtet, die in den Herzen und im Denken anderer Mitmenschen verborgen sind. Bedenken Sie, ob es für einen Menschen etwas Schöneres geben kann, als die Denkprozesse seines Freundes oder seines Mitgefährten zu studieren, ihm dabei zu helfen, sie zu artikulieren und wachsen zu sehen und seinen ganzen Gedankenreichtum zu entfalten. Das ist produktiv. Alles andere zerstört nur. Der eine macht die Schätze fruchtbar, die im menschlichen Denken und Fühlen enthalten sind. Die Folge davon sind Großherzigkeit sowie Friedfertigkeit und Milde im Umgang mit anderen Menschen. Der andere erzeugt Haß, Argwohn, nicht zu bändigenden Unwillen und fördert den Drang, sich von der Sklaverei auferlegter Glaubensüberzeugungen, auferlegter Ideen und Denkformen zu befreien.
Wissen Sie, warum das alles passiert? Einfach deshalb, weil die meisten Menschen unbeseelt sind. Ich meine damit nicht, daß sie keine Seelen besitzen. Aber ihre Seelen sind nicht aktiv, sie arbeiten nicht und sind nicht produktiv. Sie schlummern. Die meisten Menschen leben wie menschliche Tiere. Tatsächlich schlimmer, denn Tiere werden mehr oder weniger durch einen Instinkt geleitet, so daß sie gewissermaßen anderen Tieren gegenüber Respekt zeigen. Aber die Menschen denken mit List und Tücke. Wenn sie das noch unter Einsatz ihres Verstandes tun, dann ist das Ergebnis in jeder Weise religiöse, soziale und politische Tyrannei. Es ist meines Erachtens nach Tyrannei, wenn eine Minorität oder Majorität, ein einzelner oder viele aus einer bestimmten Gruppe versuchen, bestimmte Ideen, Denkformen oder Führungssysteme anderen aufzuzwingen, die dann zustimmen müssen – und das nennen wir „die Freiheit des Okzidents“!
Freiheit! Sie ist eine der segensreichsten Himmelsgaben und eines jener Geschenke, die wir am schlimmsten mißbraucht haben. Denn wir waren der Meinung, daß andere Menschen erst dann Freiheit hätten, wenn sie sich entschließen würden, unsere Überzeugungen, unsere Institutionen und unsere Lebensweise zu übernehmen. Und das Resultat: die Unterdrückung von Millionen blühender menschlicher Seelen, die sonst vielfach Frucht getragen hätten und auf wunderbare Weise ihren Beitrag zur Bereicherung unseres gemeinsamen menschlichen Schatzes geleistet hätten.
Bin ich mit diesen Ideen zu revolutionär? Niemals. Damit würde ich mich nämlich desselben moralischen Verbrechens schuldig machen, das ich gerade verurteilt habe. Ich würde versuchen, meine Anschauung anderen aufzudrängen. Evolutionär? Ja! Ich appelliere an die Herzen und an den Verstand der Menschen, sich stets zu vergegenwärtigen, daß man niemals vollständig glücklich sein, niemals sein Bestes geben und seine Mitmenschen nie anregen kann, dasselbe zu tun, wenn man andere bekämpft. Das hat nie funktioniert und wird es auch in der Zukunft nicht. Dem stehen alle Gesetze der menschlichen Natur entgegen. Es widerspricht allen Gesetzen der höheren und der niedrigeren Psychologie. Es ist jedermanns Pflicht, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen. Dabei spielt es keine Rolle, um welches Land es sich handelt und um welche Gesetze. Solange man in dem betreffenden Land lebt, muß man seinen Gesetzen gehorchen. Falls jemand jedoch mit seinem Leben bezeugt, daß er ein besserer Mensch ist, bereit, als Märtyrer für eine gerechte Sache sein Leben zu opfern, dann wird die Welt von seinem Vorbild erfahren, und um eine alte christliche Ausdrucksweise zu gebrauchen, er wird zum „Samenkorn seiner Kirche“; es ist doch eine seltsame Sache mit der menschlichen Psychologie, daß selbst jemand, der elendig sein Leben verliert, damit noch Propaganda machen kann.
Im Leben ist es ein Ausdruck höchster Weisheit, so lehren die Meister der Weisheit, für die Seelen aller Menschen Sympathie zu empfinden. Machen Sie Ihr Leben zu einem Beispiel dessen, was Sie predigen: von Gerechtigkeit, brüderlicher Liebe, Sympathie, Mitgefühl, Mitleid, Erbarmen, Hilfsbereitschaft und von der Unfähigkeit, gegenüber einem anderen Menschen eine unehrenhafte Handlung zu begehen. Andere werden dann Ihrem Beispiel folgen, weil Sie wie ein Leuchtfeuer die dunkle Nacht erhellen.
Dies ist das Ideal; ich werde es mir stets vor Augen halten. Seit meiner Kindheit weiß ich, daß das interessanteste aller menschlichen Dinge, das interessanteste Ereignis in den menschlichen Beziehungen, im täglichen Geben und Nehmen, das Herausarbeiten der inneren Fähigkeiten des anderen ist, die er zu zeigen und auszudrücken versucht. Es ist ein faszinierender Vorgang. Der schnellste Weg, ihn zu beenden und die Entfaltung dieses Vorgangs zu unterbinden, ist der Versuch, dem anderen seine eigenen Ideen aufzunötigen. Sie töten damit tatsächlich etwas wunderbar Schönes. Anstatt einfühlend dabei zu helfen, daß sich diese inneren Fähigkeiten entfalten können, zerstören Sie das Edelste, was das menschliche Leben zu bieten vermag. Es ist ein Verbrechen, so zu handeln. Wenn Sie andererseits dabei helfen, die inneren Qualitäten einer menschlichen Seele zu entfalten, bereichern Sie diese und ebenso sich selbst. Dies ist das Kennzeichen echter Führung. Das bedeutet Führung der Herzen der Menschen: das Beste in anderen hervorzubringen, so daß sie selbst die Schönheit lieben lernen, die so zur Entfaltung kommt und vom Feuer des Enthusiasmus entflammt wird. Anderen Ideen aufzuzwingen, ist Tyrannei.
Wir leben unter einer Herrschaft der Gewalt. Überall werden Menschen gewaltsam unterdrückt. Sie kennen die Auswirkungen von Gewalt im Bereich der Technik; gleichermaßen bewirkt die Unterdrückung des Strebens der menschlichen Seele, das Niederhalten dessen, was eines Tages zum Vorschein kommen muß, Explosionen. Fragen Sie sich deshalb, warum uns die größten Menschen lehrten, die je auf Erden gelebt haben, daß der einzige Weg zu Frieden, Glücklichsein, Wachstum, Wohlstand, Reichtum und all den anderen schönen Dingen des Lebens darin besteht, gegenseitige Liebe und Gerechtigkeit zu praktizieren? Die Seelen der Menschen hungern nach Liebe und Sympathie. Fügen Sie anderen nichts zu, was Sie nicht wollen, daß man es Ihnen zufügt – diese negative Formulierung ist die klügere. Anderen das anzutun, von dem Sie wünschen, daß man es auch Ihnen antut – „Menschenseelen zu retten“ –, ist eine Regel, die nur die Ausübung von Dummheit und Fanatismus zuläßt.
Behandeln Sie andere – formulieren Sie es positiv, wenn Sie mögen –, behandeln Sie andere, wie Sie selbst von anderen behandelt werden möchten und sie werden nach und nach sehen, wie sich als Folge davon deren und Ihre Ideale zu voller Blüte entfalten. Wem das gelingt, der ist wahrlich seelenvoll. In ihm überwiegen die Qualitäten der Seele. Er liebt, weil Liebe etwas Wunderbares ist. Wer das Leben seiner Mitmenschen reicher macht, bereichert sein eigenes Leben. Er behandelt die anderen Menschen voller Edelmut und läßt ihnen den Vortritt. Das ist nicht nur ritterlich, sondern es läßt auch die eigene Kraft und Stärke wachsen, weil es Willenskraft erfordert, dies beständig zu tun. Das ist ein Prozeß, sich selbst immer mehr zu beseelen. Die größten Menschen auf der Welt waren die in diesem Sinne am meisten beseelten. Ihre Herzen empfanden die umfassendste Liebe. Ihr Verstand arbeitete am schärfsten, am lebendigsten, am stärksten und am aufrichtigsten. Ihr ethisches Empfinden war am subtilsten, am lebhaftesten und am beständigsten. Sie waren diejenigen, denen es niemals in den Sinn kam, ihren Willen anderen aufzuzwingen, sondern anderen dabei behilflich zu sein, die Schönheit ihrer eigenen Seele zum Ausdruck zu bringen.
Überwachen Sie Ihre Denkprozesse
Beim Überwachen meiner Denkprozesse stellte ich fest, daß ich sehr oft davor bewahrt wurde, eine falsche Schlußfolgerung zu ziehen, wenn ich diese Schlußfolgerung so lange nicht als endgültig akzeptierte, bis ich sie nicht gründlich überprüft hatte. Dies ist eine exzellente Regel, die wir alle befolgen sollten. Ich entdeckte außerdem, daß ich allein der Leidtragende bin, wenn ich zaghaft oder lässig an eine Sache herangehe und vor einem schwierigen Problem oder einem komplizierten Gedankengang zurückschrecke. Ich bin der Verlierer. So lernte ich denken und zu versuchen, klar zu denken, mich davor zu fürchten, unbedachte Gedanken zu haben und ich lernte immer danach zu trachten, daß die Gedanken, die durch meinen Verstand als ein Instrument des Erkennens ziehen, hoher Natur sein sollen; nicht einem vorschnellen Urteil nachzugeben, nicht von emotionalen, vulkanischen Ausbrüchen abgelenkt zu werden, oder, was meiner Ansicht nach schlimmer ist, dazu verleitet zu werden, andere ungerecht zu beurteilen. Das ist eine Übung, die die Hindus Yoga nennen würden. Es ist eine Übung, die ich jedem empfehle, der sich verbessern möchte. Überwachen Sie Ihre Gedanken! Überwachen Sie diese Prozesse, während Sie die Gedanken denken! Weisen Sie die Gedanken zurück, die Sie nicht lieben! Aber sind Sie sorgfältig damit, damit Sie nicht einer Göttlichkeit, die an die Pforte Ihres Herzens klopft, den Eintritt verweigern, wenn Sie zunächst zu blind sind, um ihren göttlichen Charakter zu erkennen!