Der Wind des Geistes
Wie kann man Reinkarnation beweisen?
Wie kann man beweisen, daß die Reinkarnation eine Tatsache ist? Dies ist eine der am häufigsten an uns gestellten Fragen. Trotzdem frage ich mich immer wieder, wie man eine solche Frage überhaupt stellen kann. Erwartet man einen Labortest für einen Umstand, der mit einem Labor gar nichts zu tun hat?
Was ist ein Beweis? Ein Beweis liegt dann vor, wenn im Verstand Überzeugung geweckt wird, daß etwas wahr ist. Das ist die Beweisdefinition, wie sie bei Gerichtsverfahren angewandt und für überzeugend gehalten wird. Wenn also durch die Vorlage von Beweismaterial der Verstand von der Wahrheit eines Sachverhaltes nicht überzeugt werden kann, dann ist die betreffende Sache auch nicht bewiesen, selbst wenn sie wahr ist. Das heißt also, die einzige Möglichkeit, sich eine Sache zu beweisen, besteht darin, daß man sie bis zum Ende durchdenkt. Erst dann ist man überzeugt. Selbst wenn man noch so unrecht hat, bleibt dies für denkende Menschen die einzig mögliche Art und Weise, sich einen wirklichen Beweis zu verschaffen. Man verwechsle aber nicht Beweismaterial und Beweis. Ich habe zum Beispiel eine Quittung, die besagt, daß eine bestimmte Summe von tausend Dollar bezahlt wurde. Beweist dies, daß das Geld wirklich bezahlt wurde? Jeder Rechtskundige wird Ihnen bestätigen, daß dies kein Beweis ist. Diese Quittung ist lediglich ein Beweismittel für die mögliche Tatsache, daß tausend Dollar von diesem oder jenem an Herrn Soundso gezahlt wurden. Aber es kann auch ein Betrug vorliegen. Die Quittung muß gar keine echte Quittung sein. Wenn aber jemand, nachdem er ausführliche Einzelheiten über die Sachlage gehört und das seinem denkenden Gemüt unterbreitete Beweismaterial gesichtet und geprüft hat, davon überzeugt ist, daß X an Z tausend Dollar bezahlt hat, dann bekräftigt ein solches Beweismaterial die im Verstand hervorgerufene Überzeugung, da es diese verstärkt.
Wie kann man also irgend jemandem Wiederverkörperung beweisen? Indem man das unvoreingenommene und nachdenkende Gemüt davon überzeugt, daß sie die einzig mögliche und befriedigende Erklärung für das Vorhandensein menschlicher Wesen bildet. Wie kommt ein solcher einleuchtender Beweis zustande? Durch Nachdenken. Zum Beispiel: Wir müssen von der Wirklichkeit unseres Hierseins ausgehen. Wir sind nicht alle gleich. Wir unterscheiden uns stärker voneinander als die Blätter auf den Milliarden von Bäumen, die auf der Erdoberfläche wachsen. Jeder Mensch ist eine Einheit für sich. Wie kam dieses denkende und fühlende Geschöpf auf diese Erde? Wurde es von Gott erschaffen? Beweisen Sie mir erst, daß es solch einen schöpferischen Gott überhaupt gibt.
Wieviel einfacher und vernünftiger ist die – zunächst hypothetische – Annahme, daß wir mit dem Menschen ein denkendes, fühlendes und seiner selbst bewußtes Wesen vor uns haben, das sich in diesem Leben unter uns befindet. Wir finden dieses Wesen auf einer gewissen Stufe einer augenscheinlich unvergleichlich langen Entwicklungsreise. Dies ist der erste Gedanke. Wir sind hier. Wir wurden nicht durch ein Wunder erschaffen – von einem außerkosmischen Gott voll unendlicher Ungerechtigkeit, der einige Menschen fast gottähnlich erschuf und andere dafür schrecklich elend und unglücklich. Man kann den Verstand nicht betrügen und sagen, „diese Dinge müssen wir der göttlichen Barmherzigkeit überlassen, sie stehen außerhalb unserer Macht“. Das ist keine Antwort und kein Beweis für einen denkenden Menschen. So versucht man der Frage einfach aus dem Wege zu gehen.
Wir müssen mit der Tatsache unserer Existenz fertig werden und auch damit, daß wir uns weitgehend voneinander unterscheiden. Außerdem bemerken wir in uns die Fähigkeit des Wachstums. Wo können wir dieses Wachstum vollziehen, wenn wir nur ein einziges, kurzes Erdenleben zur Verfügung haben? Wie steht es mit den armen Kindern, die geboren werden und sterben, ehe sie ihre Chance zu äußerem und innerem Wachstum überhaupt wahrnehmen konnten? Erhalten sie keine neue Chance, um zurückzukommen, keine Gelegenheit zu einem neuen Versuch? Wir müssen die Dinge so sehen, wie sie sind. Ich würde es meinerseits niemals fertigbringen, den kosmischen Geist, dessen Kennzeichen Harmonie und kosmische Gerechtigkeit sind, der Ungerechtigkeit und Parteinahme zu beschuldigen – niemals!
Ein anderer Gedanke: wer sind wir eigentlich, wir menschlichen Egos mit unseren wundervollen Kräften und Empfindungen? Woher kommt unser Gefühl für Ethik? Dieser Gedanke veranlaßte den deutschen Philosophen Kant zu der Folgerung, daß es eine göttliche Gerechtigkeit geben muß, denn unsere ethischen Empfindungen stehen oft, wie es scheint, mit unseren selbstsüchtigen und rein persönlichen Interessen im Widerspruch. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn jemand sein Leben für ein großes Ideal oder für jemanden opfert, den er liebt. Darin liegt etwas Göttliches. In diesem Augenblick zeigen wir das Göttliche in unserer Natur. Sagt uns dies nicht, daß wir unserem Wesen nach Söhne Gottes sind, wie die Christen sagen würden; Funken der göttlichen Flamme, die das Weltall im geordneten Ablauf hält – Funken jener göttlichen Harmonie und Intelligenz, welche die mannigfachen Wunder um uns im Himmel und auf Erden bewirken? Wir sind in diesem Universum, weil wir wesentliche, unzertrennliche Teile von ihm sind. Wir können es niemals verlassen. Wir gehören zu ihm. Es ist wir, und wir sind es in unserer Essenz. Was bedeutet es, wenn wir aus seinem Stoff, seiner innersten Essenz geformt sind? So wie es ewig ist, so sind auch wir ewig. Wir sind so beständig wie das Universum und genauso unvergänglich. Seine und unsere innerste Essenz sind identisch.
Lassen Sie uns in Gedanken einen Schritt weitergehen. Da es nirgendwo Zufall gibt, kein Ungefähr, nichts außer der unfehlbaren Tätigkeit des kosmischen Gesetzes, sind auch wir Menschen, die wir nur eine kleine Hierarchie in diesem Kosmos darstellen, nicht zufällig hier. Unsere Existenz hat einen Sinn, und dieser Sinn hat seine Wurzel im kosmischen Leben, in der kosmischen Intelligenz und im kosmischen Gesetz. Es wäre völlig sinnlos, wenn wir auf dieser Erde nur für ein kurzes Erdenleben erscheinen und wieder verschwinden würden, und wenn dabei nichts Gutes herauskäme, oder wir vielleicht für unsere bösen Taten nicht bezahlen müßten.
Warum sind wir hier auf dieser Erde? Warum sind wir gerade jetzt hier? Warum haben auch zu anderen Zeiten Menschen gelebt? Wie steht es mit den Menschen künftiger Zeiten? Warum werden sie dann hier sein? Das alles untersteht dem kosmischen Gesetz. Folgen Sie bitte dem Gedankengang weiter, denn wir wollen Schritt für Schritt vorwärts gehen. Da wir aufgrund eines kosmischen Gesetzes hier sind und ein einziges Leben zur Erfüllung der Absichten des kosmischen Willens völlig ungenügend ist, ist klar, daß unsere Existenz ein Beweis für die Reinkarnation ist. Was sollte uns sonst hierher bringen? Welcher kosmische Wille brächte uns gerade hierher, anstatt auf einen anderen Planeten in unserem oder in einem anderen Sonnensystem? Wir sind hier, weil wir schon früher hier gewesen sind, weil wir hier eine Saat für unser Schicksal gesät haben und nun zurückgekommen sind, um diese Saat zu ernten. Dieses vom kosmischen Gesetz regierte Universum wird es uns nicht gestatten, in der Gegend von San Diego Mais oder Weizen zu säen und drei oder vier Monate später nach Arizona oder Nevada zu fahren, um dort Mais oder Weizen zu ernten. Wo wir gesät haben, müssen wir auch die Ernte einbringen. Es geht nicht anders. Unser bloßes Dasein hier ist für einen Menschen, der klar und logisch von Stufe zu Stufe, von Gedanke zu Gedanke schlußfolgern kann, ein Beweis für die Reinkarnation. Sonst müßten wir glauben, das kosmische Gesetz habe uns nur zufälligerweise hierher gebracht. Wer aber glaubt etwas Derartiges? Würde der Zufall die Welt regieren, dann würden die Sterne und alle Planeten die kosmischen Räume in wildem Durcheinander, ohne Gesetz, ohne Vernunft, ohne Ordnung, ohne Intelligenz und ohne System durchziehen.
Hier haben Sie Ihren Beweis. Sie müssen nur darüber nachdenken. Denken Sie alles vernünftig durch und gehen Sie dabei logisch Schritt um Schritt vor. Wir befinden uns hier auf dieser Erde, weil wir hier Schicksalssaaten, Lebenssaaten gesät haben und deshalb kommen wir zurück, um sie hier zu ernten, um das Unrecht, das wir in der Vergangenheit getan haben, wiedergutzumachen und die Belohnungen zu ernten, zu welchen wir in der Vergangenheit den Samen gesät haben. Deshalb werden wir auch künftig zur Wiederverkörperung zurückkommen. Wir machen uns jetzt zu dem, was wir in Zukunft sein werden. Wir sind gerade dabei, unser Schicksal für unser nächstes Erdenleben vorzubereiten. Ich spreche jetzt nicht von den Zwischenstadien des Lebens zwischen zwei Erdenleben. Das ist eine weitere wunderbare Geschichte. Ich möchte hier nur darstellen, daß im Bereich des universalen Gesetzes alle Dinge gesetzmäßig ablaufen, nach Ursache und Wirkung verlaufen. Jede Ursache erzeugt eine Wirkung, der man nicht entgehen kann. Wenn Sie Ihre Seele durch übles Denken und Fühlen verunstalten, können Sie durch solches Tun nicht zu einem Engel des Mitleids werden. Sie werden innerlich häßlich und mißgestaltet und die Belohnung und Vergeltung davon ernten, was Sie sich selber angetan haben.
Das Universum ist beseelt. Diese Seele ist für das Universum das Gleiche, was die menschliche Seele für den Menschen ist. Das physische Universum, das wir rings um uns sehen, ist nur der Körper des Universums, geradeso wie der Körper des Menschen nur die physische Hülle für seine Seele ist. Sowohl das physische Universum als auch der menschliche Körper sind ein nur sehr unvollkommener Ausdruck für die göttlichen, spirituellen, intellektuellen, psychischen, astralen und all die höheren Gesetze, Energien, Kräfte und Substanzen, die in ihrer Gesamtheit die unsichtbaren Welten des Raumes sind.
Sehen Sie, wie wir Schritt für Schritt durch Vernunft, Instinkt und durch sorgfältiges Durchdenken der Sachlage zu der Überzeugung kommen, daß wir unserem innersten Wesen nach nicht nur Kinder oder Abkömmlinge des göttlichen Feuers sind, sondern als solche Funken der göttlichen Flamme in evolutionärem, zyklischem Wachstum ständig vom Niederen zum Höheren fortschreiten, geradeso wie ein Kind geboren wird und von seiner von Gedanken unbeschwerten Kindheit zu einem denkenden und fühlenden Menschen mit ethischer Veranlagung heranwächst?
Wenn Sie dieser Methode vernünftiger Schlußfolgerung nachgehen, dann brauchen Sie nie mehr jemanden zu bitten: Beweisen Sie mir, daß es Reinkarnation gibt. Sie können sich diesen Beweis selbst verschaffen.
Das unbesiegbare Feuer des Geistes
Wie ist es in der Tat vortrefflich und wunderbar, daß sich die Dinge des Geistes über die Dinge des Intellekts und des Körpers erheben und weit darüber stehen. Hier, im Feuer des Geistes und in der Flamme jenes Feuers, das in allen unseren Herzen brennt, sind wir Menschen wahrhaft unbesiegbar. Es hat nichts zu bedeuten, woran ein Mensch glaubt, was ihm sein Gehirnverstand eingibt oder welche Überzeugungen er hat. In ihm, im innersten Teil seines Wesens, leuchtet für immer das Licht der Seele, das ihn mit dem Göttlichen und daher auch mit allen Brüdern der menschlichen Rasse verbindet.
Behalten Sie es stets in Erinnerung: Hinter allen Wolken leuchtet das goldene Sonnenlicht, ein inneres wie äußeres Sonnenlicht, ein Sonnenlicht der Vision, der Überzeugungskraft, der Hoffnung und des Glaubens, der Pistis, wie die frühen Christen sagten, und sie bezogen sich dabei auf die Essenz der Dinge, die man nicht sieht, deren Vorhandensein einem jedoch bewußt ist.
Ein Mensch ist so groß wie die Kapazität seines Denkens ist. Nichts bestimmt ihn genauer. Soll ich hinzufügen, daß dies auch für die Tiefe seines Empfindens gilt? Es dürfte nicht notwendig sein, denn wer tiefe Gedanken hat, entwickelt auch tiefe Gefühle.
Wissen bringt Verantwortung
Es ist niemals wahr, daß es dem Adepten, dem Initiierten oder dem Wissenden erlaubt wäre, dem Pfad der linken Hand zu folgen oder diesen auszuüben. Niemals! Das ist immer falsch. Wenn wir das glauben, würden wir uns auf die Stufe jener stellen, die sagen: der Zweck heiligt die Mittel. In Wirklichkeit hilft der Starke dem Schwachen, streckt der Kräftige die helfende Hand aus und instruiert der Wissende den Unkundigen. Jene, die dem Pfad der linken Hand folgen, sind stets Schwächlinge, sind immer im Dunkeln – ein Synonym für den Pfad der linken Hand –, wogegen die stark und erleuchtet sind und das Licht bei sich haben, die dem Pfad der rechten Hand folgen.
Wissen bringt Verantwortung ebenso wie Macht, und verpflichtet diejenigen, die es besitzen, es zum Nutzen aller einzusetzen, unabhängig davon, ob sie dem Pfad der rechten oder der linken Hand folgen. Wenn jemand, der auf dem Pfad der rechten Hand geht, sein Wissen, seine Weisheit, seine Macht mißbrauchen könnte, wäre er nicht ein Vertreter des rechten Pfades, sondern des linken. Das würde selbst dann zutreffen, wenn er sein Wissen gegenüber jemandem mißbrauchen würde, der den Pfad der linken Hand geht. Der weiße Magier bemüht sich sogar um den Bruder des Schattens – damit er nicht weiter in den Abgrund fällt, sondern wieder nach oben findet! Er benutzt Macht und Weisheit allein für wohltätige Zwecke. Dem Pfad der linken Hand könnte er niemals folgen. Das würde ihn nicht nur völlig erniedrigen, sondern auch in seiner Entwicklung zurückwerfen. Es wäre ein vollständiger Rückschritt. Aus diesem Grunde ist es nur natürlich, daß von jemandem, der für den Pfad der rechten Hand arbeitet und ihm folgt, wesentlich mehr erwartet wird als von einem Menschen, der den linken Pfad geht. Er weiß mehr und besitzt größere Stärke. Es sind das Wissen und diese Stärke, die ihm Verantwortung auferlegen.
Lassen Sie niemals auch nur für einen einzigen Augenblick die Idee in Ihr Gemüt einsickern, daß Sie, weil Sie etwas wissen und dieses Wissen benutzen können, berechtigt sind, es zu mißbrauchen. Glauben Sie nie, daß von Ihnen weniger erwartet wird als von jenen, die dieses Wissen nicht haben. Anders ausgedrückt: Sie dürfen nicht dem winzigsten Gedanken in Ihnen Raum geben, der Ihnen zuflüstert, Sie hätten für irgend etwas dieser Art auch nur die geringste Erlaubnis. Das bedeutet, daß Sie nur dazu berechtigt sind, es zu einem guten Zweck zu verwenden. Das ist keinesfalls eine schwächliche Gefühlsregung. Zuweilen müssen Sie Ihre starke rechte Hand gebrauchen. Der Polizist ist manchmal genauso notwendig wie eine Krankenschwester. Beide sind Repräsentanten der Seite der rechten Hand. Würden sie ihre Stellung mißbrauchen, dann würden sie zur Seite der linken Hand gehören. Stärke verpflichtet zu einem ehrenhaften Verhalten. Wissen bedeutet, eine ehrenhafte Verpflichtung einzugehen. Das schöne, alte französische Sprichwort Noblesse oblige bedeutet nicht, Adel könne gefällig sein, sondern Adel verpflichtet. Das Merkmal einer edlen Abkunft zeigt sich im Willen, sich selbst zu opfern und für andere Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Ein solcher Mensch ist ein Lastenträger, ein wirklicher Helfer. Selbst heutzutage hat niemand das Recht, sich als einen Gentleman zu bezeichnen, wenn er in erster Linie seine eigenen Interessen verfolgt. Wer dies tut, hat diese Bezeichnung nicht verdient.
Der Widersacher
Mit großem Interesse verfolge ich, wie viele Leute an einem Thema interessiert sind, dem einige Zweige der Religionsphilosophie den Namen „der Widersacher“ gegeben haben. Ich glaube, dies ist zum größten Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß außerhalb des Dogmas, aus dem alles Leben entwichen ist, selbst in den exoterischen Lehren noch ein Überrest der Realität verblieben ist. Das menschliche Herz erkennt, daß all diese verschiedenen theologischen Lehren auf einer tief bedeutungsvollen Tatsache beruhen. Und dies ist meiner Ansicht nach der Grund dafür, weshalb die Christliche Kirche und die Christen so lange gekämpft haben, um die groben anthropomorphischen und wirklich absurden Vorstellungen zu überwinden, die sich um den zentralen Kern der reinen Wirklichkeit gebildet hatten.
Welches ist dieser zentrale Kern? Es gibt Opposition im Universum. Das ist der Grundton der Bedeutung des Hebräischen Wortes śātān: Widersacher, Opponent, oder des griechischen und lateinischen Wortes diabolos, von dem das deutsche Wort Teufel, das französische diable und das italienische diavolo und das englische devil herstammen. Die verschiedenen Ausdrücke und Schreibweisen des ursprünglichen Wortes entstanden in den verschiedenen Völkern; der ursprüngliche Ausdruck, von dem sie sich alle ableiten, war zweifellos das griechische Wort diabolos, mit der Bedeutung „Der Ankläger“ und daher „Der Widersacher“. Wie eben gesagt, verkörpert der Gedanke, der hinter dem Wort steht, die Idee eines Anklägers, eines Opponenten, eines Widersachers. Wie gröblich ist diese wunderbare philosophische und religiöse Idee entstellt worden durch eine rein anthropomorphische oder vermenschlichte Personifikation der Opposition in der Natur – eine Opposition, die in Wahrheit höchst wohltätig und hilfreich sein kann und es in der Tat ist, oder einer Opposition, die andererseits schädlich und böse sein kann. Dies ist der Grundgedanke der Lehre, und deshalb sagten die Hebräer, indem sie zur Erklärung einer großen kosmischen Wirklichkeit Worte gebrauchten: „Opponent“, „Widersacher“, und die wortgewandten Griechen sprachen vom „Ankläger“. Warum? Dieses „Warum“ wird in der theosophischen Lehre damit erklärt, daß es in Wirklichkeit kein kosmisches Individuum gibt, das als Opponent oder Widersacher der Menschen oder Götter wirkt, denn der „Ankläger“, der „Widersacher“, der „Opponent“ besteht in Wirklichkeit, soweit es den Menschen betrifft, aus unseren eigenen Schwächen, Übeltaten, schlimmen Gedanken und bösen Gefühlen, die eines Tages, früher oder später, karmisch auf unserem Weg auftauchen, um uns entgegenzutreten und uns anzusehen, uns anzuklagen und uns sozusagen als den Übeltäter auszuweisen. Sie, unsere eigenen früheren Selbste, sind nun zu den Widersachern und Anklägern des gegenwärtigen Selbst geworden. Dieses Phänomen in der Natur und im menschlichen Wesen haben die frühen Christen personifiziert und sprachen vom diabolos oder Satan, denn für sie war es ein sehr reales Ding.
Achten Sie jedoch darauf, wie erstaunlich und großartig uns jede Wahrheit wunderbare Dinge zu lehren vermag, denn der Widersacher, wie aus den vorangegangenen Bemerkungen klar hervorgehen sollte, wird in Wirklichkeit zu einem höchst wertvollen Lehrer; wir lernen aus den Fehlern der Vergangenheit nicht nur, sie in Zukunft zu vermeiden, sondern in Zukunft stärker zu werden als sie. Der karmische Widersacher wird deshalb zum Unterweiser; die Fehler, aus denen wir gelernt und die wir auf diese Weise überwunden und hinter uns gebracht haben, erweisen sich selbst als unsere Führer und Lehrer – mit anderen Worten: frühere Hindernisse werden, wenn sie überwunden wurden, Stufen zu höheren Dingen.
Indem sie dieser Idee in einer weiteren, aber gleich wichtigen Bedeutung nachgingen, haben die Alten Mystiker und Okkultisten, die Theosophen des uralten Wissens, stets gesagt, daß der Name des Lehrers, des Gurus, des Unterweisers, des Retters, der Widersacher sei. Dieser wird es dem Neophyten nicht erlauben, aufwärtszugehen, ehe dieser Neophyt nicht seinen Wert bewiesen hat, ehe er nicht die Schlüsselworte gelernt hat, die Paßworte, die in erster Linie Selbstüberwindung und künftige Sicherheit bedeuten. Sehen Sie, wie wunderbar leicht dieser Gedanke, diese Grundlehre, von einer Erklärung zu einer ebenso wichtigen Erklärung führt und trotzdem so schwierig erscheint. Daher wurden die alten Lehrer immer als Nāgas oder „Schlangen der Weisheit“ bezeichnet. Daher wurde gleichermaßen die opponierende Kraft in der Natur, ob göttlich oder schädlich, als ein Nāga bezeichnet, als eine Schlange im Garten Eden oder als eine Schlange der Weisheit.
Eine christliche Lehre im Neuen Testament, die vermutlich von inspirierten Intelligenzen stammt, fordert uns auf, die Schlangen zu verehren. Sehen Sie, wie anschaulich diese Aufforderung ist: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Derart sind all die großen Adepten, all die Buddhas und Christusse, die Mitleidsvollen, die Betrübten, betrübt über die Unwissenheit der Menschheit.
Wir lernen, von unseren Schwächen zu höheren Dingen aufzusteigen. Unsere Schwächen selbst werden zu unseren Lehrern; und sobald wir die Lektionen aus den Schwächen gelernt haben, ist es nicht länger notwendig, uns wegen weiterer Instruktionen an sie zu halten. Dann, sagen wir, werden sie nämlich zu bösen Lehrern, denn wir haben bereits genug gelernt und sind mit ihrer Hilfe schon höher gestiegen. Wir verschwenden dann nicht nur Zeit, sondern handeln auch falsch, wenn wir uns von den Gedanken und Gefühlen und gegnerischen Emotionen der Vergangenheit beeinflussen lassen. Es ist unsere Pflicht, zu höheren Dingen zu schreiten und die neuen Opponenten herauszufordern, die neuen Ankläger. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Verstehen Sie den Gedanken? Die Tür öffnet sich. Der Widersacher, der augenblickliche Opponent sagt: „Wer bist du?“ Wenn man die richtige Antwort gibt, darf man passieren; ist die Antwort falsch, wird die Tür vor einem geschlossen, weil es so in Wirklichkeit ist. Man kann keinen Schritt vorwärts- oder aufwärtsgehen, bevor man nicht die Paßworte kennt, die Teile von einem selbst sind, mit anderen Worten, ehe man nicht den Willen und die Intelligenz hat, recht zu handeln. Man selbst wird dann in einem solchen Falle zum Widersacher, zum sogenannten Satan. Man muß sich selbst überwinden, diesen Teil von sich, um höher gehen zu können. Deshalb lernen wir, über die Stufen unserer früheren Selbste neue Selbste zu werden. Unsere besten Selbste sind ein Ideal vor uns, das wir erreichen und mit dem wir weiterbauen müssen. Unsere gegenwärtigen Selbste werden ihrerseits eines Tages weitergehen, und wir werden dem Geist, dem göttlichen Selbst der Zukunft begegnen, und auch dieses wird uns fragen: „Wer bist du? Gib das Paßwort.“ Das Paßwort ist Wissen, ist Weisheit, ist Selbstlosigkeit, der große Schatz vergangenheitslanger spiritueller Erfahrung. Seid weise wie die Schlangen, aber unschuldig und harmlos wie die Taube. Dies ist eine höchst wunderbare und tiefe Allegorie. Es nimmt nicht wunder, daß sie in den verschiedenen Teilen der Welt nacheinander von allen Völkern der Menschheit angenommen wurde. Steigt auf euren toten Selbsten zu höheren Dingen empor.
Ein Aspekt des Widersachers ist unser gegenwärtiges Selbst, ein wunderbarer Gedanke! Sollen wir das gegenwärtige Selbst überwinden, den Widersacher, der uns am Höhersteigen hindert, weil es nicht höher ist, weil es nur ein Selbst ist? Wenn wir dies tun, haben wir das Paßwort gegeben und steigen höher, wir durchschreiten die Portale der Weisheit. Der Widersacher ist nicht mehr länger ein Tyrann. Der Initiator muß nicht mehr länger unsere spirituellen und intellektuellen und moralischen Zeugnisse, unser eigenes Selbst, unsere eigene Inspiration prüfen. Der Widersacher wird zum göttlichen Freund, zum Retter aller Menschen, zur Schlange der Weisheit.
Dies ist eine großartige Allegorie voll tiefer Bedeutung. Sogar die Dichter der modernen Zeit, der relativ modernen Zeit, haben diese Idee begriffen. Mögen sie auch keine Theosophen sein, so erfaßten sie sie doch durch Wiedererinnerungen aus früheren Leben auf Erden, wo ihnen diese Lehre gelehrt wurde. Milton, der englische Dichter, beschreibt zum Beispiel den Fall Satans oder Luzifers, der gemäß christlicher Theorie einer der höchsten Engel war, der „fiel“. Das ist die gleiche Idee von einem etwas anderen Blickwinkel, eine neue Seite des Gedankens. Der Engel klettert innerhalb der himmlischen Sphären aufwärts, selbsterlöst. Das Selbst, der Hauptwidersacher, sei es das eines Gottes oder eines Menschen oder eines der in unzähligen Hierarchien lebenden Wesen in der menschlichen Natur, für jeden ist ein Widersacher da, für es oder ihn selbst. Und dennoch, großartiges Wunder, ist die Natur so mitleidsvoll aufgebaut, daß wir aus unseren Fehlern bessere Dinge lernen. Von der Häßlichkeit lernen wir Schönheit. Aus überwundener Schwäche wird neue Stärke geboren. Aus dem Unheiligen schreiten wir zur Heiligkeit fort. Was einst die Opposition, der Opponent, der Widersacher war, wird, wenn wir ihn mit Mut herausfordern, und das Himmelreich mit Stärke nehmen, zum Heiland, zum Initiator.
So ist es mit unseren eigenen Selbsten. Haben Sie je bedacht, daß ein überwundener Fehler zu einer neuen Stärke in Ihrem Charakter wird; daß eine überwundene Versuchung Ihnen mehr Kraft gegeben hat? Sie haben dieses Ziel ja durch die Ausübung Ihres Willens erreicht! Ihr Wille ist stärker geworden. Das Mitleid für andere ist in Ihnen mehr geweckt worden. Ihre Vision wird leuchtender, zu einer weitblickenden Hellsichtigkeit. Die Erfahrung lehrt uns denken. Es ist Erfahrung, die uns wachsen läßt. Diese Erfahrung ist es, die der Widersacher, der Ankläger ist.
Alle Völker haben über die Opposition im Universum gelehrt, und sie lehrten ausgezeichnet darüber. Aber soviel ich weiß, waren es ausschließlich die sehr primitiven Stämme und das spätere Christentum, die als einzige dieses kosmische Prinzip als eine engelhafte Wesenheit personifiziert und vermenschlicht haben, in einem Christentum dämonischer Art. Die grundlegende Idee ist auf der ganzen Erde die gleiche. Wenn uns also dieser Opponent begegnet, unter welcher von den tausendfältigen Verkleidungen wir ihm auch begegnen mögen, ob von göttlichem oder bösartigem Charakter, das zugrundeliegende Prinzip ist immer das gleiche. Für uns Menschen wird er teuflisch und bösartig, wenn wir schwächlich unterliegen. Wir haben die Aufforderung unserer eigenen Seele vergessen. Andererseits, wenn wir unseren vorwärts gerichteten Willen benützen und uns selbst zur Schulung in die Hand nehmen, dann werden wir stark, weil wir universaler werden. Unsere Vision bleibt nicht länger auf uns selbst begrenzt und erhebt sich deshalb entsprechend zum Göttlichen. Darum wird vom Göttlichen immer gesagt, es sei göttlich, und vom ungeheuer Eingeengten und Begrenzten und deshalb Selbstischen immer, es sei böse, weil das Kleine nur an sich selbst denkt und der Welt widerstrebt, um ein kleines Reich des niederen Selbst zu gewinnen, seine Kraft gegen das Universum zu richten und dadurch um so böser zu werden, wie die Keime einer Krankheit im menschlichen Körper. Wenn dieser störende Keim hinausgetrieben ist, wie es glücklicherweise geschehen kann, kehrt Gesundheit und universaler Frieden in den Körper zurück. Das ist die Idee. Je mehr wir universal werden, desto höher sind wir. Anders ausgedrückt, je stärker wir uns dem Göttlichen nähern, das universal ist, desto höher stehen wir. Um noch einen sehr tiefen christlichen Gedanken zu zitieren, der für mich von wundervoller Schönheit ist: „Wisset Ihr nicht, daß Ihr der Tempel Gottes seid und daß der Geist Gottes in Euch wohnt?“ Es liegt eine ganze kosmische Philosophie gerade in diesen einfachen Gedanken. Wenn Sie diese studieren, werden Sie die Erleuchtung finden, die Leben, Trost, ungeheure intellektuelle Aktivität höchster Art und schließlich, aber nicht zuletzt, Frieden bedeutet, jenen inneren Frieden, der alles Verstehen übersteigt, der aber erfahren werden kann.
Der Weihnachtsbaum
Der Weihnachtsbaum, übersät mit Lichtern und hell glitzerndem Lametta, das diese Lichter reflektiert und mannigfach vervielfältigt, ist ein altes vorchristliches Symbol, das von den Völkern Nordeuropas zur Zeit der Wintersonnenwende verwendet wurde. Und dies ist die innere Bedeutung:
Haben Sie nie von dem Weltenbaum gehört, mit seinen Wurzeln in den geistigen Sphären, und dessen Zweige die großen Sonnen und Sonnensysteme sind? Dieser Weltenbaum begann am Anfang dieses kosmischen Zeitalters all die himmlischen Heerscharen hervorzubringen. Die Wintersonnenwende ist der Anfang des kosmischen Neujahrs, und daher haben diese nördlichen Völker, die einiges über die alten Weisheiten wußten, dieses kosmische Ereignis mit dem Weihnachtsbaum gefeiert. Er symbolisiert den Weltenbaum, und die Lichter sind die Sonnen, die die Tiefe des Raumes übersäen, und sie weisen auf die Botschaft der Göttlichkeiten hin, die uns ständig das Licht der Liebe, das Licht des Geistes und das Licht ewiger Hoffnung geben. Wir haben uns jedoch so weit von der Weisheit unserer Vorväter entfernt, daß der Weihnachtsbaum nur noch ein Festsymbol für uns ist, außer für die wenigen, die seine Bedeutung in ihren Herzen bewahrt haben.
Das Überreichen von Geschenken unter dem Weihnachtsbaum war ein Symbol für die Selbsthingabe der Götter, durch die die Welten ins Dasein kommen konnten. „Hier ist meine Gabe. Sie ist aus mir selbst geboren.“
Die lebenden Buddhas in Tibet
Ich glaube, daß sich die Menschen im Westen hinsichtlich der sogenannten lebenden Buddhas viel zu eng an Vorstellungen halten, die man im Westen um östliche Glaubensüberzeugungen und Lehren konstruierte, obwohl wir Ausländer diese nur äußerst unvollkommen begreifen. Die westliche Annahme, die Tibeter würden glauben, die lebenden Buddhas seien eine Verkörperung von Gautama dem Buddha, ist völlig falsch. Der tibetischen Lehre liegt vielmehr ein ganz anderer Gedanke zugrunde. Gleich einigen intuitiven, tiefsinnigen Christen, die neuerdings davon sprechen, daß es einen kosmischen Christus gibt, von dem frühere, gegenwärtige und zukünftige christusähnliche Menschen gleichsam Strahlen sind, verkörperte Repräsentanten oder verkleinerte Abbilder, nehmen auch die Tibeter an, daß es einen kosmischen Buddha gibt. Jesus war einer dieser verkörperten Repräsentanten. Die alte tibetische Lehre, die sich auf die sogenannten lebenden Buddhas bezieht, ist, wie gesagt, eng mit diesem Gedankenkomplex verknüpft. Ganz ähnlich wie die Vorstellung einiger aufgeschlossener Christen besagt, daß der kosmische Christus nicht nur ein fundamentaler Bestandteil des Universums sei, sondern auch einen integralen Bestandteil des menschlichen Bewußtseins bilde, genauso behauptet die tibetische Lehre, daß es mit dem kosmischen Buddha sei. Die Tibeter nennen ihn in ihrer wundervollen Lehre den himmlischen Buddha. Auch sie sagen, daß alle Menschen gewissermaßen seine Strahlen sind. Anders ausgedrückt, jeder Mensch hat etwas von diesem kosmischen Buddha in sich. Sie sagen, er sei das innerste Wesen des Menschen, sein innerstes Selbst. Wenn jemand sein Bewußtsein so weit erhebt, daß er mit dieser in seinem Herzen brennenden Flamme des Göttlichen eins wird, eins mit dem Strahl des himmlischen Buddha, dann senkt sich dieser aus der Sonne kommende Strahl in das menschliche Herz. Er schenkt ihm Inspiration, Weisheit und Liebe. Er macht den Menschen zu einem lebenden menschlichen Buddha. Gautama, der Buddha, war dafür ein besonders bemerkenswertes und hervorragendes Beispiel.
Das ist eine wunderbare Lehre. Erkennen Sie die grenzenlose Hoffnung, die in ihr liegt und die ihr zugrundeliegende Inspiration? Dies himmlische Feuer ist unser innerstes Selbst. Wir alle haben an ihm Anteil, jeder von uns. Halten Sie es sich vor Augen und öffnen Sie Ihre Vision dafür, daß jeder Mensch, wenn er es nur will, in der Lage ist, mit ihm eins zu werden. Dafür müssen wir jedoch im wahren Sinn des Wortes das Leben leben und in unserem Studium fortfahren. Nur dann kann sich dieses Feuer in unserem Leben manifestieren. Erfüllen Sie Ihre Vision mit Größe und mit Schönheit. Dann wird Ihr Leben ebenfalls beginnen, diese Größe und Schönheit widerzuspiegeln, weil ein kosmischer Buddha in Ihnen denkt, fühlt und sich zum Ausdruck bringt.
Das ist letztlich die Essenz der tibetanischen Lehre vom lebenden Buddha. Wenn die kosmische Glorie im Herzen und im Verstand eines Menschen Platz ergreift, wird dieser Mensch, wie die Tibeter sagen, zu einem Christus auf Erden. Zunächst vielleicht nur in einem vergleichbar bescheidenem Maße – aber das hängt gänzlich von der Bereitschaft dessen ab, der dieses göttliche Feuer in sich fühlt. Je mehr man es entfacht und je weiter wir uns dem Einfluß von oben-innen öffnen, desto unsäglich mehr wird unser Buddha- oder Christus-Stadium hervorgebracht, desto größer wird es gemacht.
Gedanken über Karma
Es wurde mir oft die Frage gestellt, ob Karma eine bis ins Detail gleiche Reaktion bedeute. Wenn ich zum Beispiel jemandem Schaden zufüge, trifft es dann zu, daß mir dieser Mensch irgendwann in der Zukunft auf die gleiche Art und Weise Schaden zufügen wird?
Wir lehren keinen wissenschaftlichen Determinismus. Wir lehren genau das Gegenteil. Trotzdem entspricht es den Tatsachen, wie die göttliche Weisheit uns versichert, daß wir uns in einem Universum befinden, dem unentrinnbare Gesetzmäßigkeit innewohnt. Auf diesem Eckpfeiler ruht alle Hoffnung und die gesamte Theosophie, jede Religion, jede Philosophie und jede Wissenschaft. Wie ist es also? Gesetzt den Fall, ich betrüge einen Freund und breche sein Herz, wird dieser Freund mich irgendwann in der Zukunft ebenfalls betrügen und mein Herz brechen? In genau derselben Weise und unter Befolgung der gleichen Details? Die Antwort lautet nein, nicht in allen Details. Ein von mir betrogener Freund wird jedoch, unabhängig von seinem Willen, vom Schicksal getrieben, in einem zukünftigen Leben, nicht in identischen Details, aber doch eng der Verfahrensweise verbunden, in der ich ihn betrog, ähnlich mit mir verfahren, weil ich die mir zustehende Vergeltung einfach auf mich ziehe. Auch er wird möglicherweise mein Herz brechen, vielleicht gegen seinen Willen.
Wird das Opfer, das ich vorsätzlich getötet und umgebracht habe, mich in einem zukünftigen Leben ebenfalls umbringen? Persönlich neige ich dazu, dies zu bejahen. Die Details mögen voneinander abweichen, aber die Generallinie, der das Schicksal folgt, wird die gleiche sein. Prägen Sie sich die Lehre ein, die alle großen Weisen und Seher verkündet haben, ganz gleich, in welchem Zeitalter sie lebten: Was ihr sät, werdet ihr auch ernten, nichts anderes. Das ist ein christlicher Ausspruch und ein sehr wahrer.
Seien Sie sich bewußt, wie groß die moralische Wirkung dieser Lehre ist, wenn sie angenommen wird. Sie übt nicht nur eine Schutzfunktion für die Zukunft aus, sondern bewirkt auch eine Revolution im Fühlen und Denken, da sie den Charakter beeinflußt. Ein Mensch, der sie bejaht, nimmt sich sehr in acht, einem Mitmenschen ein Unrecht zuzufügen. Überlegen Sie, was diese eine Lehre allein für die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschheit bewirken würde, wenn sie, wie früher einmal, auf der ganzen Erde angenommen würde. Wenn ich Gutes säe, stärke und veredle ich meinen Charakter. Gutes Denken versetzt meinen Charakter in Harmonie. Das Gefühl, etwas Gutes zu tun, bestärkt mich, noch etwas Besseres zu tun. Das ist einfach die Wirkung von Karma. Wenn ich dagegen etwas Böses denke und fühle und meinen Mitmenschen dieses Böse zufüge, muß ich außer der Tatsache, daß ich etwas Falsches tue und dafür in zukünftigen Leben Vergeltung zahlen muß, auch begreifen, was ich meinem Verstand und meinen Gefühlen antue. Bin ich irregeleitet, dann mache ich diese häßlich, entstellt und roh. Auch das ist Karma. Man kann diese Gedanken nicht denken, ohne sofort die Rückwirkung auf den eigenen Denkapparat zu spüren. Das Böse ist häßlich. Das Denken von häßlichen Dingen bewirkt, daß dieser Denkapparat auch häßlich wird. Ebenso ist es mit den Gefühlen. Wenn man häßlichen Gefühlen Raum gibt, werden sie mit jedem Tag stärker.
Reinkarnation ist nichts anderes als die natürliche Folgerung aus diesem Gesetz von Ursache und Wirkung. Wir haben auf dieser Erde bereits unzählige Male in der Vergangenheit gelebt. Wir sind jetzt hier, weil wir hierher zurückgezogen wurden. Vertraute Szenen haben uns wieder eingefangen. Es ist wie bei einem Reisenden, der sich in der Ferne befand und sehnsüchtig dem Zeitpunkt seiner Rückkehr entgegenfieberte. Die vertraute Umgebung, die häusliche Geborgenheit, der enge Familienkreis, die freundlichen, ansprechenden, vielleicht sogar von Liebe geprägten Erinnerungen sind es, die ihn zurückkehren ließen. Das ist die Begründung für Wiederverkörperung, ganz gleich, wo. Zu reinkarnieren bedeutet einfach, zu uns vertrauten Szenen auf dieser Erde zurückzukehren. Natürlich kennen wir auch noch vertraute Szenen auf anderen Planeten – aber dies ist eine andere Geschichte.
Wir Menschen sind Pilger, die ihrer Bestimmung folgen. Wir sind Kinder des Göttlichen und verfolgen auf unserer Wanderung einen bestimmten Zweck. Wir werden zweckdienlich von Karma, von unserem Schicksal, geleitet. Da wir Kinder des Göttlichen sind, haben wir in uns einen Funken göttlicher Intelligenz und göttlichen Willens. Wir können deshalb dem Universum und all seinen innewohnenden Schrecken entgegentreten, denn in uns, unbesiegbar und keinem Tod unterworfen, glüht dieser göttliche Funke. Wenn wir seinen Befehlen folgen, besitzen wir freien Willen, den freien Willen des Universums. Selbst wenn die ganze Kraft des Universums auf einmal über uns hereinbrechen würde, könnten wir nicht überwältigt werden, denn wir sind Kinder des Göttlichen. Dieses Universum sind wir selbst. Sein Herz und unser Herz sind eins und bedingen einander. Die unergründbare Verschlungenheit unseres Schicksals macht eine unergründbare Schicksalstiefe notwendig, und durch diesen Zusammenhang kann einer den anderen verstehen.
Jeder von uns hat ein gewisses Maß an freiem Willen. Ungeachtet der unwiederbringlichen Vergangenheit kann jeder von uns augenblicklich, im selben Augenblick, in dem ihm die Idee dazu kommt, sein zukünftiges Schicksal ändern. Die Vergangenheit können wir nicht ungeschehen machen. Sie schlägt sich in unserem Schicksal nieder. Wir müssen mit ihm fertig werden. Sie ist fest in uns eingebaut, aber wir können Änderungen anbringen, Modifizierungen vornehmen. Wir können uns für die Zukunft besser präparieren, indem wir von unserem göttlichen Vorrecht hier und jetzt Gebrauch machen, nachdenken und unseren freien Willen betätigen. Auf diese Weise nehmen wir unser Schicksal in unsere eigenen Hände und machen uns für die Zukunft geeigneter. In dieser Fähigkeit sind wir, wie in allen anderen Dingen, mit den Göttern, unseren Eltern, wesensverwandt.
Wie wundervoll ist die Vision, daß das empfindsame Herz und ein wacher Verstand die Fähigkeit besitzen, die Wirklichkeit zu sehen. Sie können überallhin Licht bringen. Das vermittelt ein Gefühl vollständiger Sicherheit, ein Gefühl für das Vorhandensein völliger Gerechtigkeit, ein Gefühl von tiefem Frieden. Manchmal fühlen wir, daß die Last aus unserer eigenen Vergangenheit zum Tragen fast zu schwer wird. Dann rufen wir in unserer Qual: Oh Gott, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht mein, sondern Dein Wille geschehe! Wenn ich den Kelch trinken muß, werde ich es tun. Doch trotz meiner Ängste werde ich mir dessen bewußt sein, daß ich ein Kind des Göttlichen bin. Ich werde diesen Kelch leeren, den ich durch meine eigenen guten und schlechten Handlungen in der Vergangenheit gefüllt habe, aber ich fange jetzt damit an, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Jetzt, da der Schleier zurückgezogen ist, sehe ich in der Zukunft nur unsagbare Schönheit, unbeschreibliche Heiligkeit, unendlichen Frieden, eine ständig sich vergrößernde Liebe mit ihren Ausdehnungen auf alle Lebensbereiche, vor allem aber ein grenzenloses Verständnis, das alle anderen Wesen mit meiner Liebe umschließt.
Die alte Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer
Die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer, wie sie heute von den Christen verstanden wird, hat diese tatsächlich daran gehindert, die Wiederverkörperungslehre zu akzeptieren. Aber ursprünglich war es nicht so. Die ersten Christen glaubten an Reinkarnation. Was geschah damals? Wir finden Beweise darüber, daß die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer ursprünglich im Christentum vorhanden war, dann geschah jedoch folgendes: Langsam veränderte sich das Verständnis für diese Lehre, man sah nur die Worte anstelle der spirituell-okkulten Bedeutung. Als sie zu einem rein theologischen Dogma wurde, bildete sie ein großes Hindernis oder vielmehr eine verschlossene Tür, die die wahren Nachfolger des Meisters Christus heute und in den vergangenen Jahrhunderten daran gehindert hat, diese Lehre der Hoffnung, das heißt, der menschlichen Reinkarnation, anzunehmen. Was ist geschehen?
In den allerersten Tagen des Christentums bildeten die Urchristen die Theosophische Gesellschaft jener Zeit für jenen Teil der Erde, und sie wußten und es wurde ihnen gelehrt, daß jeder in dieses Leben geborene Mensch in seinem höchsten Teil – nicht als physischer Mensch – ein Sohn des Göttlichen ist; sein Geist, seine Seele war sozusagen ein Funke des kosmischen Alls, eine atmende, lebendige Flamme aus dem Herzen des Seins. Er nannte ihn den Christusgeist im Menschen, so wie auch einige Christen heute intuitiv angefangen haben, diese heilige Lehre vom immanenten oder inneren Christus im Menschen zu verstehen. Das war der ursprüngliche, christliche Gedanke, und er wird heute in der Theosophie gelehrt, wie er in den verschiedenen Zeitaltern stets durch die Theosophie gelehrt wurde.
Unser spiritueller Teil, diese Flamme aus dem Göttlichen, ist also die unsterbliche Essenz unseres Wesens. Er ist der Anker unseres Lebens, unseres Wachstums und unseres Fortschritts von Verkörperung zu Verkörperung, indem er von jedem Erdenleben das gesamte geistige Aroma unserer guten Handlungen, unserer schönen Gedanken und edlen Ideale, die wir in Herz und Geist nährten, mit sich nimmt und von Leben zu Leben trägt. Wir nennen diesen inneren, spirituellen Teil die Monade. Sie ist der innere Buddha, der innere Christus in uns.
Daher kommt es, daß diese Monade durch uns, durch unsere Schwächen und Fehler und Irrtümer – ja, auch durch unsere guten Gedanken und Handlungen, angekettet ist, um uns, wie H. P. Blavatsky sagt, als spirituelle „Rettungsplanke“ von Leben zu Leben zu tragen, womit der innere Christus gemeint ist, gekettet an das Kreuz der Materie – unser Licht, unsere Hoffnung, unser Ursprung und unsere Bestimmung. Und weil er, gemäß der alten Lehre, an diese Sphären gekettet für uns leidet und unsere Bürde für uns trägt – unser eigenes Wesen, wohlgemerkt, unsere eigene, innerste, spirituelle Essenz, der Christus in uns – deshalb können wir sagen, – nicht im theologischen, sondern im theosophischen Sinne – daß er für uns sühnt und alles erduldet, gerade weil er unser spirituelles Selbst ist. Dieser Vorgang ist „stellvertretend“ nur in dem Sinne, daß der göttliche Teil von uns das Gewicht, die Bürde, dessen trägt, was wir, die niederen Teile, gedacht und gefühlt und getan haben; dabei läßt er uns Leben auf Leben vollkommene Gerechtigkeit widerfahren und macht uns zu dem, was wir sind und was wir werden sollen. In diesem Sinne wurde die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer zuerst verstanden: Daß der bloße Fleischesmensch nichts ist, daß aber die niedere, unentwickelte und unvollkommene Seite des Menschen diese Rettungsplanke besitzt in Gestalt seines eigenen, göttlichen Funkens, seines eigenen immanenten Buddha, seines immanenten Christus, des Gottes in sich.
Diese alte Lehre sagt uns auch, daß in dem Maße, wie der Mensch von Zeitalter zu Zeitalter wächst und sich entwickelt und Leben auf Leben lernt, dieser wahrhaft spirituelle Teil seines Wesens immer mehr in Erscheinung treten und sich durch das Gemüt, durch das niedere Gemüt, durch den gewöhnlichen Menschen zum Ausdruck bringen wird; und wenn das relativ vollkommen geschieht, haben wir einen großen Seher und Weisen, eine der verkörperten Gottheiten, einen der verkörperten Buddhas, einen der verkörperten Christusse vor uns, nennt sie, wie ihr wollt; mit anderen Worten, einen Menschen, der durch sich selbst als Menschenwesen die Gottheit, die Göttlichkeit zum Ausdruck bringt, die sein eigenes Bindeglied der Selbstheit mit dem Göttlichen ist, einen verkörperten Christus, einen verkörperten Buddha.
Trotzdem trifft es vollkommen zu, daß nur noch die Worte der Lehre an die Stelle ihrer okkulten Bedeutung traten, als diese innere Bedeutung vom immanenten Christus in Vergessenheit geriet. Die Menschen vergaßen die Lehre, daß sie selbst die inneren Christusse sind, daß sie Söhne des Göttlichen sind und daß es ihr herrlichstes Vorrecht und ihre höchste Pflicht ist, durch christusgleiches Denken, Fühlen und Leben von einer Verkörperung zur anderen diese innere Göttlichkeit immer mehr zum Ausdruck zu bringen und vom Menschentum zur Mahatmaschaft, wie wir sagen, heranzuwachsen, zur Meisterschaft, bis schließlich das Ziel erreicht ist und wir rufen können: „Mein Gott, mein Gott, wie hast Du mich verherrlicht!“ – die wahre Wiedergabe der hebräischen Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll: „’Ēlī, ’ēlī, lāmāh shabahhtānī“. Die Übersetzung dieser Worte in den christlichen Evangelien ist falsch, denn „verlassen“ oder „aufgeben“ heißt auf hebräisch ‘āzab, und shābahh heißt „verherrlichen“, „vollkommen machen“; und das Wort, das in den Evangelien steht, ist shabahhtānī, das heißt „du verherrlichst mich“, „du machst mich vollkommen.“
Der Christus im Menschen sprach; kein äußerer Christus, es sei denn in dem Sinne, daß der Christus im Menschen ein Funke des kosmischen Christus ist. Der Buddha ist im Menschen als ein individueller Funke oder Strahl des kosmischen Buddha verkörpert, das heißt, von Ādi-Buddha – ganz gleich, welchen Ausdruck man auch gebrauchen will.
So kam es, daß eine der schönsten und hilf- und trostreichsten Lehren des Urchristentums zu einem unlogischen, theologischen Dogma wurde – eine Hülle aus Worten, aus der der Geist ihrer Bedeutung entwichen ist.
Die Goldene oder die Platonische Kette
Homer war unter den Denkern Griechenlands der erste, der von der Goldenen Kette zwischen Vater Zeus und den Menschen – seinen Kindern – sprach, und daß es diese Goldene Kette der Sympathie und des Mitleids sei, welche die Götter mit den Menschen verbindet. Durch sie, so sagte er, könnten wir Menschen zu den göttlichen Sternen emporklimmen, wo Zeus, der Vater der Götter und Menschen, thront. Später wurde diese wunderbare Idee Homers von Plato so popularisiert, daß von da an die Gelehrten oft von dieser Kette als der platonischen Kette sprachen.
Nun, was ist der tatsächliche Hintergrund dieser wundervollen griechischen Idee, die so voller Hoffnung und voller göttlicher Majestät ist? Es soll damit ausgedrückt werden, daß es für die Menschen einen Weg gibt, den sie beschreiten können. Durch ihn wird es möglich, Göttlichkeit zu erlangen. Diese Kette ist in Wirklichkeit also nur ein gedankliches Bild für einen Pfad, den wir, wenn wir wollen, beschreiten können. Man sagte, die Kette sei aus Gold, weil sie uns zum goldenen Herzen von Vater Sonne, ja weiter noch, zum tatsächlichen Herzen des göttlichen Seins führt, wo die Götter sind. Entlang dieser Leiter, die die Götter und Menschen verbindet, stehen Götter und Lehrer, die uns, den Wanderern, den aufwärts Kletternden zeigen, worauf wir sehen sollten, welche Richtung wir einschlagen müssen, damit wir für immer nach aufwärts und nach innen streben. Bei jedem Glied dieser wundervollen goldenen Kette steht ein Lehrer, dessen gesamte und alleinige Pflicht darin besteht, jenen zu helfen, die unter ihm stehen. Mit anderen Worten, zwischen uns Menschen, Lernenden, die wir sind, und den Göttern, denen wir gleich werden wollen, existiert eine Hierarchie von Lehrern. Ihr alleiniger Zweck ist es, allen Wesen die auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe stehen, zu helfen.
Es gibt einen Weg, den uns die Lehrer ins Gedächtnis gerufen haben. Er ist steil und dornenreich. Trotzdem ist er begehbar.
Er führt aufwärts, nach innen, zum innersten Herzen des Göttlichen. Wir bewegen uns auf diesem Weg vorwärts, sind auch jetzt Pilger auf diesem Pfad, obwohl es leider die meisten von uns nicht wissen. Zuweilen straucheln wir, weil wir meinen, wir seien allein, aber der Weg ist da und vor uns marschieren die Weggefährten. Wir müssen sie nur sehen und bemerken. Alle bewegen sich ständig aufwärts und vorwärts. Sie tun dies bereits seit den Zeitaltern der Vergangenheit und werden es auch in der Zukunft tun. Inmitten dieser wunderbaren Armee von Pilgern bewegen auch wir Menschen uns. Einige unter uns sind nicht glücklich darüber, daß sie auf dem Pfad immer wieder stolpern und sich träge verhalten. Sie möchten sich schneller vorwärts und nach oben bewegen. Laßt uns daher uns selbst dafür trainieren, laßt uns unser eigener Lehrmeister sein und unser Geschick selbst in die Hand nehmen. Laßt den inneren und höheren Teil von uns unser Leben bestimmen. Dann werden wir schneller voranschreiten.
Das ist, denke ich, die innere Bedeutung der wundervollen griechischen Lehre von der Goldenen Kette, welche die Menschen mit den Göttern verbindet. Eine wunderbare Lehre.
Versunkene Kontinente und unser Atlantisches Erbe
Es ist wirklich enorm, wie offenkundig die Existenz kontinentaler Landmassen ist, die in prähistorischen bzw. frühen geologischen Zeitperioden versunken sind. Beweise dafür wurden durch kluge Forscher und Schriftsteller zusammengetragen, nicht nur von Theosophen. Bedeutende Wissenschaftler waren ebenso daran beteiligt wie andere Forscher, die ihre eigenen Nachforschungen betrieben. Sie alle versuchten das Rätsel zu lösen, wie sich die Flora und Fauna der heutigen Landmassen auf der Erde ausbreiten konnten und wie es diesen gelang, über Tausende von Meilen breite, wildbewegte und stürmische Ozeane von einem Kontinent zum anderen hinüberzuwechseln.
Lange Jahre versuchte man, die Existenz ähnlicher oder identischer Flora durch Vogelzüge zu erklären. Vögel fressen Samen und scheiden sie wieder aus. Auf diese Weise verbreiten die Vögel im Verlauf der Zeit die Samen über andere Länder und bewirken so ihre Verbreitung; oder Samenkapseln werden von den Wogen des Ozeans mitgerissen, und nach Wochen und Monaten, oder vielleicht nach Jahren, werden sie an eine sandige Küste geschwemmt und schlagen dort Wurzeln! Nach einiger Zeit sperrte sich jedoch der gesunde Menschenverstand gegen eine solche Erklärung. Man sah bald ein, daß diese krampfhaften Anstrengungen besserer und konkreterer Argumente als solcher spekulativer Überlegungen bedurften, um die Ähnlichkeit, wenn nicht sogar die Identität der Vegetation und der Tierwelt in weit voneinander entfernt liegenden Kontinenten, zu erklären.
So waren es die Wissenschaftler selbst, lange vor den Theosophen, die über die Existenz, bzw. die Möglichkeit einer früheren Landverbindung nachzudenken begannen, und eine solche dort suchten, wo heute die stürmischen Wogen des Atlantischen, des Pazifischen oder eines beliebigen anderen Ozeans rollen. Einige Wissenschaftler sammelten Fakten dafür, daß eine solche Verbindung in früheren Perioden der geologischen Geschichte existiert haben muß. Sie hofften, dadurch eine Erklärung für diese Phänomene zu erhalten. Als durch die Geologie und durch weitere Entdeckungen in diesem Wissenschaftsbereich erneute Beweise für die Existenz einer ähnlichen Flora und Fauna auf weit voneinander entfernten Kontinenten vorgelegt wurden, besonders als sich zeigte, daß die Flora und Fauna der Alten und der Neuen Welt sich vor allem in den Ablagerungen des Eozäns, des Miozäns und des Pliozäns ähnelten, bzw. geradezu identisch waren, da sagten sich die Wissenschaftler: Zwischen der Alten und Neuen Welt muß es irgendwann und irgendwo einmal mit Sicherheit eine Landbrücke gegeben haben. Diese Fakten bleiben nach wie vor ungeklärt.
Vor Jahrzehnten haben die Wissenschaftler bereits für noch frühere geologische Zeitalter die Existenz eines großen, kontinentalen Landmassivs im Pazifischen Ozean angenommen. Sclater nannte es nach einem kleinen, affenähnlichen Tierchen Lemurien. Später stellte man sich ein ähnliches, kontinentales Landmassiv vor, das von einigen Wissenschaftlern Gondwanaland genannt wurde, um das Rätsel der Verteilung von Flora und Fauna im Pazifik und anderswo zu erklären, das ohne diese angenommene Landverbindung nicht erklärt werden könnte. Bis heute ist dieses Rätsel nicht gelöst.
Die Abneigung der Wissenschaftler, das zu akzeptieren, was sie mit eigenen Augen sehen, ist merkwürdig. Sie selbst stellten die Frage und hatten die richtige Antwort darauf. Sie sagen: die Existenz eines atlantischen, kontinentalen Landmassivs ist vielleicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, aber sie läßt sich nicht beweisen. Den Grund für diese Haltung weiß ich nicht. Hinsichtlich des westlich von uns liegenden Pazifischen Ozeans hat man die Idee akzeptiert. Für den anderen Ozean jedoch nicht, und dennoch gibt es Beweise dafür.
Ich glaube, einer der Gründe für die Abneigung, etwas akzeptieren zu müssen, wofür Tausende von Beweisen vorliegen, besteht darin, daß man sich eine falsche Vorstellung davon gemacht hat, wie diese ehemaligen geologischen Landmassive beschaffen waren. Man scheint sich in die Idee verrannt zu haben, daß Atlantis, eine gewaltige Landmasse von völlig gleichem Typ wie unser gegenwärtiges Land-Meer-System, in einer einzigen Nacht versank, und daß das neue Land, auf dem wir jetzt leben, aus den damals existierenden Ozeanen kam. Das ist Unsinn. Sogar heuzutage weiß man, daß es auf der ganzen Welt Länder gibt, die langsam oder schnell versinken. Andere Länder wiederum steigen langsam, aber mit gleichmäßiger Stetigkeit empor. Dieser Vorgang des Unter- und Auftauchens im Verlauf langer oder kurzer geologischer Perioden ist gerade das, was vormals mit Lemurien und viele Zeitalter später mit dem atlantischen Kontinent geschah. Es dauerte Hunderttausende von Jahren, bis sich an den Hauptgebieten des großen, atlantischen Kontinentsystems, aus großen und kleinen Inseln, großen und kleinen Meeresgebieten bestehend, bemerkenswerte Veränderungen vollzogen – Landgebiete versanken, Ozeane überschwemmten die versunkenen Gebiete und andere neue Landmassen stiegen empor, um deren Platz einzunehmen. Dies hat sich in allen geologischen Zeitaltern ereignet, findet heutzutage statt und wird auch in der Zukunft stattfinden. Doch es gab auch Fälle, wo sogar ziemlich große Inseln sehr schnell, selbst nach unseren relativ kurzen menschlichen Maßstäben, versanken oder sich aus den Wassern erhoben. Immer waren diese Fälle mit Kataklysmen verbunden, wie bei Platons Insel Poseidonis. Der Untergang dieser Insel war in der europäischen Vorgeschichte, wie wir wissen, ein historisches Ereignis. Sie versank vor ungefähr elf- oder zwölftausend Jahren nach furchtbaren Erd- und Seebeben innerhalb eines Tages und einer Nacht. Poseidonis war eine Insel ungefähr von der Größe Irlands. Sie lag westlich der heutigen Straße von Gibraltar im Ozean. Sie bildete jedoch nur noch einen letzten Inselüberrest des großen atlantischen Kontinents. Von ihm blieb sozusagen nur ein kleiner Landstrich übrig, bis auch er schließlich versank.
Ähnlich war es mit Lemurien, der Heimat der dritten Wurzelrasse, wie die Theosophen sagen. Es war keine riesige Landmasse, sondern vielmehr ein ganzes System von Kontinenten, von großen und kleinen Inseln, Ozeanen und Seen. Die Verhältnisse glichen den heutigen. Tatsächlich gibt es von Lemurien und Atlantis auch heute noch Reste, die sich über dem Meeresspiegel befinden. Sie fragen, wie es mit dem wissenschaftlichen Beweis steht. Die Forderung nach der Existenz einer solchen Landverbindung ist so zwingend, daß es eigentlich keines weiteren Beweises bedarf. Wir könnten vielmehr nach einem Grund fragen, weshalb die Existenz einer solchen Verbindung unmöglich sein kann. Eine solche Fragestellung ist völlig rechtens und in sich bereits ein gewichtiges Argument. Ich wiederhole: Es läßt sich auch heute noch feststellen, vielfältig belegbar, daß die Flora und Fauna während der Periode des Eozän, des Miozän und des Pliozän in weit voneinander entfernt liegenden Gegenden und Ländern außerordentlich ähnlich war. Daraus folgt, daß für diese Zeitalter eine Landverbindung zwischen diesen einzelnen Ländern eine zwingende Notwendigkeit war. Die einzige Alternative dazu wäre davon auszugehen, daß in jenen für uns jetzt weit zurückliegenden geologischen Zeiträumen ein äußerst zivilisierter, mächtiger Stamm der menschlichen Rasse existierte, der mittels technischer Erfindungen, die den unsrigen ebenbürtig waren oder sie sogar übertrafen, imstande war, Pflanzen und Tiere infolge eigener Wanderbewegungen und durch die Errichtung von Kolonien von Kontinent zu Kontinent zu verpflanzen. Das käme aber auf dasselbe heraus.
Wenn wir anerkennen, daß sich die Länder im Verlauf der geologischen Abläufe heben und senken, und daß sie dazu langer Zeiträume bedürfen – Vorgänge, die über Jahrtausende, Jahrmillionen ablaufen – welche Antwort läßt sich dann finden? Beweisen Sie mir, daß Atlantis nicht existiert haben kann. Man könnte sich Tage und Nächte allein über die fast unzähligen Fakten unterhalten, die von Gelehrten aller Fachrichtungen über dieses Thema zusammengetragen wurden. Ganze Bücherberge wurden darüber geschrieben.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken vorbringen: Die Atlantier waren, wie wir heutzutage auch, ein großer Rassenkörper. Sie hatten unterschiedliche Hautfarbe, unterschiedliches Haar und eine andere Vorgeschichte als wir. Aber alle waren menschlich oder zumindest halbmenschlich. Einige von ihnen waren gut. Die meisten jedoch waren, wenn man nach den gängigen Vorstellungen von Gut und Böse urteilt, böse – weitaus böser als wir. Doch wir sitzen selbst im Glashaus! Weiß der Himmel, wir sind schlecht genug. Aber gegenüber unseren atlantischen Ahnen sind wir absolut ein Fortschritt. Obwohl es während der Millionen von Jahren, in denen Atlantis existierte, Millionen von Menschen gab, die dem Weg des Göttlichen und des Geistes folgten und ihn dem Materialismus und der Ausübung selbstsüchtiger Kräfte vorzogen, gefiel es der überwältigenden Mehrheit der Menschen jener Zeit, brutale Gewalt und rücksichtslose Stärke auszuüben, sich dem Materialismus zu verschreiben und den Einflüsterungen des niederen Selbst zu folgen. Selbstsüchtiges Verhalten war das dominierende Kennzeichen für die atlantische Rasse. Wir praktizieren es zwar auch noch, aber wir haben jetzt in unserer Rasse wenigstens einen Punkt erreicht, an dem wir selbstsüchtiges Verhalten nicht länger mehr glorifizieren. Wir erkennen es und schämen uns dafür. Das zeigt, daß Spiritualität, wenn auch langsam, in unser Bewußtsein eintritt. Selbst Schwindler sind sich dessen bewußt, daß Ehre, Recht, richtiges Verhalten und Rechtschaffenheit die Schlüsselworte sind, um die Herzen und Gemüter zu bezaubern. Für die Atlantier war die Ausübung von Macht und Gewalt alles. Sie verschrieben sich materiellen Dingen wie Vermögen und Reichtum. Aber es waren nicht alle so. Es gab Millionen und Abermillionen von Menschen unter ihnen, die in ihren Herzen das Göttliche, das Recht und die Gerechtigkeit hochhielten. Das waren die Auserwählten. Von diesen wurden die Mysterienschulen gegründet, die bis zum heutigen Tag existieren. In diesen Schulen hatten alle großen Religionen, Philosophien und Wissenschaften, wie sie die menschliche Geschichte kennt, ihren Ursprung. Diese wurden ins Leben gerufen, um die Menschen vor üblen Dingen zu bewahren, um zu helfen, sie zu erheben, sie sanftmütiger zu machen und zu verfeinern. So entstand die Zivilisation.
Geradeso wie die heutige Theosophische Gesellschaft aus dieser Schule stammt, so hatten auch die theosophischen Gesellschaften in früheren Zeitaltern darin ihren Ursprung. Alle wurzelten sie in den weit zurückliegenden Zeiten von Atlantis und sind mit jenen in Verbindung zu bringen, die damals das Recht, die Ehre, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Vernunft und das Mitleid höher schätzten als Gewaltanwendung, Machteinsatz und auf Selbstsucht begründete Privilegien. Wir nennen sie Söhne des Göttlichen, Söhne Gottes. Sie taten sich zusammen, bildeten eine Gruppe und errichteten die ersten Mysterienschulen. In diesen wurde anstelle von Gewalt und dunklen Selbstinteressen der Geist der Wahrheit gepflegt, verehrt und gelehrt. Man sollte darüber nachdenken, wie diese Gedanken das Denken der Menschen beeinflussen. Beobachten Sie nur einmal unsere heutige Welt und machen Sie sich klar, wie ein Denken aus selbstsüchtigem Profit, Gewinnsucht und Egoismus die Menschen in die Irre führen kann. Der alte atlantische Geist ist noch immer unter uns lebendig. Aus diesem Grunde sagte auch H. P. Blavatsky, daß das atlantische Karma noch schwer auf uns lastet, auf unseren Seelen und auf unseren Gemütern. Wir sind noch immer unter seinem Einfluß, aber wir sind dabei, uns von ihm zu befreien und uns seiner Umklammerung zu entziehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch folgendes bemerken. Es gibt gegenwärtig gewisse Leute, die sich über Theosophie äußern und sagen: „Das ist alles recht und gut, aber sie vertritt die östliche Tradition, wir folgen lieber der westlichen Tradition.“ Die Theosophische Gesellschaft als Vertreterin der östlichen Tradition zu bezeichnen ist blanker Unsinn, denn sie ist der Urahn von allen Traditionen. Sie vertritt weder eine östliche, westliche, nördliche, noch eine südliche Tradition. Sie umfaßt alle, denn alle haben in ihr ihren Ursprung. Theosophie ist die Quelle von allem. Sie betrachtet alle diese verschiedenen Erscheinungformen als ihre Abkömmlinge. Sie ist daher imstande, alle ihre Kinder zu versöhnen, zu vereinigen und ihnen Trost zu bringen, denn in spiritueller Hinsicht stammen alle von ihr ab.
Wahrlich, auch gegenwärtig hungern wir mit der ganzen Kraft unserer Herzen und Seelen nach Wahrheit. Auch heute noch ist es das Kennzeichen für einen großen Menschen oder einen großen Denker, daß er sich dem Dienen und dem Studium hingibt. Wissen Sie, das Herrlichste, was man von einem Menschen sagen kann, ist die Feststellung, daß er sich als Schüler fühlt, daß er die göttliche Weisheit studiert, daß er von seinen anderen Mitgefährten lernt, daß er anderen gegenüber gütig ist, daß er stets das Gute in dem sieht, was ein anderer anzubieten hat, und daß er immer danach strebt, in seinem Denken und in seinem Herzen Aufrichtigkeit, Anstand, Reinheit und Schicklichkeit zu praktizieren. Dies ist der „Sesam öffne dich“, der die Menschenherzen aufschließt. Lassen Sie den atlantischen Geist sterben. Lassen Sie ihn mit dem toten Gebein der Vergangenheit begraben sein. Haß, Abneigung, Feindseligkeit, Unverstand und Ungerechtigkeit sind seine Produkte, Engstirnigkeit und Bedeutungslosigkeit seine Folgen.
Drei Stufen zur Erkenntnis der Wahrheit
Die psychologische Öffnung eines menschlichen Wesens für die Wahrheit, für den Zugang zu göttlicher Weisheit – anders ausgedrückt, das Training, dem sich jeder wahre Theosoph unterzieht – beginnt in dem Augenblick, in dem er sich berührt fühlt und sein Herz öffnet, beginnt selbst dann, wenn er sich dessen gar nicht bewußt ist. Dieses Öffnen des Herzens kann in drei Stufen unterteilt werden. Wir sind mit ihnen durch den Buddhismus vertraut, der seinen Ursprung aus Indien kommend in China nimmt. Er ist unter der Sanskritbezeichnung Dhyāni-Buddhismus bekannt und wird in Japan Zen-Buddhismus genannt. Die Sache wird in etwa mit den folgenden Gedankengängen zum Ausdruck gebracht, die gleichermaßen von der Theosophie angewandt werden, denn die Zen- oder Dhyāni-Form des Buddhismus sind ja Zweige theosophischen Denkens.
Der Schüler betritt die Vorhalle des Tempels der Weisheit, und wenn er später den Tempel selbst betritt, geht er durch drei Phasen der inneren Öffnung – das sind die Worte, die benutzt werden. In der ersten Phase sind die Berge Berge, und die Gewässer der Erde sind Gewässer. Man hält sie für wert, studiert und erforscht zu werden. Man sieht ihre Wunderwelt und erfaßt sie mit den Sinnen, und trotzdem bleiben sie nur Berge und nur Gewässer.
Aber durch Studium und Verlangen nach Wahrheit stellt sich bei dem Schüler schließlich die zweite psychologische Öffnung des Charakters, des Verständnisses und seines Wesens ein. Er begreift, daß die Berge und die Gewässer, wie wunderbar und des Studierens wert sie auch sein mögen, lediglich Aspekte, Erscheinungsformen, Phänomene von dahinter liegenden Noumena sind, die Auswirkungen unsichtbarer und verborgener Ursachen. So begreift er in dieser zweiten Phase, in der er sein Inneres öffnet, daß er, wenn er die Wahrheit erreichen will, tiefer gehen und die Wissenschaft studieren muß, die sich mit den Bergen und den Gewässern der Erde beschäftigt. Er muß die Gründe ihrer Entstehung erforschen, die zugrundeliegenden Ursachen und Energien kennenlernen, welche die Berge und die Gewässer ins Leben gerufen haben. Er begreift, daß die Berge und Gewässer, da sie lediglich Wirkungen, Phänomene, Erscheinungsbilder sind, wie relativ wirklich sie auch sein mögen, nur eine Illusion, eine Māyā sind. Die wirkliche Wahrheit liegt jenseits davon und hinter dieser Māyā. Sein gesamtes Wesen wird durch diese Einsicht mit Staunen erfüllt.
Allmählich beginnt der Schüler dann die tiefe Weisheit des alten Ausspruchs zu begreifen, daß das ganze Universum eine Erscheinung und deshalb eine Illusion ist. Illusionär allein in dem Sinne, weil wir es nicht mit den richtigen Augen sehen. Es bedeutet nicht, daß das Universum nicht existiert. Das ist absurd und wäre eine falsche Schlußfolgerung. Aber er begreift, daß wir es nicht im richtigen Sinne verstehen, daß wir dahinter blicken und in sein Inneres sehen müssen. Das Sichtbare sollte als Folgerung des Unsichtbaren gesehen werden; die Wirkungen sollten uns darüber belehren, daß ihnen Ursachen vorausgehen. In dieser Phase, und dies bildet den erlesensten Teil der zweiten Periode dieses Trainingssystems, dem sich der Theosoph unterzieht und das ihm so teuer ist, weil es psychologische Schleier entfernt, beginnt er seine wahre Einheit mit allem Existierenden zu fühlen, begreift er doch, daß er, als physischer Mensch gesehen, nur ein Phänomen darstellt, eine Folgeerscheinung. Er versteht, daß er in Wirklichkeit das Ergebnis verborgener und unsichtbarer Ursachen ist. Er sieht ein, daß hinter dem Phänomen des physischen Menschen ein menschliches, geistiges Noumenon existiert. Seine Ehrfurcht wächst, und ein überwältigendes Gefühl einer alles verbindenden Schönheit senkt sich in sein Herz. Er bemerkt, daß er mit allen Lebewesen und Geschöpfen, die das Universum erfüllen, eine Einheit bildet. Von diesem Augenblick an beginnt er einzusehen, daß ethische Vorschriften nicht nur das Ergebnis menschlicher Übereinkunft sind. Moralische Prinzipien haben ihre Wurzeln tatsächlich in der Tätigkeitsweise und in dem Stoff der universalen Natur selbst. Überwältigend fühlt er seine Einheit mit allem, was ist: „Ich und mein Vater sind eins.“
Das führt zu der dritten Stufe der psychologischen Öffnung. Damit verwirklicht der Suchende das wundervollste Paradoxon, von dem er in den zwei vorhergehenden Stufen bereits Kenntnis erhalten hat. Bei diesem dritten Schritt erfährt er, daß nach innen und aufwärts, weit nach oben und dennoch stets nach innen, die Berge und die Gewässer doch real sind in einem bestimmten, wunderbaren Sinn, denn so illusorisch sie auch für unser relativ unvollständig entwickeltes menschliches Verständnis sein mögen, ist es dennoch fundamentale Realität, die sie hervorgebracht hat, genauso wie wir als Phänomen hervorgebracht worden sind.
So sehen wir gleichzeitig, daß die einzige Wirklichkeit das Göttliche ist und andererseits, daß dieses Göttliche, weil es völlige Wirklichkeit ist, in einem gewissen Sinne sogar die illusionäre Erscheinung der kosmischen Phänomene zu einer Wirklichkeit macht. Wenn wir dies auf uns selbst anwenden, fühlen wir, daß der einzig wirkliche Teil des Menschen das Göttliche in seinem Inneren ist. Und doch fühlen wir, gerade weil dieses Göttliche eine Wirklichkeit ist, daß jenes tatsächlich physische Phänomen, das wir den physischen Menschen nennen, in einem gewissen, wunderbaren Sinne, ebenso real ist. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, der Kreis hat sich geschlossen. Zunächst gab es nur die Berge und Gewässer. Sie waren die einzig realen Dinge. Dann wurden die Berge und Gewässer so gesehen, als wären sie nur die Hüllen, die Gewänder von verborgenen, unsichtbaren Wirklichkeiten. Der nächste Schritt brachte uns schließlich zu der Einsicht, daß, weil die letzteren wirklich sind, sie nicht Dinge hervorbringen können, die essentiell unwirklich sind. Wir kommen damit zu der Schlußfolgerung, daß die Berge und Gewässer, welch seltsames Paradoxon, beides sind: wirklich und eben auch unwirklich. Glücklich der Mensch, der diesen dritten Schritt verstehen kann.
Der Schlüssel, dies zu verstehen, liegt in einem Gedanken, den ich wiederum aus dem Dhyāni-Buddhismus entnehmen will, weil dieser im Westen recht gut bekannt ist, hauptsächlich durch die Schriften von Professor Suzuki aus Japan, die dieser über den Zen-Buddhismus verfaßt hat (nebenbei bemerkt, stammt das Zitat nicht von ihm). Nun zu dem Gedankengang aus dem Zen-Buddhismus. Hören Sie aufmerksam zu, denn die Bedeutung ist nicht leicht zu erfassen. „Im Wind der Berge und im Sonnenlicht der Niederungen, im Einbruch der Nacht und in den Nebelschleiern der Dämmerung ruft es laut: Jenes allein war, ist und bleibt.“
Das ganze Universum ist Jenes. Alle seine Phänomene sind von göttlichen Noumena hervorgebracht, von göttlichen Gedanken, so daß sie essentiell in einer göttlichen Einheit verschmolzen sind. In einer fast pragmatischen Weise können wir den Gedanken entwickeln und sagen, daß alle Menschen Brüder sind, daß jeder einzelne seines Bruders Hüter ist. Sehen Sie den Pfad der Führung? Jegliche Verletzung des Pfades bedeutet, daß man sich selbst in Opposition zu der gesamten universalen Natur setzt.
Es gibt einen Weg zu Frieden, Glück, Weisheit und Stärke. Wenn ein Mensch erst einmal verstanden hat, daß er mit der Natur eins ist und die Natur eins mit ihm, dann wird sein Bewußtsein, indem es Schwingungen erzeugt, schwingungsgleich mit den Pulsschlägen des kosmischen Herzens. Das ist der Grund dafür, warum die großen Weisen und Seher Wunder wirken können in der Welt: Heilen, und sich in die Luft erheben; das Bewußtsein über den Tod hinaus behalten; das denkende Ego zu weit entfernten Orten schicken und dort alles in seiner Umgebung selbstbewußt wahrzunehmen und zu sehen und viele Dinge mehr. Das Universum und wir sind eben eins. Es gibt nur ein Leben, und dieses Leben ist ebenso kosmisches Denken.
Aham Asmi Parabrahma
Strahlender Glanz kennt wie die allmächtigen Schwingen der Liebe keine Grenzen, er vermag alles zu durchdringen. Dieser Gedanke kam mir heute Nachmittag in den Sinn, als ich unserem Vortragsredner zuhörte, der uns so schöne und tiefgründige Ausschnitte aus den archaischen Weisheitslehren der Menschheit vortrug – Lehren, die nicht einer einzelnen Rasse und nicht einem bestimmten Zeitalter angehören und die, da sie ursprüngliche Wahrheit sind, so wie sie uns Menschen hier auf der Erde gelehrt werden, nicht nur in irdischen, sondern auch in göttlichen Sphären gelehrt werden müssen. Es fiel mir auf, daß der Kern seines hervorragenden Vortrags folgender war: daß wir Menschen, wie tatsächlich alle anderen Dinge und Wesenheiten auch, nur Teile eines gewaltigen kosmischen Ganzen sind, trotz unserer Mängel und Mißerfolge engstens miteinander verbunden, unser gemeinsames Schicksal weben. Deshalb reagieren wir auch in dem Maße, wie unser individuelles Verständnis entwickelt ist, auf jenen kosmischen Ursprung, den die Christen Gott nennen, und den ich lieber als das Göttliche bezeichne, aus dem wir kamen, und mit dem wir auf immer untrennbar verbunden sind und sein werden, und in das wir nach unserer zeitalterlangen Pilgerfahrt zurückkehren werden. Wenn wir Menschen doch nur diesen einen Gedanken in unserem Herzen lebendig erhalten könnten und unser Denken jeden Tag davon anregen ließen! Wie würde dadurch die Mühsal des menschlichen Lebens gemildert, wie sehr würden wir Menschen dadurch gelehrt, unsere Brüder wie Brüder zu behandeln und nicht wie böse Feinde!
Sehen Sie nicht, daß diese Lehre wunderbar ist, weil es die Lehre eines Genius ist? Sie enthält alles, das ganze Gesetz und die Propheten. Und wie lautet diese Lehre? Kurz und bündig besagt sie einfach, daß das kosmische Leben ein kosmisches Drama darstellt, in dem jedes Wesen – sei es ein Übergott, Gott, Halbgott, Mensch, Tier, eine Monade oder ein Atom – seine ihm gemäße Rolle spielt; und daß all diese dramatischen Darstellungen miteinander verwoben sind und zu einem einzigen großen kosmischen Ziel führen – zu dem es, nebenbei gesagt, keine Alternative gibt. Daher kommen wir mit jedem Menschentag jener Zeit in der ungeheuer weit entfernten Zukunft näher, wo wir alle wieder einmal wiedervereint in den tiefen Schoß äußersten kosmischen Seins eingehen werden – nennen Sie es Gott, nennen Sie es Göttlichkeit, nennen Sie es Geist, wie immer Sie wollen. Dann wird das Drama beendet sein. Der Vorhang wird fallen, und es wird eine Ruheperiode beginnen, die wir Theosophen als Pralaya bezeichnen. Aber genauso wie im Menschenleben nach der Nacht wieder der Tag beginnt, dämmert am Ende der Nacht des Pralaya wieder das Manvantara, der kosmische Tag. Der Vorhang auf der kosmischen Bühne geht wieder einmal hoch. Jede Wesenheit, jedes Wesen beginnt dann sein kosmisches Spiel, seine Rolle, exakt an dem metaphysischen und mathematischen Punkt, an dem es aufhörte, als die Glocken des Pralaya jenen kosmischen Vorhang über das Manvantara oder die eben beendete Weltperiode herabläuteten. Alles beginnt wieder, genau wie eine Uhr oder Armbanduhr, die stehengeblieben war und wieder aufgezogen wurde, wieder an dem Punkt anläuft, an dem ihre Zeiger stehengeblieben waren.
Dieser einfache Begriff der Identität des Menschen mit dem Kosmos, mit all den religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen und moralischen Folgerungen, die darin enthalten sind, ist älter als der denkende Mensch. Wir sind eins, und dennoch wissen wir es nicht, wir erkennen es nicht, so daß wir in dem Drama des Lebens auf der Bühne all diese Torheiten begehen, und die Tragödie wird zur Komödie, und die Komödie wird durch unsere eigene Schuld zur Tragödie!
Ich möchte etwas zitieren, das ich liebe und von Kindheit an geliebt habe. Ich lernte es, als ich ein Kind war, und fand es wieder in dem Buch Die Geheimlehre von H. P. B., als ich nach meiner Jugendzeit in die T. G. eintrat. Es ist folgendes: Die Szene zeigt einen Hindu-Guru oder Lehrer. Ein Schüler steht oder sitzt vor ihm, und er prüft das Wissen dieses Schülers in bezug auf die Lehren, die dieser Schüler empfangen hatte, und er fragt: „Chela, Kind, erkennst du in den Lebewesen um dich etwas, das von dem Leben, das durch deine Adern fließt, verschieden ist?“ „Es besteht kein Unterschied, o Gurudeva. Ihr Leben ist das gleiche wie mein Leben.“ „Oh Kind, erhebe dein Antlitz, und betrachte den violetten Dom der Nacht. Betrachte jene herrlichen Sterne, jene Wesen, die in der kosmischen Pracht über unseren Häuptern funkeln und strahlen. Siehst du das kosmische Feuer, das in allen Dingen brennt und das ganz besonders hell in diesem und jenem und dem leuchtenden Stern dort drüben scheint? Kind, erkennst du irgendeinen Unterschied zwischen diesem kosmischen Licht und dem kosmischen Leben, das aus unserem eigenen Tagesgestirn hervorleuchtet, oder dem, das in deinem eigenen Herzen Tag und Nacht brennt?“ Und das Kind antwortet: „O Gurudeva, ich sehe keinen Unterschied zwischen Leben und Leben, zwischen Licht und Licht, zwischen Kraft und Kraft, zwischen Geist und Geist, außer in Abstufungen. Das Licht, das in meinem Herzen brennt, ist das gleiche Licht, das im Herzen aller anderen brennt.“ „Du siehst gut, Kind. Nun vernehme den Kern dieser ganzen Lehre: AHAM ASMI PARABRAHMA.“ Und das Kind, das in Sanskrit unterrichtet worden war, im vedischen Sanskrit, versteht und neigt sein Haupt, „Prāñjali“. Dies bedeutet: „Ich bin das Grenzenlose, ich selbst bin Parabrahma, denn das Leben, das in mir pulsiert und mir meine Existenz verleiht, ist das Leben des Göttlichsten des Göttlichen.“ Kein Wunder, daß das Kind begriffen hat. Bin ich ein Kind Gottes? Im innersten Grunde ist es das einzige, was ich bin, und wenn ich versäume, dies zu erkennen, ist es nicht die Schuld des Göttlichen, sondern meine eigene.
Sie werden diese Lehre in jedem der großen Systeme finden, die der Genius der Menschheit errichtet hat. Religion ist sie; die Philosophie entstand aus ihr; und die Wissenschaft strebt jetzt hin zu ihr und fängt an, schwach zu ahnen, was sie bedeutet. Denken Sie an unsere kleinen, menschlichen Angelegenheiten – klein, wenn man sie mit der gewaltigen kosmischen Majestät vergleicht, die uns in schützender Fürsorge umgibt –, denken Sie, wie es wäre, wenn jeder Mann und jede Frau auf der Erde völlig von der absoluten Realität dieser kosmischen Wahrheit überzeugt wäre! Nie mehr würde dann ein Mensch seine Hand gegen einen anderen Menschen erheben. Es gäbe stets nur die ausgestreckten Hände der Hilfe und Bruderschaft. Denn ich bin mein Bruder – in unserem Innersten sind wir eins. Und wenn wir getrennt sind, dann wegen der Kleinlichkeiten, die uns sozusagen zu einem Atom statt zu der spirituellen Monade machen, die für jeden einzelnen von uns der Ursprung ist. Diese Monade ist durch und durch aus dem Stoff der Göttlichkeit. Wie Jesus der Avatāra es in seinem wunderbaren Ausspruch sagte: „Ich und mein Vater sind eins“ – der Vater und der göttliche Funke, der Funke der Göttlichkeit, der mit dem kosmischen Leben identisch ist, mit dem universalen Meer des Lebens –, um ein anderes Bild zu gebrauchen. Diese Vorstellung vom kosmischen Meer des Lebens, von dem wir alle in unserem Innersten und Höchsten ein Tröpfchen sind, hatte Gautama, der Buddha, im Sinn, als er von jenem letzten Ende aller Wesen und Dinge sprach; denn alle Wesen und Dinge sind, wie er sagte, in ihrer Essenz selbst Buddha, und eines Tages werden sie selbst Buddhas werden, wenn, wie es Edwin Arnold so wundervoll ausdrückte, der Tropfen Tau in das Meer von Licht entschwindet. CONSUMMATUM EST.
Chronologie
(Die einzelnen Beiträge nach ihrem Entstehungsjahr geordnet, soweit dies möglich war)
1931
Die exoterische und die esoterische H. P. B.
1934
Was ist Wahrheit?
Verlagern wir unser Bewußtseinszentrum
1937
Stärke und Ausgewogenheit im Okkultismus
Zivilisation wird aus Gedanken erbaut
Der einzige Ausweg
Der Lohn des Selbstvergessens
Die Theosophie Chinas
Junge Menschen und Theosophie
Die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen
Laßt das Christuskind leben
1938
Altruismus
Die göttliche Entsprechung
Der direkte Weg zur Weisheit
Warum nicht über sich selbst lachen?
Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung
Die Beseelung des Menschen
Die Welt mit Ideen erobern
Die Verantwortung der Wissenschaftler
Über das Heilen
Zeit, Dauer und das ewige Jetzt
1939
Wo die Meister arbeiten
Der Prüfstein der Wahrheit
Verhaltensregeln
Gesunder Menschenverstand zu Hause
Ermutigung auf dem Pfad
Die Orakel der Alten
Der Weg der Natur nach dem Tod
Der Wein als mystisches Symbol
Die alte Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer
Gebet und Streben
Furcht, die große Zerstörerin
Wir haben keine Dogmen
1940
Der Wind des Geistes
Der Mensch ist sein eigener Erbe
Nach dem Tod bist Du – Du selbst
Schönheit und Wissenschaft
Gestalten Sie Ihr Schicksal
Die Essenz von H. P. Blavatskys Botschaft
Der Yoga der Theosophie
Das verständnisvolle Herz
Karma: angenehm und unangenehm
Die Überwindung des Zweifels
„Die Rache ist mein“
Das menschliche Bewußtsein
Theosophen und Gebet
Verlust der Seele und Unaufrichtigkeit
Mißbrauch des freien Willens
Hilfe von den Göttern
Die Natur in stillem Gebet
Zwei Auffassungen von der Realität
Engel und Dämon
Wo kann die Wahrheit gefunden werden?
Wissen bringt Verantwortung
1940 (Fortsetzung)
Der Widersacher
Die lebenden Buddhas in Tibet
Die Goldene oder die Platonische Kette
Drei Stufen zur Erkenntnis der Wahrheit
Über die Vorbestimmung
Die jungfräuliche Geburt
Der Weihnachtsbaum
1941
Wo sind die Weisen und Seher?
Errette Dich selbst
An jene, die trauern
Wenn man Fehler macht
Die Vision Buddhas des Herrn
Stärke durch Übung
Eine ausgeglichene und visionäre Haltung
Karmische Folgen und Bardo
Hilfe von den Göttern
Führe uns nicht in Versuchung
Mit Sanftheit und Güte gewinnen
Pflicht und moralisches Gleichgewicht
Drei Aspekte Karmas
Die vier Yugas
Wie kann man Reinkarnation beweisen?
Gedanken über Karma
Versunkene Kontinente und unser atlantisches Erbe
Soll man Vorsätze fassen?
Wie Ostern ein christliches Fest wurde
Universalität und die Esoterische Tradition
1942
Das Gebot des Pythagoras
Wo zwei oder drei versammelt sind
Die Hingabe des Selbst
Initiation und Leiden
Der Schutzengel
Überwachen Sie Ihre Denkprozesse
Vergebung und karmische Handlung
Ein Leben – ein Gesetz
Der Mensch in einem gerechten und geordneten Universum
Der Berg des Verstehens
Das unbesiegbare Feuer des Geistes
Das Geheimnis der menschlichen Konflikte
Das Herz wird gewogen
Was ist das Alter?
Die verlorene Sache des Materialismus (13. September)
Aham Asmi Parabrahma (20. September)