Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
- Theosophische Perspektiven
Devachan, die Himmelswelt
Die „rosige Schönheit“ der Himmelswelt: Das sind die Worte eines Lehres, der uns einen ersten flüchtigen Eindruck davon vermittelt, was uns die Theosophie über Devachan erzählt. Unter ‘Devachan’ versteht man jenen Seinszustand, in den sich das reinkarnierende Ego – allgemein als ‘Seele’ bezeichnet – allmählich nach Vollendung des Auflösungsprozesses beim zweiten Tod zurückzieht.
Das folgende Zitat beschreibt Devachan etwas näher:
Dieser Ausdruck ist ein zusammengesetztes sanskrit-tibetisches Wort: … Man kann es übersetzen mit Götterland, Götterreich. Es ist jener Zustand zwischen zwei Erdenleben, in den die menschliche Wesenheit, die menschliche Monade, eingeht und dort in Seligkeit und Ruhe bleibt. …
Devachan bedeutet Erfüllung aller unerfüllten spirituellen Hoffnungen der vorigen Verkörperung. Darin kommt all das spirituelle und intellektuelle Sehnen zur Blüte, das in jener vergangenen Verkörperung keine Gelegenheit zur Erfüllung hatte. Es ist eine Periode unaussprechlicher Seligkeit und unsagbaren Friedens für die menschliche Seele, bis die Zeit der Ruhe und der Wiederherstellung der eigenen Kräfte beendet ist.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch
Wer hat nicht bei einem Rückblick auf sein Leben feststellen müssen, dass die meisten, vielleicht auch alle seine schönsten Träume unerfüllt geblieben sind? Auf unsere Jugendideale, die so rasch ‘im Licht des Alltags’ verblassten, folgten unsere Träume von wahrer Freundschaft, die wir niemals fanden, von musikalischen, literarischen, wissenschaftlichen oder humanitären Leistungen, die wir erstrebten, jedoch nie erreichten. Vielleicht ergab sich nicht einmal eine Gelegenheit, es zu versuchen. Und dann gibt es die Dinge, die wir so gerne für unsere Lieben getan hätten, aber wir waren zu ungeschickt oder zu beschäftigt, um sie auszuführen.
Diese Wünsche sind unser edelster Teil. Mehr als das – sie sind Energien, die – weil sie nicht zum Ausdruck kommen – umso stärker und mächtiger werden, solange sie in der Stille gehegt werden. Da sie Kräfte sind, müssen sie irgendwo Früchte tragen; und jene Früchte werden natürlich dort wachsen, wo sie ihren Ursprung hatten. Es sind diese Kräfte, die für uns die Bedingungen der Götterwelt erschaffen, der Himmelswelt – Devachan. Wir haben gesehen, dass die durch seine eigene unbewusste Aktivität erschaffenen niederen, mentalen Wünsche des Menschen dazu beitragen, die Bedingungen für seinen Bewusstseinszustand während seines Aufenthaltes in Kāma-Loka zu bestimmen, das unsere Erde mit einer mental-emotionalen Atmosphäre umgibt. Ebenso bauen seine höheren Gedanken, Sehnsüchte und Bestrebungen nach spirituellem Selbstausdruck sein Devachan auf. Devachan ist jener Bewusstseinszustand, in dem er von diesen höheren Kräften umgeben ist, die ihm spirituelle Früchte an Freude, Schönheit und Frieden bringen.
Nun könnten wir verleitet sein anzunehmen, Devachan wäre dem christlichen Himmel ähnlich. Aber in Wirklichkeit bestehen hier grundlegende Unterschiede. Vor allem kann die kreative Evolution des Menschen nur durch Wiedergeburt auf Erden stattfinden. Die Periode von Devachan bringt keine neuen Muster in der Entwicklung hervor; sie trägt nur die Früchte der spirituellen Aspekte der Erfahrungen, die im vergangenen Leben ihren Ursprung haben. Deshalb ist Devachan nur ein vergänglicher Zustand. Mehr noch, Devachan ist lediglich eine Erweiterung – eine subjektive Fortsetzung – des Karmas aus dem vergangenen Leben des Egos. Der Charakter von Devachan, die Schönheit, das Glück und die Dauer der Episoden werden lediglich durch die Entfaltung jener spirituellen Gedanken und Bestrebungen definiert, die das Ego während seines irdischen Lebens empfunden hat.
Die Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod wurde bereits angesprochen. Der Schlaf – und wir betonen es abermals – ist ein unvollständiger Tod; der Tod ist ein vollständiger und perfekter Schlaf. Deshalb muss dem Tod, genau wie dem Schlaf, ein Erwachen zu einer neuen Periode der Aktivität in einem Erdenleben folgen. Und darin liegt selbstverständlich der größte Unterschied zwischen Devachan und dem christlichen Himmel.
Aber es gibt noch eine andere bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen dem Tod und dem Schlaf. Im Schlaf träumen wir und in unseren Träumen begegnen wir Menschen, die wir kennen; die Träume sind von vielerlei Erfahrungen erfüllt, die – solange sie andauern – genauso lebendig und fesselnd sind, wie die im Wachzustand. In Träumen können und führen wir Dinge aus, zu denen wir im täglichen Leben niemals imstande wären. Wir können vielleicht malen oder auf einem Instrument spielen, das wir lieben. Es gibt Menschen, die in ihrem Traum auf einem Musikinstrument spielen können, von dem sie im Wachzustand noch nicht einmal eine Ahnung haben. Manchmal begegnen wir interessanten neuen Freunden oder reisen in unbekannte Länder. Diese Träume, die schön oder unangenehm sein können, sind das Resultat unserer täglichen Gedanken und Wünsche, die sich auf diese Weise auswirken, wenn die Kontrolle des Verstandes nachlässt.
Der Tod, der nur ein längerer und vollständigerer Schlaf ist, ist ebenfalls eine Zeit des Träumens. Während jedoch unsere Träume in der Nacht oft beängstigend sind, sind sie nach dem Tod voller Trost und Schönheit. Denn wir haben die niederen Teile, in denen Alpträume aufkeimen und Leiden entsteht, abgelegt. Diese niederen Elemente wurden beim zweiten Tod zerstreut. Nichts ist in uns zurückgeblieben, wodurch wir leiden könnten, denn wir verweilen nun im Licht und der Reinheit der harmonischen Reiche des Geistes. Und über uns ist das göttliche Schild des spirituellen Selbst. Aber:
Während des Schlafs und nach dem Tod geht jeder Mensch zu den Plätzen, auf die er durch sein Denken und seine Bestrebungen, oder auch ohne diese, Anspruch hat. Anders ausgedrückt, es ist alles eine Frage der synchronen Vibration – der Mensch geht in sein natürliches Heim, sei es hoch oder niedrig.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:171
Die in Devachan verbrachte Zeit dauert durchschnittlich fünfzehnhundert Jahre. Die individuelle Regel lautet: hundert Jahre in Devachan für ein Lebensjahr auf Erden. Ein Mensch, der mit 50 stirbt, wird also 5 000 Jahre in Devachan verbringen, wenn er mit 80 stirbt, 8 000 Jahre und so weiter. Der niedrige Durchschnitt von 1 500 Jahren ergibt sich aus dem sehr großen Anteil von Menschen, die – aufgrund ihrer materialistischen Natur – in sich kein Fundament für die spirituellen Freuden von Devachan bilden und deshalb nicht in der Lage sind, über längere Zeit nicht erneut auf der Erde zu inkarnieren.
An dieser Stelle sollten wir uns daran erinnern, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen einem bösen und einem lediglich materialistischen Menschen gibt. Nur die wirklich bösen Menschen, die durch Selbstsucht oder Triebhaftigkeit willentlich anderen Leid zugefügt haben, leiden in Kāma-Loka. Es gibt viele wohlmeinende und ehrliche Menschen, die nur für ihre eigenen Interessen und Vergnügungen leben. Sie leiden nicht in Kāma-Loka, da sie kein bewusstes Leid zugefügt haben. Sie können jedoch auch nicht die segensreichen Zustände von Selbstausdruck und Selbsterkenntnis der Himmelswelt erfahren. Wie könnten sie auch, da sie kein Fundament in ihrem Inneren gelegt haben? Weiter ist es beruhigend zu wissen, dass selbst das Leid jener, welche die mentalen Qualen von Kāma-Loka erleben, ein Ende hat, wenn die von ihnen angehäuften Energien zur Neige gehen; dann fallen sie in jenen Zustand von Unbewusstheit, der zu einer Wiedergeburt auf der Erde führt. Und während der Reinkarnation – wenn sie in ihrer eigenen Umgebung dem Leid begegnen, das sie anderen zugefügt haben – werden sie verstehen lernen, was Selbstsucht bedeutet, und so die Chance haben, aus dem Bösen zu Sympathie und Mitleid zu wachsen.
Auf einen bereits früher angesprochenen Aspekt zurückkommend wollen wir uns auch daran erinnern, dass das Leben nach dem Tod nicht ein Zustand der Existenz ist, der wie durch einen Abgrund von uns, so wie wir jetzt sind, getrennt ist. Die Zustände nach dem Tode sind: erstens die Auflösung unserer physisch-astralen und danach unserer niederen mentalen und emotionalen Bewusstseinszentren; zweitens – wenn das abgeschlossen ist – wird das Leben auf einer höheren als der uns jetzt bekannten Ebene fortgesetzt – in der unbegrenzten Aktivität unserer spirituellen Natur, in Zuständen, in denen sich diese Natur zum ersten Mal wirklich entfalten und erfüllen kann.
Die Furcht vor dem Tode beruht auf falscher Erziehung, die uns keine Vision über ein Leben nach dem Tod bietet, das in logischer oder normaler Beziehung zu dem steht, was wir hier auf der Erde kennen oder erfahren. Aber es gibt einen Faden der Kontinuität, der alle Erfahrung des Menschen in allen Welten durchzieht und die unsichtbaren Welten mit der Welt verbindet, in der wir heute leben.
… Wenn ein Mensch stirbt, dann ist es genauso, als würde er in einen sehr tiefen Schlaf fallen, in äußerste süße Unbewusstheit, es sei denn, dass das vitale Band abgerissen ist; dann ist die Seele, wie der Ton einer sanften goldenen Note, augenblicklich frei.
Was während des Schlafes geschieht, ist eine schwache Andeutung dessen, was mit einem Menschen beim Tod vor sich geht. Das persönliche Ego gerät in Vergessenheit und sein Bewusstsein wird in den spirituellen Teil zurückgezogen, wo es ruht und vorübergehend seinen Frieden findet. …
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:171