Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
- Theosophische Perspektiven
Tod und Wiedergeburt
Es ist kaum möglich, sich ein Weiterleben nach dem Tod vorzustellen, ohne auch nur an Prä-Existenz und Wiedergeburt zu denken, denn wenn man annimmt, dass etwas kein Ende hat, so muss man auch annehmen, dass es keinen Anfang hat. In einem logischen Gedankensystem müssen wir nicht nur beschreiben und erklären, was nach dem Tod passiert, sondern auch, was vor der Geburt stattfindet.
Und genau hier ist es auch interessant, die unmittelbaren Ursachen für die Reinkarnation des Egos zu untersuchen. Wiederverkörperung ist natürlich ein ‘Gesetz’, das heißt eine universale Gewohnheit der Natur. Alles im Universum verkörpert sich wieder – ein Elektron, ein Atom, ein Mineral, eine Pflanze – das heißt, die Monaden, die durch diese Formen evolvieren, müssen sich wiederverkörpern. Dasselbe trifft auf ein Tier, einen Menschen, einen Planeten, eine Sonne, ein Sonnensystem, ein Universum zu – nichts kann seinem essentiellen Schicksal der Evolution oder Entfaltung seiner inneren Natur und Kräfte durch Wiederverkörperung, stetig fortschreitende Organisation und sich verändernde Lebensumstände entgehen. Selbstverständlich nimmt auch das menschliche Ego an dieser universalen Gewohnheit der Selbstentfaltung teil.
Aber was uns jetzt vor allem interessiert, sind die unmittelbaren Ursachen, welche die Reinkarnation auf der Erde bewirken, und die Arbeitsweise, die in diesem Prozess befolgt wird. Die Monade, das spirituelle Selbst, vollbringt ihre Wanderungen durch die sieben heiligen Planeten mit dem reinkarnierenden Ego ‘schlafend in ihrem Schoße’. Aber wie immer in der Natur muss das, was ruht oder schläft, erwachen und aufs Neue seine selbstbewusste Aktivität mit dem Ziel aufnehmen, seine eigene Evolution fortzusetzen.
So erreicht schließlich das reinkarnierende Ego allmählich das Ende seiner Periode der devachanischen spirituellen Assimilation. Undeutliche, aber unwiderstehliche Erinnerungen an seine früheren Erdenleben lassen es aus seinem glücklichen Schlaf erwachen. Alle Prozesse in der Natur sind so harmonisch, flexibel und selbstregulierend, dass die Monade ihre Wanderungen durch die inneren und äußeren Runden zu der Zeit vollendet, in der auch das reinkarnierende Ego das Ende seiner Traum-Ruhe in der monadischen Essenz erreicht.
Wie also klar sein dürfte, hat infolgedessen ein Ego, ob es ein langes oder im Gegenteil ein kurzes Devachan hat, in keinem Falle irgendwelche Schwierigkeiten. Denn die spirituelle Monade wird mehr oder weniger stark von der spirituellen Beschaffenheit oder Qualität des sich wiederverkörpernden Ego, welches es in seinem Schoße trägt, beeinflusst. So kommt es, dass die Pilgerfahrt der spirituellen Monade hinsichtlich der Zeit, welche die interplanetarische Pilgerfahrt in Anspruch nimmt, bis zu einem gewissen, oftmals sogar hohen Maß gesteuert wird.
– The Esoteric Tradition, S. 885
Das reinkarnierende Ego wird deshalb allmählich ‘herunter’ oder ‘nach außen’ geführt – durch die unsichtbaren interplanetarischen Sphären, bis es wieder beginnt, sich der Schwelle des irdischen Lebens zu nähern. Hier sendet es aus sich selbst eine manasische Strahlung oder einen Strahl. Die Anwesenheit dieses Strahls hat eine dynamische Wirkung auf all jene Energiezentren, die zurückgelassen wurden, als es das letzte Mal durch die Tore des Todes hier auf der Erde ging. Die Lebensatome, aus denen diese Energiezentren oder Prinzipien oder Elemente bestehen, beginnen dann, sich um den manasischen Strahl wie um einen Kern zu kristallisieren. Wie bereits gesagt, gibt es vier solcher Prinzipien oder Elemente, und sie bilden die niedere Vierheit oder das niedere Selbst, welches das Ego in seinem letzten Leben als Vehikel benutzte. Es sind: Kāma, die Begierde; Prāṇa, das Lebensprinzip oder die Vitalität; der Astral- oder Modellkörper, der Liṅga-Śarīra; und die physische Hülle oder der Śthūla-Śarīra. Sobald diese vier Prinzipien wieder damit beginnen, rund um den manasischen Strahl eine Form zu bilden, tritt die Persönlichkeit – Kāma-Manas – wieder in ihre irdische Existenz ein.
Das Ende dieses Prozesses wird folgendermaßen umschrieben:
Schließlich erreicht der Strahl oder die Strahlung des sich wiederverkörpernden Egos den kritischen Punkt oder jene Stufe seines ‘Abstiegs’, auf der er zu der besonderen, bestimmten menschlichen Keimzelle hingezogen oder von ihr angezogen wird, deren Wachstum – wenn es nicht unterbrochen wird – in einen physischen Körper mündet. Die psycho-magnetischen Anziehungskräfte und inneren Impulse des sich wiederverkörpernden Egos haben es … karmisch zu der Zelle hingeführt, die unter einer Anzahl anderer möglicher Zellen die geeignetste ist, Vater und Mutter zu ihrer Zeit zu vereinigen, um das zu geben, was man bildhaft vielleicht die magische Verbindung vereinigten ‘Lebens’ nennen könnte. …
Von diesem Augenblick an beginnt das lebende Protoplasma von innen nach außen zu wachsen und nach und nach das, was in ihm aufgespeichert ist, zur Manifestation zu bringen.
– Ebenda, S. 888
Das Ego wird gewöhnlich zu jener Familie und dem sozialen Umfeld hingezogen, in welchem es beim letzten Tod seines physischen Körpers seine Lasten, Probleme und Verwandten zurückgelassen hat. Nähere Details zu diesem Thema finden sich in einem anderen Büchlein dieser Reihe: Karma und Reinkarnation.
Das Studium des Todes und der nachtodlichen Zustände von Bewusstsein und Erfahrung ist für jeden von größter Bedeutung – und zwar unter anderem aus folgenden Gründen:
(1) Das Studium lehrt uns, wie die Kluft überbrückt werden kann, die nur offenbar wird – zwischen uns selbst und denen, die wir lieben, sobald sie in die unsichtbaren Welten hinübergegangen sind. Und das nimmt dem Tod den Stachel.
(2) Es löst die Furcht vor dem Tod in unserem Herzen und inspiriert uns zu einer großen Hoffnung und zu einem Sinn des Lebens, damit wir das Heute so gestalten, dass der morgige Tod gut sein wird.
(3) Wir können den Tod nicht verstehen, ohne die Geheimnisse unserer eigenen Natur kennenzulernen. Ihr Studium und ihre Bemeisterung wird zu einer Erneuerung des gesamten Lebens sowohl hier als auch im Jenseits führen.
Die Theosophie bietet uns ein Bild von der Gesamtheit vieler Prozesse in der Natur, welche die Wissenschaft heute nur als Halbwahrheiten ansieht. Dazu gehören die Schwerkraft und die Evolution, wie H. P. Blavatsky in The Secret Doctrine erklärt. Die Wissenschaft betrachtet das Leben des Menschen zum Beispiel als eine gerade Linie, als ein Fragment, während es ein infinitesimaler Teil eines mächtigen Kreises ist, der sich in wechselnden Graden von Licht und Schatten emporwindet – eine gewaltige spirituelle Spirale. Sie tendiert aufwärts, immer langsam nach oben, und führt den Menschen aus den dunklen Schatten eines einzelnen Erdenlebens hin zum leuchtenden Bogen der Periode zwischen zwei Leben; und dann wieder zu einem nächsten Schatten-Abschnitt irdischer Existenz und so weiter, immer noch allmählich emporsteigend, bis das Ziel schließlich erreicht ist.
Wenn wir vom Ziel oder ‘Ende’ des Evolutionsprozesses sprechen, von dem das Leben auf dieser Erde ein Abschnitt ist – mit dem Tod als dem einen und dem Zeitraum danach als dem anderen –, bedeutet dieses Ziel auch nur ein relatives Ende. Es ist nicht mehr als eine Haltestelle, eine Periode der Ruhe und spirituellen Assimilation einer höheren Art.
Wir haben jetzt ein einigermaßen detailliertes Bild darüber, was der Tod wirklich bedeutet und über seinen Platz in der Evolution des Menschen. Es könnte hilfreich sein, die diesen Prozess betreffenden Stadien kurz zusammenzufassen, welche das menschliche Bewusstsein durchläuft, wenn das spirituelle Selbst durch den Tod befreit wird. Diese sind:
1. Der ‘Tod’ an sich oder das Abwerfen, der Zerfall des physischen Körpers, verursacht durch die Durchtrennung des Bindeglieds zwischen dem spirituellen Selbst und seinen niederen Prinzipien. Der astrale Modellkörper oder Liṅga-Śarīra löst sich jetzt auch auf – ein Prozess, der in hohem Maße durch die Verbrennung des physischen Körpers beschleunigt wird.
2. Die Rückschau des reinkarnierenden Egos auf die Geschehnisse des gerade beendeten Lebens. Das ist ein sehr wichtiger und feierlicher Teil des Prozesses, in dem das Ego jeden Gedanken und jede Tat seines Lebens betrachtet und deutlich die Gerechtigkeit und Bedeutung der Ereignisse des Lebens erkennt. In der unmittelbar auf den Tod folgenden Zeit sollte um den Verstorbenen vollständige und ehrfürchtige Stille herrschen, so dass kein Hauch einer Störung aus der äußeren Ebene das notwendige und heilige Geschehen unterbrechen kann.
3. Das Einschlafen der menschlichen Persönlichkeit oder des menschlichen Bewusstseins, während die beiden folgenden Prozesse stattfinden.
4. Die Auflösung des Kāma-Rūpa, wenn er nicht durch Einmischung eines Mediums am Leben gehalten wird.
5. Der zweite Tod, bei dem die spirituelle Essenz der Persönlichkeit durch das Ego absorbiert wird. Die beiden letzten Prozesse sind dem gewöhnlichen Menschen nicht bewusst.
6. Der Übergang des reinkarnierenden Egos in seine devachanische Ruhe im Schoße des spirituellen Selbst oder der Monade.
7. Die Wanderungen oder die kosmischen Reisen der Monade oder des spirituellen Selbst während seines ‘Göttlichen Abenteuers’, wobei es das reinkarnierende Ego in seinem Schoße bei sich trägt.
8. Das Wiedererwachen des reinkarnierenden Egos für die Anziehung des Erdenlebens und sein Abstieg zur Reinkarnation in eine neue Persönlichkeit.