Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
- Theosophische Perspektiven
Schlaf und Tod
Die Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod hat die Denker aller Zeiten beeindruckt. Die alten Griechen hatten ein Sprichwort: „Schlaf und Tod sind Brüder.“ Denn der Tod stellt das gleiche Phänomen dar wie der Schlaf – nur in einem größeren und tieferen Ausmaß. Wir wissen alle, dass der Schlaf ein zeitlich begrenzter Zustand ist, weil wir ihn verstehen oder uns einbilden, es zu tun. Den Tod betrachten wir jedoch als das Lebensende, obwohl wir ihn eigentlich nicht in dieser Weise mit dem Leben in Zusammenhang bringen sollten. Wir sollten nicht ‘Leben und Tod’ sagen, sondern Geburt und Tod. Bei der Geburt denken wir nicht an etwas Endgültiges, weil wir wissen, dass ihr der Tod folgt. Aber die Theosophie zeigt uns, dass auch der Tod nichts Endgültiges ist. Der Tod ist nicht nur eine Geburt des spirituellen Menschen auf einer höheren Daseinsebene, sondern dem Tod folgt schließlich die Wiedergeburt des Menschen auf der Erde. Die große, fortdauernde Tatsache ist also Leben oder Bewusstsein; und Geburt und Tod sind lediglich rhythmische Ereignisse im endlosen Kreislauf der bewussten Evolution aller Dinge.
Schlafen und Wachen stellen ebenfalls rhythmische Ereignisse dar, durch die in diesem Leben unsere persönliche Entwicklung bestimmt wird. Wenn wir uns selbst nur im Lichte der Theosophie genauer beobachten und den Tod mehr in Zusammenhang mit den Erfahrungen unseres gewöhnlichen Bewusstseins bringen würden, wäre er nicht länger solch ein düsteres und hoffnungsloses Rätsel. Sobald wir den Tod als einen verständlichen Teil unserer Evolution und als bedeutungsvoll und reich an neuen Entdeckungen für Verstand und Herz betrachten, fügt das Studium des Todes unserer spirituellen Geschichte ein neues und interessantes Kapitel hinzu.
Nach dem alten griechischen Sprichwort sind Schlaf und Tod Brüder. Sie sind jedoch nicht nur Brüder, geboren aus der gleichen Struktur des menschlichen Bewusstseins, sondern sie sind in voller Wahrheit eines, identisch. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf mit seiner Art von zwischenzeitlichem Erwachen, wie zum Beispiel im Devachan, und einem vollen menschlichen Erwachen in der darauf folgenden Reinkarnation. Der Schlaf ist ein unvollständiger Vollzug des Todes, … .
Nachts schlafen wir und deshalb sterben wir nachts teilweise. Man kann tatsächlich noch weitergehen und sagen, dass der Schlaf und der Tod und alle die verschiedenen Prozesse und Realisationen der Initiation nur verschiedene Phasen oder Vorgänge des Bewusstseins sind, abgewandelte Formen derselben fundamentalen Sache. Der Schlaf ist größtenteils eine automatische Funktion des menschlichen Bewusstseins. Der Tod ist das gleiche, aber in einem viel größeren Ausmaß. Er ist eine notwendige Verhaltensweise des Bewusstseins, damit sich der psychische Teil der Konstitution ausruhen und die Erfahrungen assimilieren kann.
… Der einzige Unterschied zwischen Tod und Schlaf ist das Maß. Genauso wie im Tod wird das Bewusstsein während des Schlafs, nach einer kurzen Periode vollständiger Unbewusstheit, zum Sitz oder aktiven Brennpunkt bestimmter Formen innerer mentaler Aktivität, die wir Träume nennen.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:169/170
Wenn wir nun unseren verschiedenen Bewusstseinszuständen ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken, entdecken wir noch einen anderen wertvollen Schlüssel. Was meinen wir mit ‘Bewusstseinszuständen’? Viele von uns betrachten sich selbst selten als etwas anderes als einen durch ein physisches Gehirn belebten Körper. Wir dringen nicht tief genug in unser eigenes Innenleben ein, um zu begreifen, dass unser wahres Wesen aus Bewusstsein besteht, das sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Teilen unserer Konstitution konzentriert. Das kann man sehr leicht verstehen, wenn man über die Tatsache nachdenkt, dass sogar unser normales Alltagsleben aus verschiedenen Bewusstseinszuständen gebildet wird, die so unterschiedlich sind, wie es nur geht.
Manche dieser ‘Zustände’ oder Funktionen unseres Bewusstseins sind emotional – wie Wut, Trauer, Glück oder Aufregung; mitunter sind sie rein intellektuell, wie in der Arbeit eines Wissenschaftlers oder eines Schriftstellers; ein anderes Mal, wenn wir hungrig oder müde sind oder einen schmerzhaften Unfall hatten, konzentrieren wir uns gänzlich auf den Körper. In der Nacht wandert unser Bewusstsein zu wieder anderen, noch weniger bekannten Funktionen oder Aspekten von uns.
Fast jeder hat schon einmal bei einem Spaziergang, beim Lesen oder im Gespräch erlebt, dass ihm etwas auffällt, was ihn plötzlich lebhaft an einen Traum in der letzten Nacht erinnert; oder dass er beim Erwachen ganz von einem bestimmten Traum erfüllt ist, der ihm momentan klar und deutlich vor Augen steht, der aber später mit der Rückkehr des Tagesbewusstseins völlig verblasst. Im ersten Fall hätten wir uns ohne den äußerlichen Anlass vielleicht nie an den Traum erinnert. Beide Fälle zeigen uns, dass es Erfahrungen im Bewusstsein gibt, von denen wir normalerweise nichts wahrnehmen, die aber auf ihrer eigenen Ebene genau so lebendig wie die des Bewusstseins im Wachzustand sind. Wieviele solcher Erfahrungen kann der innere Mensch wohl schon gemacht haben, an die sich das Selbst im Wachzustand niemals erinnert! Dennoch gibt es sie und sie waren in jenem Augenblick genauso real wie im Wachzustand, genauso wirklich wie die infraroten und ultravioletten Strahlen, die wir niemals sehen. Darüber hinaus tragen diese Erfahrungen ihren Teil zu dem bei, was wir jetzt sind. Und darin liegt der Schlüssel, von dem wir vorher gesprochen haben.
Wenn wir also den Tod verstehen wollen, müssen wir unser eigenes Bewusstsein studieren, wir müssen uns selbst kennen, denn Bewusstsein ist die fundamentale Tatsache des Universums. Die moderne Wissenschaft, die solange davon überzeugt war, Bewusstsein sei nichts anderes als ein Nebenprodukt der Materie, ändert nun allmählich ihre Meinung. Männer wie Einstein, Planck, Eddington, Jeans, Lodge und Millikan begannen, über Bewusstsein als die Realität hinter allen Phänomenen zu sprechen. Von den oben genannten wollen wir zwei Aussagen zitieren, die 1931 im Londoner Observer erschienen. Das erste Zitat ist von Max Planck, den man zu seiner Zeit als einen der besten und innovativsten Forscher betrachtete:
… Ich betrachte Bewusstsein als grundlegend. Ich betrachte Materie als von Bewusstsein abgeleitet. Wir können nicht hinter das Bewusstsein vordringen. Alles, worüber wir sprechen, alles, was wir als existierend betrachten, setzt Bewusstsein voraus.
– The Observer, London, 25. Januar 1931
Sir James H. Jeans, ein anderer innovativer wissenschaftlicher Forscher von damals, brachte den gleichen Gedanken in fast identischer Weise zum Ausdruck:
Ich neige zu der idealistischen Theorie, dass Bewusstsein grundlegend ist und das materielle Universum daraus hervorgeht – und nicht umgekehrt. … Es kann sehr wohl sein, so scheint mir, dass jedes individuelle Bewusstsein mit einer Gehirnzelle in einem universalen Denkvermögen verglichen werden sollte.
– The Observer, London, 4. Januar 1931
Mit den oben erwähnten Grundgedanken stimmt die Alte Weisheit völlig überein. Sie hat sie gelehrt, so lange der Mensch existiert. Jetzt allerdings beginnen wir zu erkennen, wohin diese Idee uns führt: Wenn Bewusstsein die fundamentale Wirklichkeit des Universums ist und der Mensch ein individuelles Zentrum dieses Bewusstseins, weist ihn das als ebenso real und unzerstörbar aus wie das Universum. Er ist ein Tröpfchen des Universalen Lebens.
Das Universum besteht tatsächlich aus Bewusstsein und erstreckt sich in unzähligen Abstufungen vom Menschen abwärts zu den niederen Reichen bis zum Elektron und noch weiter abwärts; dann aufwärts vom Menschen bis zum Göttlichen über ihm – eine endlose Reihe hierarchischer Wesen, von denen der Mensch ein integraler Teil ist. Wir sind Teile eines lebendigen Ganzen, und solange das Universum existiert, können wir und alle anderen es zusammensetzenden Wesen nicht aufhören zu existieren. Wir sind Teilhaber an seiner Kontinuität.
Diese Idee wird in der theosophischen Literatur immer wieder betont. In The Esoteric Tradition, S. 144, sagt G. de Purucker:
Denn das Universum ist ein riesiger Organismus; alles, was sich darin befindet, sind untrennbare, weil inhärente, Bausteine. Der Mensch ist deshalb gleichfalls ein untrennbarer Teil davon und enthält somit auch alles in sich, was das Universum enthält … . Jede Energie, jede Substanz, jede Bewusstseinsform in den Unendlichkeiten des grenzenlosen Raumes ist in ihm – latent oder aktiv, je nachdem. Deshalb kann er wissen, indem er dem Pfad folgt, der immer weiter zu seinem Inneren führt, und noch weiter nach innen, bis hin zu seinem essentiellen Selbst, zu seinem Geist, der ein Strahl des Universalen ist. Auf diese Weise erlangt er Kenntnis der Realität aus erster Hand.
Im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod sagt er:
Wenn jemand wissen möchte, wie es ihm beim Sterben ergeht oder was er im Augenblick des Todes wahrnimmt, möge er, wenn er sich schlafen legt, sein Bewusstsein mit seinem Willen fassen und die wirklichen Vorgänge seines ‘Einschlafens’ studieren – falls er es fertigbringt. Es ist recht einfach, das zu tun, wenn man die Idee erfasst hat und sich mit der Praxis der Übung mehr oder weniger vertraut gemacht hat.
– Ebenda, S. 832-3
Wenn wir die tiefer gehenden Probleme des Lebens lösen wollen, müssen wir uns selbst umerziehen. Meistens identifizieren wir uns mit unserem persönlichen Bewusstsein, das heißt mit jenen mentalen und emotionalen Aspekten, die sich auf Selbstsucht oder persönliche Wünsche konzentrieren. Wenn der Mensch die Mysterien von Leben oder Tod verstehen will, muss er sich selbst studieren – als ein Zentrum spirituellen Bewusstseins, als göttlichen Pilger, der dem glorreichen Pfad der selbstgeleiteten Evolution folgt.