Band 2: Reinkarnation
- Theosophische Perspektiven
Reinkarnation in der Geschichte
Die Tatsache, daß die Reinkarnation zur Zeit von Christi Geburt praktisch überall auf der ganzen Welt gelehrt wurde, überrascht nahezu jedermann in den westlichen Ländern. Das kommt daher, daß wir nicht gelernt haben, diese Lehre geschichtlich mit den Juden oder den alten Griechen und den Römern in Verbindung zu bringen. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß sie von einigen Kirchenvätern akzeptiert wurde, und im frühen Christentum bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts n. Chr. so weit verbreitet war, daß ein besonderes Kirchenkonzil einberufen werden mußte, um die Lehre schließlich zu unterdrücken. Danach verschwand sie langsam aus dem intellektuellen und religiösen Leben Europas, und obschon hier und da eine Sekte oder einzelne große Denker und Mystiker ihr weiterhin anhingen, wurde sie nicht wirklich ins westliche Denken zurückgerufen, bis sie durch die Lehren der Theosophie wieder in das Denken eingeführt wurde. In unserer Zeit nimmt sie schnell ihren Platz als weltweiter Glaube wieder ein.
Der Reinkarnationsgedanke war für die großen östlichen Religionen immer charakteristisch. Wir müssen nur an die brahmanischen oder buddhistischen Lehren zu denken. In dem Buddhismus wurde die Lehre reiner bewahrt als in einigen anderen Religionen; unter anderem durch eine größere Toleranz. In dem exoterischen Brahmanismus hat die Lehre viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren, wie die Irrlehre der Transmigration des menschlichen Egos in die Körper von Tieren bezeugt, worüber schon gesprochen wurde.
Die größten Menschen des Altertums lehrten die Reinkarnation; unter ihnen waren so bedeutende Namen wie Orpheus, Pythagoras, Empedokles, Plato, Apollonius von Tyana, während sie bei den Römern von Ennius und Seneca unterwiesen wurden. Wir finden die Lehre im alten Persien wieder, auch bei den Druiden und im Deutschland des Klassizismus. Sie war ein Eckpfeiler der großen, mystischen Religion des alten Ägypten. In China machte sie einen Teil des Taoismus aus, und durch die Ausbreitung des Buddhismus wurde ihr Einfluß dort vertieft.
Der Leser mag sich vielleicht über die abweichenden Formen wundern, die diese Lehre in den verschiedenen Epochen des menschlichen Denkens angenommen hat. Das folgende Zitat gibt jedoch eine Andeutung, wie die Veränderungen und Unterschiede entstanden.
Im Verlaufe der Zeitalter verlor man zuweilen den großen Hintergrund der essentiellen esoterischen Philosophie mehr oder weniger aus den Augen. Dann wurde die eine oder andere Seite der allgemeinen Lehre, hier Wiederverkörperung genannt, so wichtig, daß faktisch andere ihrer Formen und Aspekte verschwanden: eine Tatsache, die praktisch in jedem einzelnen historischen Fall zu einer Verdunklung oder zum völligen Vergessen der allumfassenden grundlegenden Lehre führte. Dieser historische Verlust der fundamentalen oder allgemeinen Lehre, der gewöhnlich mit der Überbetonung einer Form oder eines Aspektes dieser Lehre einherging, erklärt den Unterschied in der Form der Darstellung und die inhaltlichen Fehler, welche die Lehren über die nachtodlichen Erlebnisse des menschlichen Egos in der verschiedenartigen archaischen Weltliteratur aufzeigen.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 593
Wenn wir uns den Zeiten der Völker des Mittelmeerraums nähern, die unmittelbar der christlichen Zeitrechnung vorausgingen, denken wir natürlich zuerst an die Juden, deren religiöse Auffassungen den wahren Geist der christlichen Botschaft so sehr beeinflußt und verändert haben. Im Alten Testament finden wir sehr wenige überzeugende Aussagen über das Fortleben des Menschen nach dem Tode, zumindest nicht in unserer üblichen Vorstellung von Unsterblichkeit. Hierin zeigt sich, wie unzulänglich diese Schriften der christlichen Tradition sind, da sie uns kein wirklich umfassendes Bild vom jüdischen Denken zu jener Zeit geben können. In der Kabbala jedoch, der esoterischen Philosophie der Juden, ihrer geheimen, mystischen Lehre, wurde die Reinkarnation erklärt. Auch Philo, einer der größten Philosophen des Judentums und ein berühmter Neoplatoniker, lehrte sie. So auch der berühmte jüdische Geschichtsschreiber Josephus. Denn Josephus war ein Pharisäer, und er selbst verbürgte sich dafür, daß die Pharisäer an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. (Nachzuschlagen in seinem Buch Jewish War, Band II, Kapitel 8 und Buch III, Kapitel 8.)
Dr. de Purucker zitiert in The Esoteric Tradition einen Abschnitt aus dem Werk des Josephus, wo die Lehre der Wiedergeburt erwähnt wird. Er kommentiert:
Man wird die Beweiskraft des obigen Zitats sofort erkennen, weil der Hinweis auf die besondere Art der metempsychotischen Reinkarnation, die Josephus im Sinn hat, in den Fluß seiner Erzählung so natürlich und einfach eingefügt ist. Es ist hier keine Rede von einer Lehre, die der Sprecher als etwas Fremdes und Neues herbeizieht, … jedoch in jedem Falle wird der Hinweis, daß ein neuer Körper angenommen wird, als völlig selbstverständlich für seine Zuhörer oder Leser als ein Teil der Psychologie, in welcher sie lebten, akzeptiert.
– S. 615
Diese Tatsachen müssen uns nicht allzu sehr verwundern, da die Lehren von der Wiederverkörperung und der Reinkarnation in der einen oder anderen Form von den die jüdische Nation umgebenden Völkern allgemein angenommen wurden. Hier und da zeigt sich sogar in der Bibel, daß diese Idee im Hintergrund der Gedanken des Schreibers oder Sprechers war, wie zum Beispiel als die Jünger Jesus fragten: „Wer sündigte, dieser Mann oder seine Eltern, daß er blind geworden ist?“ (Johannes 9, 2). Wie hätte dieser Mann jedoch sündigen können, außer in einem früheren Leben, wenn er blind geboren wurde? Für die Jünger war die Wahrheit der Reinkarnation offenbar selbstverständlich, auch Jesus ermahnte sie nicht in seiner Antwort. In Matthäus XI, 14 sagt Jesus von Johannes dem Täufer: „Und so ihr’s wollt annehmen, er ist Elia, der da kommen soll“, eine Feststellung, die er in Markus IX, 13 zu wiederholen scheint.
Von diesen Dingen hatten natürlich jene ernsthaften Menschen des Mittelalters keine Ahnung (die, was die historische Entwicklung betrifft, völlig unwissend waren), die das Alte Testament ihren eigenen unvermeidlichen Beschränkungen entsprechend auslegten.
Ein verläßliches Bild der intellektuellen Welt in den frühen Tagen der Christenheit ist tatsächlich aufschlußreich. Ein solches Bild können wir aus dem Material gewinnen, das von vielen großen Schriftstellern geliefert wurde. Wenn diese auch nichts von Theosophie wußten (wie z. B. Legge, der das Buch Forerunners and Rivals of Christianity schrieb), so stellten sie doch ein sehr aussagekräftiges Zeugnis dar, daß viele Lehren, die in unserer Bildung als so kennzeichnend für das Christentum betrachtet wurden, unmittelbare oder entstellte Widerspiegelungen der Mysterienlehren der Alten Weisheit sind.
Die beiden Hauptquellen, aus welchen das frühe Christentum seine mystischen Lehren herleitete, wie zum Beispiel die Jungfräuliche Geburt, die Leidenszeit Christi, die Eucharistie, die Apostolische Nachfolge u.a., waren die Gnostische Philosophie und die Mithras-Religion. Diese beiden Systeme waren natürliche Entwicklungen aus der ursprünglichen, esoterischen Weisheit, und sie blühten in den ersten Jahrhunderten unserer Ära. Es fehlte nicht viel und die Mithras-Religion wäre die offizielle Religion des Römischen Reiches geworden.
… die Mithras-Religion hatte sich im dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung so weit ausgebreitet, daß sie beinahe die offizielle Staatsreligion des damals weltumspannenden Römischen Reiches geworden wäre. Diese Religion enthält so viel, sowohl in der Lehre als auch in der Form, was mit dem frühen Christentum ähnlich war, daß alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit, christliche wie auch ‘heidnische’, dies vermerkten. Schließlich jedoch behielt die christliche Lehre durch eine Reihe interessanter Ursachen die Oberhand als herrschende Religionsform von Europa …
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 863
Mit seinen Dogmen von der stellvertretenden Erlösung, der Errettung durch den Glauben und die Praktiken, die sich daraus ergaben, befreite das Christentum die große Masse der Menschen von der mühsamen, moralischen Anstrengung und gab sich der Gestaltung des zeitlichen und politischen Aufstieges hin.
Die Reinkarnation war eine der bedeutendsten Lehren des Gnostizismus und bildete einen integralen Bestandteil der Mysterien-Lehren der Mithras-Religion. Viele der ersten Christen übernahmen die Lehre aus dieser einflußreichen und populären Quelle. Einige der großen Kirchenväter lehrten sie zu Anfang in der einen oder anderen Form, darunter Bischof Synesius und noch früher Origines und Clemens – alle aus Alexandrien, und die beiden letzteren gaben an, daß sie in die Mysterienschulen der damaligen Zeit eingeweiht worden seien. Es scheint so, als hätten diese weisen Männer danach gestrebt, in der neuen Kirche die Verbindung mit der lebendigen Weisheitsreligion aufrecht zu erhalten. Die Manichäer, in jenen frühen Tagen eine mystische Sekte Vorderasiens, bekannten sich zur Reinkarnation, und indem sie ihr sozusagen eine christliche Färbung gaben, trugen sie dazu bei, einen Aspekt der Reinkarnation zu popularisieren. Selbst im 12. und 13. Jahrhundert trat noch ein Zweig dieser Sekte auf, nämlich die Albigenser von Languedoc, welche die Lehre wieder aufleben ließen. Aber sie war dann für über siebenhundert Jahre verbannt worden, während die Albigenser, wenn auch nur mit Mühe, ausgerottet wurden.
Man könnte eine lange Liste der Gelehrten, Dichter und Mystiker aller Zeiten und aller Länder Europas anführen, die an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. Das gesamte historische Glaubensthema der Reinkarnation ist es wert, sich damit zu beschäftigen, wenn auch nur, weil überraschende und interessante Tatsachen über den Ursprung von dem, was wir Christentum nennen, ans Licht kommen – Tatsachen, die so lange unterdrückt und vergessen waren. (Vgl. The Esoteric Tradition, Teil II, Kapitel XIX und XX).