Band 2: Reinkarnation
- Theosophische Perspektiven
Der Prozeß der Reinkarnation
Ausgehend von dem Gedanken der Reinkarnation können wir uns die Frage stellen: „Wo waren wir vor der Geburt?“ Bisher haben wir wenig über den Tod gesagt, und wir werden auch nun nicht näher darauf eingehen. Der Tod ist einer der erhabensten und bedeutendsten Lebensprozesse und wird in einem anderen Handbuch besprochen.
Wie bereits dargelegt, ist der Mensch allgemein ausgedrückt ein dreifach gegliedertes Wesen, und von diesen drei Grundelementen ausgehend schreitet die Evolution entlang dreier verschiedener Linien voran: der spirituellen, der mental-emotionalen und der astral-vitalen, die alle durch den Kanal des physischen Körpers zum Ausdruck kommen. Wenn der Körper stirbt und zerfällt und seine astral-vitalen Kräfte frei werden, folgt diesem Vorgang die allmähliche Auflösung der ganzen Persönlichkeit, des mental-emotionalen Wesens. Doch etwas von der Persönlichkeit wird noch fortbestehen, in einigen Fällen sogar ein großer Teil. Das spirituelle Ego wird nämlich soviel wie möglich von der Persönlichkeit in sich aufnehmen, das heißt, jene Elemente, die von seiner eigenen Art sind – die spirituellen Bestrebungen seiner Persönlichkeit, ihre selbstlosen und reinen Wünsche. Alles, was im Menschen Spiritualität besitzt, hat Anteil an dem Universal – Göttlichen, das den Kosmos beseelt und trägt. Das Ideal der Selbstlosigkeit, der Reinheit und der edlen Taten, nach dem konsequent gelebt wurde, wandelt die strebenden persönlichen Elemente in das unvergängliche Gold des Geistes um. Es verhilft dem Sterblichen zur Unsterblichkeit. Wenn der Tod eintritt, wird diese umgewandelte Energie nicht aufgelöst. Das reinkarnierende Ego fügt sie seiner eigenen Art hinzu.
Dieser Prozeß wird von einer sehr mystischen Erfahrung während des Sterbens unterstützt. In dem Moment, in dem der letzte Atemzug getan wird, betritt das Ego für kurze Zeit die Schwelle des irdischen Portals. Vor seinem nun unverschleierten Blick entrollt sich gleich einem Film ein Panorama all dessen, was in dem gerade beendigten Leben geschehen ist – bis zur letzten Einzelheit.
Im Lichte der sich ihm nun offenbarenden Freiheit folgt der selbstbewußte Denker diesen Lebensbildern, und er erkennt den Plan und die Bedeutung all seiner Erfahrungen, er sieht die Beziehung der Einzelteile zum Ganzen und dieses Lebens zu den vorausgegangenen. Das Verständnis der Gerechtigkeit und des Nutzens seiner Leiden und Prüfungen dringen zum Bewußtsein des Egos vor. Wenn es in die ‘Himmelswelt’, die Devachan genannt wird, aufsteigt, nimmt es diese Erinnerungen mit sich. Hier verbringt es eine lange Ruhezeit. Diese spirituelle Ruhe in der inneren ‘Himmelswelt’ gibt dem reinkarnierenden Wesen Gelegenheit, die Erfahrungen seines vergangenen Lebens auf Erden aufzunehmen und zu verarbeiten. Denn derselbe rhythmische Zyklus der Tätigkeit – Schlaf und Ruhe, Assimilation, gefolgt von erneuerten Energien, ist nicht nur für unseren physischen Körper kennzeichnend, sondern gehört zu allen lebenden Wesen, ob materiell, psychologisch oder spirituell. Natürlich gilt dies gleichermaßen für atomare, planetarische, stellare und kosmische Organismen.
Schließlich schlägt die Uhr und das Ego muß zum irdischen Leben zurückkehren. Warum? Nur deshalb, weil das Ego ausgeruht ist und wieder nach Leben und Wirken verlangt? Dies ist zweifelsohne einer der Gründe, denn der Durst nach Leben und das Wiederholen früherer Erfahrungen ist eine mächtige Ursache der materiellen Wiedergeburt.
Unbestimmte und flüchtige Erinnerungen an die früheren irdischen Schauplätze, die das reinkarnierende Ego einst kannte und liebte, beginnen nun panoramagleich an seinem Bewußtsein vorbeizuziehen. Diese aus dem früheren Erdenleben erwachenden Erinnerungen ziehen das Ego stetig zu den anderen Sphären, die es früher bewohnte, und es beginnt, durch Zwischensphären, -ebenen und -welten ‘hinabzusteigen’; mit dem Niedersinken der Monade werden diese Impulse im Verlaufe der Zeit immer stärker, so daß es, angezogen durch unseren Erdball, schließlich zu einer neuen Verkörperung in irdischer Existenz bereit ist.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 874
Die Hauptgründe, warum das Ego im Menschen, der Denker, aus seiner Zeit der Ruhe geweckt wird, um zu den Aufgaben, den Freuden und Leiden eines weiteren Erdenlebens zurückzukehren, sind folgende: zum ersten ist der Mensch dem kosmischen Gesetz der Wiederverkörperung unterworfen, dem alles was lebt, selbst die Himmelskörper und die Universen, gehorchen müssen. Auf die zweite Ursache wurde bereits hingewiesen: der Durst nach materiellem Leben, der Hunger, die Sehnsucht nach den Schauplätzen und Erfahrungen der Vergangenheit, an denen wir bewußt oder unbewußt hängen. Dies ist möglicherweise eine der bedeutendsten Ursachen für die Wiedergeburt.
Aber, wie bereits erwähnt, gibt es auch Menschen, die mit großem Nachdruck erklären, daß sie nicht auf die Erde zurückkehren wollen. Der Mensch sagt oder denkt dies, weil die Möglichkeiten und der Kummer in seinem Leben derart waren, daß er sich alles nur keine Wiederholung wünscht. Er fürchtet jedoch nicht das Leben, sondern die Sorgen, den Kummer und die Pein, die das Leben brachte.
Unser Bedauern wegen begangener Fehler oder Unfreundlichkeiten, ein lebenslanger Traum von einer Karriere, die nie möglich war, unbefriedigte Sehnsucht nach Büchern, Musik, Reisen, Luxus, nach passenden Freunden oder nach der Kraft, anderen zu helfen – das sind tatsächliche Energien. Einmal müssen sie eine Auswirkung zeigen. All diese Dinge erzeugen den unbewußten Durst im menschlichen Herzen und nur das menschliche Leben kann den Durst löschen.
Dieser ‘Durst’ ist eine zusammengesetzte unwillkürliche Gewohnheit, bestehend aus einer Reihe von Dingen, wie es bei allen Gewohnheiten der Fall ist, wenn wir uns selbst analysieren. Er besteht aus Liebe, Haß, Zuneigung der verschiedensten Art, aus magnetischer Anziehung der Scharen von Lebensatomen, welche die menschliche Konstitution zusammensetzen, sowohl die sichtbare wie die unsichtbare, und er besteht aus Sehnsüchten und Verlangen von vielerlei Arten, die sich alle während der verschiedenen Lebenszeiten auf Erden in der menschlichen Seele und im Geist ansammeln und die deshalb von den Theosophen kurz ‘Gedanken-Niederschläge’ genannt werden – emotionale, mentale und psychische Neigungen und Vorlieben. Das sind alles Energien, … und sie werden auf das Schicksal des reinkarnierenden Egos einwirken, bis die Evolution und das sich erweiternde Bewußtsein und die Reinigung durch Leiden schließlich das Bewußtsein des Menschen als Individuum zu höheren Ebenen übergehen läßt. . .
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 874
Dann hat die Sache noch eine andere Seite, nämlich die Anziehungskraft der Lebensatome. Dieses ist die dritte Ursache für die Rückkehr des Egos auf die Erde. Wenn die Zeit für die Reinkarnation gekommen ist, ‘steigt’ das Ego entlang dem gleichen Weg ‘hinab’, den es nach dem Ende des letzten Lebens ‘aufgestiegen’ war. Auf dem Wege nimmt es die gleichen Lebensatome wieder auf, die es zuvor zurückgelassen hatte und die nun wieder helfen, seine verschiedenen Vehikel aufzubauen. Die Lebensatome gehören nicht alle zur physischen Ebene. Es gibt verschiedene Klassen, die auf den drei allgemeinen Ebenen der Evolution wirksam sind, nämlich der physischen, der mental-emotionalen und der spirituellen. Diese Klassen von Lebensatomen manifestieren jeweils eine Stufe der Evolution, entsprechend der Ebene, zu der sie gehören. Lebensatome sind unendlich kleine, unentwickelte Gottesfunken, emaniert aus der Zentralen Lebensflamme im Herzen des Universums, und sie bilden die Bausteine auf allen Ebenen des Kosmos; sie formen den ‘Stoff’, aus dem die drei erwähnten Ebenen der Evolution aufgebaut sind und aus welchem die höheren Wesen auf dieser Ebene ihre Vehikel bilden, wodurch sie sich manifestieren können. So werden körperliche Handlungen und Funktionen des Menschen durch die Lebensatome ermöglicht, Lebensatome, die seinen Körper bilden, bis der Tod eintritt, wonach sie befreit werden, um ihre Transmigrationen fortzusetzen. Ebenso besitzt der Mensch seine mental-emotionalen und auch seine spirituellen Lebensatome, durch die sein persönliches Leben und das des Ego zum Ausdruck kommen.
Es gibt natürlich noch andere Ursachen, die zu dem unwiderstehlichen Drang des Ego, zum Erdenleben zurückzukehren, beitragen, aber wir haben hier genug gesagt, um deutlich zu machen, welche ‘Gesetze’ hier zugrunde liegen.
Wir kommen nun zu dem Vorgang, durch den das Ego sein Dasein auf diesem Planeten Erde wieder beginnt. Aus den oben erwähnten Gründen, verbunden mit anderen, die ebenso zwingend sind, erwacht das spirituelle Ego schließlich aus seinem glücklichen Traumzustand und beginnt seinen ‘Abstieg’ zur Erde. Das geschieht ganz allmählich. Die Zustände, die das Ego auf seinem Weg zum stofflichen Leben durchschreitet, sind zuerst psychologischer Art, da das Ego, Manas, das denkende Prinzip ist, das schöpferische, formende, selbstbewußte und intellektuelle Element in uns. Dieses psychologische Element formt zusammen mit dem emotionalen die Persönlichkeit, die das spezifische ‘menschliche’ Bewußtsein im Menschen ausmacht. Die psychologisch-emotionalen Lebensatome, die das Ego an der Schwelle zur Wiedergeburt erwarten, werden gebraucht, um das erste Gewand oder Vehikel zu formen, mit dem sich das Ego umgibt, wenn es aus den höheren, spirituellen Bereichen heraustritt. Dann sind die niederen vitalen Kräfte an der Reihe, die Lebensatome aus etherischer oder astraler und physischer Substanz, die von ihren formativen Neigungen geleitet werden, die im letzten Leben eingeprägt wurden und die dann durch ihre Transmigrationen noch verstärkt werden.
Diese Lebensatome sind die Träger der Skandhas, über die wir schon sprachen. Durch ihre Verbindung mit dem reinkarnierten Wesen werden die Lebensatome durch die physischen, mentalen und emotionalen Neigungen des vergangenen Lebens geprägt oder geformt. Die Transmigrationen der Lebensatome selbst, die nach dem Tode des Körpers beginnen, werden von diesen Skandhas bestimmt. Wenn die Lebensatome zu dem Wesen zurückkehren, das dabei ist, zu reinkarnieren, dann sind es diese Skandhas, die in den Lebensatomen verkörpert sind, welche die Natur und die charakteristischen Merkmale der mentalen, emotionalen und physischen Hüllen des neuen Erdenlebens liefern.1
… Das reinkarnierende Ego … wird magnetisch und psychisch zu der Familie hingezogen … wo schwingungsmäßige Bedingungen bestehen, die seinen eigenen am ähnlichsten sind. Seine niedrigste, d.h. mehr materielle Kraft und Substanz verbindet sich psycho-magnetisch durch ihr eigenes astral-vitales Fluid mit dem ‘Laya-Zentrum’ einer menschlichen Fortpflanzungszelle, wenn die geeignete Zeit kommt; und vom Augenblick der Empfängnis an, ‘der geeigneten Zeit’, überschattet das reinkarnierende Wesen dieses Teilchen, während es von der Empfängnis an durch seine verschiedenen Phasen wächst, vom Leben im Mutterleib zur Geburt, Kindheit und in das Erwachsenenleben.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 893
Hier stoßen wir natürlich auf die allgemein verbreiteten Theorien der Vererbung, die als die entscheidenden Ursachen aller unserer geistigen und körperlichen Eigenschaften betrachtet werden. Durch die Vererbungstheorie werden die Ungleichheiten im menschlichen Leben nicht erklärt, sondern einfach nur ein wenig in den Hintergrund geschoben. Warum werden einige in den schwierigsten und andere in den scheinbar günstigsten Verhältnissen geboren? Dergleichen Fragen entmutigen den Durchschnittsmenschen mehr als alles andere und sie verlangen dringend nach einer Erklärung. Wenn wir jedoch an die auswählenden Eigenschaften der verschiedenen psychologischen, emotionalen, astralen und vitalen Vehikel denken, die sich bereits vor der Empfängnis um das Ego formen, können wir begreifen, daß ein reinkarnierendes Wesen automatisch aus dem Strom der Erbanlagen seiner Familie genau jene Neigungen verkörpert, welche seiner eigenen Natur entsprechen, wie es sie in der Vergangenheit entwickelte. So gesehen sind die Erbanlagen das, was sie wirklich sind, nur ein anderer Name für die Wirkung der schöpferischen Energien, hoch oder niedrig, die von dem Individuum selbst in seiner Vergangenheit geschaffen wurden. Die Familie und die Eltern sind nur der unumgängliche Kanal, durch welchen diese selbstgeschaffenen Energien sich als Konsequenz in Charakter, Temperament und in der physischen Konstitution auswirken.
An diesem Punkt angekommen, erkennen wir von Neuem, wie die schöpferischen Prozesse der Natur sich wiederholen. Denn ebenso wie das Ego, das den Körper verläßt, ein lebendiges Bild des eben beendeten Lebens an sich vorbeiziehen sieht, so übersieht es nun an der Schwelle des menschlichen Daseins die Ereignisse des kommenden Lebens. Das spirituelle Ego nimmt alles, was geschehen wird, als notwendig und gerecht an; es unternimmt dann freiwillig einen neuen Versuch, um die menschliche Persönlichkeit über das Gewissen und durch die Liebe auf dem Weg zu leiten, der zur Selbsterkenntnis und Selbstbemeisterung führt.
Es ist interessant, darüber nachzudenken, daß wir in gewissen Sinne dieselbe Persönlichkeit sind wie im vorigen Leben, da unser ganzes Wesen aus Lebensatomen aufgebaut ist, die wir in vergangenen Leben benützten. Dennoch, weil alle diese Lebensatome sich bei der Geburt in neuen Kombinationen verbinden und nachdem wir außerdem in Übereinstimmung mit unserer Vergangenheit vielerlei Erfahrungen gemacht haben, so ist unsere neue Persönlichkeit doch gänzlich verschieden von jener, deren wir so überdrüssig waren, als der Tod uns freundlich zwang, sie wie ein abgetragenes Kleid beiseite zu legen.
Ist es nicht sonderbar, stets derselbe und doch immer wieder neu zu sein – die Bewußtseins- und Energiesubstanzen und alle Grade von Materie, durch welche wir als spirituelle Egos tätig sind, zu entwickeln, zu verändern und zu vervollkommnen?
Über die Dauer der Periode zwischen zwei Inkarnationen schreibt Dr. de Purucker folgendes:
Es gibt ein Gesetz oder eine Regel im Okkultismus, die ganz auf dem Wirken der Natur basiert, daß ein Mensch gewöhnlich nach einer Zeitdauervom etwa einhundertfachen der Jahre, die das letzte Erdenleben dauerte, reinkarniert. … Je höher ein Mensch auf der evolutionären Leiter steht, desto länger dauert in der Regel sein Devachan; je materieller ein Mensch dagegen ist, desto kürzer währt sein Devachan. Menschen mit einer sehr materialistischen Einstellung reinkarnieren dann, relativ gesprochen, auch sehr schnell, und diejenigen, die spirituell eingestellt sind bleiben, wie gesagt, viel länger in den unsichtbaren Welten. Warum? Weil ihre Seele dort zuhause ist und sie, je nach dem Grad ihrer Spiritualität, ihre Verbundenheit mit den Welten stärker fühlen. Die grobstoffliche Sphäre, worin sich das irdische Leben vollzieht, ist in gewissem Sinne fremdes Land für ihre Seele. Sie übt auf den spirituell eingestellten Menschen wenig Anziehungskraft aus, jedoch für den Menschen mit materialistischer Einstellung gilt das Gegenteil.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 680, 684
Dies ist die allgemeine Regel, aber natürlich gibt es Ausnahmen.
Diese kurze Skizze gibt dem Suchenden hoffentlich eine Vorstellung, sei sie auch unvollständig, von der komplexen Thematik der Reinkarnation. Und doch ist sie so einfach zu verstehen, wenn wir die Grundprinzipien der Evolution einmal verstanden haben. Die Grundprinzipien sind: Die Einheit aller Wesen, die zyklische und periodische Natur allen manifestierten Lebens und die Verpflichtung aller Wesen, die den Kosmos bilden, sich entlang der stets aufstrebenden Spirale der Wiederverkörperung zu entwickeln.
Fußnoten
1. Für eine Beschreibung der physischen Prozesse der Reinkarnation siehe The Esoteric Tradition, Bd. II, Kapitel XXX. [back]