Band 2: Reinkarnation
- Theosophische Perspektiven
Erinnerung an vergangene Leben
Warum erinnern wir uns nicht an unsere vergangenen Leben? Das tun wir sehr wohl. Die Frage wird häufig gestellt, aber sie ist eigentlich nicht gut formuliert. Sie müßte lauten: „Warum ist es uns nicht möglich, die Umstände unseres vergangenen Lebens ins Gedächtnis zurückzurufen?“ Unser Charakter selbst ist bereits Erinnerung.
In einer bestimmten Familie werden zwei Kinder geboren, die, was in einer Familie häufig vorkommt, große Charakterunterschiede besitzen. Lassen Sie uns annehmen, daß das eine Kind aufrichtig und vollkommen ehrlich ist, während der Charakter des zweiten Kindes diesbezüglich viel zu wünschen übrig läßt. Das erste Kind hat durch Erfahrung in vergangenen Inkarnationen gelernt, daß Unehrlichkeit minderwertig ist, und es wird daher mit dieser Erkenntnis als einem Teil seines Charakters geboren. Das andere Kind muß diesen Sieg erst noch erringen. Da es nun in einer Familie geboren wird, in der die Umstände zur Verbesserung günstig sind, kann es sich der Tatsache sicher sein, daß es in seiner vorigen Inkarnation bereits einen ersten Versuch in Richtung Verbesserung unternommen hat. So gesehen können wir sagen, daß der Charakter Erinnerung ist. Genialität ist ebenfalls Erinnerung. Alle angeborenen Eigenschaften, gute wie schlechte, sind die Folge vergangener Selbstschulung oder ehemaliger Schwächen in früheren Erdenleben. Es ist ein Segen, daß wir uns nur selten der Umstände erinnern, durch welche diese Siege und Niederlagen ein Teil unseres Charakters wurden. Da wir fast immer durch Leiden und Fehlschläge lernen, die wir machten, wären diese Erinnerungen meistens schmerzlicher Art.
Wir sollten auch nicht vergessen, die Erblichkeit als ein Element der Erinnerung anzuführen. Wie kommt es beispielsweise, daß in ein und derselben Familie mit drei Kindern eines ein Genie ist, das andere ein Geschick für kaufmännische Dinge hat, während das dritte Kind ganz durchschnittlich ist? Wenn wir den Gegenstand der Erblichkeit im Lichte der Reinkarnation betrachten, erhält dieser eine gänzlich andere und tiefere Bedeutung. Wir erben unsere Charaktereigenschaften, oder auch nur einen Teil davon, nicht von unseren Eltern, sondern wir beerben uns selbst aus unserer eigenen Vergangenheit. Wir werden in die Familie geboren, die jene Eigenschaften besitzt, welche zu unserem Karma passen. In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen schreibt James A. Long hierüber:
Alles, was wir als Vererbung ansehen, ist nichts anderes als der Prozeß eines sich wiederverkörpernden menschlichen Egos, das sich für eine Lebensspanne ins Dasein bringt durch die Vermittlung der Eltern, die selbst gewisse Eigenschaften haben, die mit seinen eigenen korrespondieren. Die einzelnen Kinder in einer großen Familie sind zum Beispiel ganz verschieden, und doch besitzen alle Eigenschaften, die dem Familienstrom gemeinsam sind. Mit anderen Worten, die zur Welt kommende Seele verwendet das Familienkarma als Ausdrucksmöglichkeit; die Eltern erschaffen jedoch das Kind nicht, weder physisch noch geistig noch intellektuell. Sie sorgen für das umweltliche Bühnenbild.
Charakter ist in allen seinen Aspekten Erinnerung, ohne diese gespeicherten, aufbewahrten Erinnerungen, die von Leben zu Leben herübergebracht werden, wäre keine Entwicklung des Organismus, weder physisch, geistig oder moralisch möglich. Evolution hängt von kontinuierlicher Reihenfolge ab, mehr noch, alles wiederholt sich. Die Natur arbeitet mittels der Erinnerung, wodurch Charaktere festgelegt und Typen entwickelt werden. Durch die Erinnerung lernt der Mensch seine Lektion und sein Charakter wird hierdurch geformt. Diese Gewohnheit der Natur, sich fortdauernd zu erinnern, kann als ‘Naturgesetz’ begriffen werden.
Wie bereits im ersten Kapitel gesagt wurde, hat das Ego in jedem Leben eine andere Persönlichkeit. Das muß notwendigerweise so sein, weil wir in jedem Leben etwas Neues lernen, uns geistig und moralisch entwickeln und gefühlsmäßig oder spirituell entfalten, so daß die alte Persönlichkeit nicht mehr genügt – das Ego wächst über seine Möglichkeiten, die ihm als Übungsfeld dienen, hinaus. Daher formt das Ego, wenn es wiedergeboren wird, aus sich selbst eine neue Persönlichkeit, die nach den Erfahrungen gestaltet ist, die ihm in vergangenen Leben einverleibt wurden.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum bei der Rückkehr des Ego zur Inkarnation die Erinnerungen noch anhaften und weiterbestehen, aber Einzelheiten vergessen werden. Charakterzüge und Eigenschaften, die in die innere Natur aufgenommen wurden, werden als unbewußte Erinnerungen mitgebracht, aber die neugeborene Persönlichkeit kann sich an keine bestimmten Gegebenheiten aus dem vergangenen Leben zurückerinnern, denn sie war daran nicht beteiligt. Geradeso wie ein Schauspieler nicht sagen kann: ‘Ich war Hamlet’ oder ‘Ich war Macbeth’, sondern vielmehr: ‘Ich spielte die Rolle von Hamlet oder Macbeth’; ebenso kann kein Ego sagen: „Ich war dieser oder jener in einem vorherigen Leben.“ Denn die Persönlichkeit ist nicht das wahre Ich. Sie ist nichts anderes als die Maske oder das Vehikel oder die zeitweise Rolle, durch die das wahre Ich einen seiner Aspekte zum Ausdruck bringt. Wir können den Vergleich erweitern und an einen Schauspieler denken, der während seiner langen Laufbahn viele Rollen gespielt hat. Der Schauspieler kennt Hamlet, Lear und Shylock, aber was wissen Hamlet, Lear und Shylock voneinander?
Was für die Persönlichkeit gilt, gilt ebenso für das Gehirn. Wenn auch dieselben Atome, die das Gehirn in einem früheren Leben formten, jetzt von dem reinkarnierenden Wesen wieder verwendet werden, so ist doch das Gehirn der neuen Persönlichkeit eine völlig neue Verbindung. Denn diese Lebensatome haben selbst eine Veränderung durchgemacht.
Ein weiterer wesentlicher Grund, warum wir uns nicht an die Umstände vergangener Leben erinnern, ist, daß das Universum, zu dem wir gehören, ein Ausdruck von Intelligenz, Weisheit und Mitleid ist. Es ist ein Organismus, eine ungeheure Reihe unendlich abgestufter lebender Wesen, der als Zentrum oder Herz eine Göttliche Intelligenz besitzt, einen der kosmischen Götter. Die ‘Gesetze’ des Universums sind die spirituellen, intellektuellen und vitalen Lebensrhythmen der kosmischen Gottheit; sie strömen über die Zirkulation des Kosmos aus und leiten und kontrollieren alle Dinge, von der mächtigen Sonne bis zu den Elektronen des Atoms.
Diese wohltätigen Gesetze beschützen den Menschen vor Dingen, die seine Evolution behindern, soweit sein freier Wille dem nicht entgegensteht. Die Evolution ist immer auf die Zukunft ausgerichtet; sie ist aufbauend und erneuernd und arbeitet nach Mustern, die selbst ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen. Die ständige Beschäftigung mit der Vergangenheit kann der Evolution ernsthaft im Wege stehen. Der Mensch ist durch die Gesetze des Kosmos mit einer hinreichenden Erinnerung an seine eigene Vergangenheit ausgestattet, das ist alles, was er braucht. Er wird durch die Natur der Dinge vor einer Erinnerung an Einzelheiten beschützt, die ihn belasten, ablenken und seiner aufwärts strebenden Natur Leiden zufügen würden. Es ist eine der Wachstumsbedingungen, die ‘niedrigen Wohnungen’ der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wir sind Kinder eines lebenden Universums. Wir legen das Verschlissene immer ab, entwickeln das Neue aus dem Alten und kommen gut damit zurecht.
Zweifelsohne haben wir als spirituelle Egos in unserem menschlichen Drama auf dieser wunderbaren Bühne unseres Planeten Erde viele Rollen gespielt. Durch diese vielfältigen Rollen haben wir den sehr komplizierten psychologischen Apparat entwickelt, die menschliche Natur genannt, ein Apparat, der sich in den meisten Fällen jedem Zustand des menschlichen Daseins unter allen klimatischen Bedingungen und in jeder Umgebung anpassen kann. Daß dem so ist, kann man aus der großen Unruhe, die unter den Menschen herrscht, ersehen, hervorgehend aus dem allgemeinen Gefühl, daß das uns vertraute Leben nichts mehr zu bieten hat und daß die Möglichkeiten erschöpft sind. Die Menschheit fühlt unausgesprochen, daß sie an der Schwelle zu einer neuen Entdeckung steht. Dies ist eine reine Intuition, eine Vorausschau eines neuen Zeitalters, welches gerade heraufdämmert. Natürlich wird eine Zeit kommen, in der jeder von uns imstande ist, sich klar an alle Ereignisse seiner vergangenen Leben zu erinnern. Die Erinnerungen an alles, was uns je geschah, sind unauslöschlich auf die unsterbliche, göttliche Seite der menschlichen Natur eingeprägt worden. Aber wir haben die spirituelle Fähigkeit noch nicht entwickelt, die es uns ermöglicht, die mystischen Aufzeichnungen zu lesen. Wir werden diese Fähigkeit auch nicht entwickeln, solange wir uns immer nur mit dem Verstandesleben und der Persönlichkeit identifizieren. Solange uns Eigeninteressen gänzlich gefangen halten, werden Leidenschaften uns mit Blindheit schlagen und unsere Intuition und schöpferische Kraft durch Vorurteile verschleiert. So verkümmern wir in dem engen Gefängnis unserer Persönlichkeit. Nur gelegentlich erhaschen wir einen Schimmer der Morgendämmerung jenseits unserer Gefängnismauern, wenn die Sonne der wahren Liebe oder der Geist der Selbstaufopferung uns beseelt. Der Mensch muß seinen spirituellen Willen gebrauchen, um die Göttlichkeit seines Wesens zu verwirklichen, und die Fesseln der Selbstsucht und der Unwissenheit abstreifen, um eine neue Welt zu betreten, wozu er nur die Schwelle seines Alltagsbewußtseins überschreiten muß.