Die vier heiligen Jahreszeiten
- Gottfried von Purucker
II – Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche
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Wir wollen uns nunmehr dem Initiationszyklus der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche zuwenden. Für diesen Zyklus gibt es eine wunderbare Lehre, zugleich wundervoll und seltsam, der das Wirken der Mutter Natur zugrunde liegt. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Ausdruck Mutter Natur, wenn er in seinem esoterischen Sinn gebraucht wird, nicht nur die physische Fülle des Universums um uns bezeichnet, deren Existenz wir mit den unvollkommenen, äußeren Sinnen wahrnehmen, sondern ganz besonders auch die gewaltigen und in der Tat grenzenlosen Bereiche der Räume des Raumes.
Diese außergewöhnliche und wunderbare Lehre legt dar, dass das große Initiationsabenteuer, in das der erhabene Initiand zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche eintritt, die Kopie, die Nachahmung oder die Wiederholung eines Geschehens in unserer eigenen kleinen menschlichen Sphäre ist, das sich in kosmischen Zeitintervallen bei den Göttern abspielt. Die Einweihungen, die selbst heute noch mehr oder weniger regelmäßig zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche stattfinden, setzen sich nicht nur aus Prüfungen zusammen, die bestanden werden müssen und schließlich zur Auferstehung des inneren Gottes aus dem persönlichen Menschen führen und aus einem zumindest zeitweiligen Aufstieg in die spirituellen Reiche, sie beinhalten vielmehr auch einen Vorgang, der in der westlichen Literatur über dieses Thema gewöhnlich als Abstieg des Neophyten-Initianden – wie hoch dieser auch spirituell stehen mag – in die Unterwelt bezeichnet wird, in jene sehr realen, aber für uns gänzlich unsichtbaren Reiche des Raumes, die ihre Existenz in kosmischen Bereichen haben, die noch viel materieller sind als unsere grobe Sphäre aus physischer Māyāvi-Substanz.
Es wäre falsch diese Unterwelt ausschließlich als die Ebene anzusehen, die in der theosophischen Literatur auch als ‘Achte Sphäre’ oder als ‘Planet des Todes’ bezeichnet wurde, obwohl die Achte Sphäre von dem wahrnehmenden Bewusstsein, das in dieser Zeit seine Wanderung zurücklegt, tatsächlich besucht werden muss.
Wir haben damit nun eine Vorstellung von der Initiation zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche als einer Phase des allgemeinen Initiations-Zyklus. Diese Phase besteht einerseits aus schweren und gründlichen Prüfungen – aus spirituellen, intellektuellen, psychischen und auch astralen Prüfungen – und andererseits umfasst sie einen Abstieg in Sphären, die von den wandernden Monaden der Durchschnittsmenschen seit Beginn ihrer Manifestation auf der menschlichen Stufe im gewöhnlichen Verlauf ihrer Entwicklung nie durchlaufen wurden.
Diese außergewöhnliche und geheimnisvolle und hier nur kurz umrissene Lehre legt dar, dass auf dieser unserer Erde bei dieser heiligen feierlichen Gelegenheit ein Geschehen wiederholt oder nachvollzogen wird, das sich in gewissen Intervallen unter den Göttern ereignet. Ebenso wie im Verlauf des kosmischen Schicksals zu gewissen Zeiten eine bestimmte Gottheit ihre eigenen strahlenden Bereiche verlässt, um in die Menschenwelt ‘hinabzusteigen’ – oder richtiger ausgedrückt, um einen Teil ihrer eigenen göttlichen Essenz in diese Welt zu übertragen, um der irrenden Menschheit beizustehen und zu helfen – genauso steigt der Neophyt-Initiand in die Unterwelt hinab oder überträgt sein wahrnehmendes Bewusstsein in sie, um dort zu lernen und den Bewohnern dieser dunklen Sphäre zu helfen. Was die Götter von ihren erhabenen Höhen aus in diesem Zusammenhang tun, um uns zu helfen, das tun gleichfalls diese großen Menschen in Sphären, die unterhalb unserer eigenen Sphäre liegen.
Wenn man intensiv über diese geheimnisvolle und tiefgründige Lehre nachdenkt und ihre außergewöhnlichen und rätselhaften Paradoxa, das heißt ihre vermeintlichen Widersprüche wahrzunehmen beginnt, mag man sich wohl fragen, warum eine Gottheit überhaupt ‘herabsteigen’ oder einen Teil ihrer Essenz in unsere Sphäre, die sie vor langen Äonen während ihres evolutionären Aufstiegs hinter sich gelassen hat, projizieren muss. Die Erklärung dafür liegt in anderen Lehren, die die Natur unseres kosmischen Sonnensystems – vom spirituellen Standpunkt aus betrachtet – betreffen. Wir ersehen daraus, dass selbst die Götter unter der Herrschaft des allmächtigen Schicksal stehen; dass selbst sie in ihren eigenen, erhabenen Sphären Karma schaffen und abtragen und Werke beginnen und vollenden, die auf die kosmischen Räume einen weitreichenden Einfluss haben. Ein bestimmter Teil dieser göttlichen Tätigkeiten muss notwendigerweise bis in die Sphären der Menschen hineinreichen und sie auf das Tiefste beeinflussen.
Wenn der Schüler der Esoterik die Lehren über die Dreiheit der Hindu-Gottheiten – Brahmā, Vishnu und Śiva – voll erfasst, ihre tiefe Bedeutung und ihren wirklichen Sinn, dann wird er verstehen, warum diese eben erwähnten wunderbaren Ereignisse stattfinden. Wie Brahmā der Entwickler und Erzeuger und Vishnu der Unterstützer und Erhalter ist, so ist Śiva der besondere Schirmherr des Esoterikers – der Erneuerer, weil er der Auflöser ist.
Die wirkliche Bedeutung und Tiefe der esoterischen Lehre über diese Dreiheit von Gottheiten im Sonnensystem kann überhaupt nicht erfasst werden, wenn man sie nur so versteht, wie sie in den exoterischen Werken der Hinduliteratur dargestellt wird. Diese drei sind in der Tat drei Individuen und doch sind sie eins, genau wie die Evolution und Involution zwei Vorgänge und doch dem Wesen nach ein Vorgang sind, denn nichts kann etwas aus seinem Inneren herausentwickeln, bevor dieses Etwas nicht hineinevolviert war. Es kann somit keinen Brahmā oder Entwickler und Erzeuger geben, wenn der Erneuerer und Auflöser nicht bereits in einer vorangegangenen kosmischen Periode die Samen des Universums involviert hat, das dann später entwickelt oder hervorgebracht wird. Auch könnte es kein Manvantara oder keinen geordneten Lauf kosmischen Lebens und keine Evolution geben, ohne den unaufhörlichen und beständigen Einfluss des Ernährers, Erhalters und Bewahrers.
Diese drei spirituell-göttlichen Energien im Sonnensystem, die unverwechselbar drei und dem Wesen nach dennoch eins sind, sind in Wirklichkeit die höhere Triade der Siebenheit, die zu den zehn Prinzipien unseres Sonnenkosmos gehören. In ihrer Erhabenheit, weil sie die höhere Triade der Siebenheit der Welten aus Leben-Energie-Bewusstsein des Sonnensystems sind, existieren und wirken sie in Sphären, die für uns völlig still und dunkel sind.
Von Zeit zu Zeit – streng durch das Karma des Sonnensystems geregelt – erhebt sich im Herzen des Mahā-Vishnu der Impuls, einen Teil seiner selbst zu manifestieren. Dieser Teil ist eine Gottheit, und dieser Impuls oder spirituelle Drang kann nie verweigert oder unterdrückt werden. Dieser Impuls hat in unserer esoterischen Lehre eine technische Bezeichnung. Er wird Bīja, ‘Same’ genannt, oder vielleicht richtiger Avatāra-Bīja – kosmischer Avatarā-Same.
Die Avatāras erscheinen in bestimmten Intervallen auf der Erde, und zwar wenn die spirituellen Energien bei uns zur Neige gehen und die materiellen Kräfte in heftigen Wogen immer höher schlagen. Es ist, als ob eine spirituelle, psycho-magnetische Spannung in der Konstitution des Sonnensystems vorhanden wäre, die eine spirituell-elektrische Entladung einer spirituellen Energie zur Folge hat, dem Blitz auf der Erde ähnlich. Diese Entladung wird gewöhnliche als ‘Abstieg’ des Avatāras bezeichnet, durch den die Stabilität und das Gleichgewicht der Dinge erhalten bleiben. Ebenso verhält es sich auf unserer Erde mit jenen großen Menschen, mit jenen erhabenen Neophyten-Initianden, die im Laufe ihrer Initiation in die Unterwelt ‘hinabsteigen’, um den Wesen, die an die Finsternis dieser düsteren Sphären gefesselt sind, spirituelles Licht zu bringen – Sphären, die uns nur deshalb als Reiche der Finsternis erscheinen, weil wir über ihnen stehen.
So eng ist alles in der ganzen Natur miteinander verbunden, so innig und kompliziert sind die Fäden des Lebensgewebes miteinander verwoben, dass die ganze Natur als ein einziger gewaltiger Organismus betrachtet werden muss. Und wenn in irgendeinem Teil des kosmischen Körpers eine bestimmte Element-Energie fehlt, entsteht in anderen Teilen, die diese fehlende Element-Energie im Überfluss besitzen, ein Impuls oder Drang zu dem Ort hin, in dem ein derartiger Mangel vorherrscht. Infolgedessen wandert, zieht oder überträgt sich die fehlende Element-Energie zu ihrem Bestimmungsort, damit die Stabilität und das Gleichgewicht des kosmischen Gefüges wieder hergestellt oder aufrechterhalten werden kann.
Die Initiationsperioden finden nicht zufällig oder willkürlich statt, noch werden sie vom Wunsch oder Willen menschlicher Wesen geleitet, wie edel und groß diese auch sein mögen. Sie finden vielmehr in genauer Übereinstimmung mit dem Wirken der spirituellen, kosmischen Anziehungskräfte des Universums statt. Die erhabenen Neophyten-Initianden unterziehen sich ihren Prüfungen und machen ihre Wanderung in die Unterwelt, weil sie für die entsprechende Zeit völlig gehorsame Diener des universalen Gesetzes geworden sind und daher kaum anders handeln können.
Aus dem Gesagten wird somit augenblicklich klar, mit welchem mächtigen, mitleidsvollen Puls das Herz der Natur überall schlägt; denn was die Menschen in ihren armseligen Worten als „Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts“ oder „Aufrecherhaltung der kosmischen Stabilität“ bezeichnen, ist nur eine dürftige Beschreibung des automatischen Wirkens des kosmischen Lebens bei der Wiederherstellung der kosmischen Harmonien, beim Wiederausgleich der kosmischen Energien, die alle unter der Leitung und Herrschaft des unbeschreiblich mächtigen Herzens des Lebens-Bewusstseins stehen, das bis zum Ende des Sonnenmanvantaras unaufhörlich und ohne Unterbrechung oder Pause schlägt.
Im menschlichen Denken, wie auch in der kosmischen Wirklichkeit, hängt daher speziell die Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche eng mit den Avatāras zusammen. Behaltet im Gedächtnis, dass es drei allgemeine Fälle oder Beispiele für derartige ‘Abstiege’ oder avatārische Manifestationen spiritueller Energien in die menschliche Daseinssphäre als außerordentlich starke Impulse gibt. Einer dieser Fälle betrifft die Avatāras, die durch den Einfluss des Bīja im Mahā-Vishnu erzeugt werden. Der zweite Fall betrifft die Buddhas. Der dritte bezieht sich auf Fälle, die in seltenen Intervallen unter Menschen vorkommen – solche die weder Avatāras noch Buddhas sind. Beachtet wohl, dass der Avatāra der Abstieg des Einflusses oder eines Teils einer Gottheit durch ein geliehenes, vermittelndes, bodhisattvisches, psychologisches Instrument ist, um sich in einem reinen Menschenkörper im menschlichen Dasein zu offenbaren. Die Buddhas inkarnieren ihre eigenen spirituell-göttlichen Einflüsse, die in jedem Fall von dem eigenen inneren Gott des Buddhas ausstrahlen. Dies geschieht während der ganzen Dauer ihres Wirkens in der Menschenwelt. Diese spirituellen Kräfte offenbaren sie für Ziele und Werke, deren Güte unbeschreiblich erhaben und deren Wohltätigkeit weitreichend ist.
Bei den selten vorkommenden Menschen, die weder Avatāras noch Buddhas sind, die jedoch zeitweilig spirituell-göttliche Strahlen verkörpern oder beherbergen, handelt es sich um jene außergewöhnlichen Männer und Frauen, die infolge eines karmischen Lebensabschnittes besonders frei von den lähmenden und hindernden Fesseln der Persönlichkeit sind und infolgedessen einen Strahl ihrer eigenen höheren Dreiheit empfangen können. Dieser Strahl dringt in ihre Seele ein und entfacht das Denken und Fühlen solcher Männer und Frauen mit seiner heiligen Flamme.
Beispiele für solche ungewöhnliche Menschen sind Männer und Frauen, deren ganzes Leben von einer spirituellen und intellektuellen Kraft erfüllt ist, die die Fähigkeit der Durchschnittsmenschen bei weitem übertrifft. Dennoch sind sie nur menschliche Wesen. Es können dies zum Beispiel große und hochherzige Dichter mit einer seherischen Vision sein – oder es kann sich um große und edelgesinnte Künstler, um hervorragende und hochgemute Philosophen, Menschenfreunde oder Staatsmänner handeln. Es sind aber Menschen und nur Menschen. Sie sind also weder Avatāras noch Buddhas. Ihre Existenz ist in den verschiedenen Weltreligionen so gut bekannt, dass sie mit verschiedenen Namen bezeichnet wurden. In der christlichen Religion zum Beispiel nennt man sie ‘Heilige’, ‘heilige Männer’ und Ähnliches.
Obwohl diese drei Klassen, die spirituell-göttliche Strahlen manifestieren – die drei Fälle, in denen sich das Göttlich-Spirituelle in der menschlichen Lebensebene manifestiert –, untereinander ganz verschieden sind, muss doch besonders beachtet werden, dass der ursächliche Impuls oder Drang in allen drei Klassen seinen Ursprung in dem geheimnisvollen Bīja hat, der vom Anfang bis zum Ende eines kosmischen Manvantaras im Herzen des Mahā-Vishnu existiert und wirksam ist.
Beachtet als einen letzten Gedanken in diesem Zusammenhang, dass es auch Avatāras des Mahā-Śiva gibt, wie auch Avatāras des Vishnu, des solaren Erneuerers, die vielleicht die einflussreichsten und welterschütterndsten Wirkungen in der Sphäre der Menschen hervorbringen.
Die Pflicht einiger Avatāras, ihr Charakteristikum oder ist es, alles Spirituelle, Edle, Gute, Erhabene und Heilige zu bewahren und zu erhalten, während die Arbeit anderer Avatāras in Erneuerung und Umarbeitung besteht. Sie müssen aus dem Schoß des Schicksals hervorbringen, was auf Geburt wartet. Aus diesem Grunde ist die Tätigkeit des Śiva-Einflusses oft und einfältigerweise als ‘zerstörend’ bezeichnet worden. Die tiefe Philosophie in diesem Vorgang ist weder von den abendländischen noch von den orientalischen Gelehrten verstanden worden. Aber es ist klar, dass das wirbelnde Rad des Lebens Zeiten hervorbringt, in denen das Schlechte, das sich im Laufe des Schicksals bildete, beseitigt werden muss, wo überalterte Strukturen und Werke von Grund auf zerstört werden müssen, damit – spirituell wie materiell – neuere Strukturen und mächtigere und erhabenere Bauten errichtet werden können.
Das Gedankenthema, auf das ich mich hier eingelassen habe, ist in der Tat sehr schwierig. Ich fühle mich daher genötigt, ein warnendes Wort zu äußern, damit man nicht voreilige Schlüsse zieht – in der Annahme, man habe die volle Bedeutung und Tragweite der wunderbaren Lehre, die ich so kurz darlegte, verstanden. Denkt daran, dass das ganze Sonnenuniversum ein einziger gewaltiger Organismus ist, der in all seinen Bereichen von Leben durchströmt und durchpulst ist, und dass das, was die Menschen ‘Geist’ und was sie ‘Materie’ nennen, nur zwei Phasen oder zwei Aspekte oder zwei Ergebnisse des Vorwärtsdrängens oder des Dahineilens der kosmischen Leben-Bewusstsein-Substanz sind, die ihre unfassbar erhabene Bestimmung ausarbeitet.
Daher kann unser ganzes Sonnensystem von zwei Standpunkten aus betrachtet werden: einmal als ein kosmischer Körper aus Sphären, die aus dem Gewebe des kosmischen Bewusstseins gebildet sind. Von einem anderen Standpunkt aus kann es als ein wunderbares und höchst kompliziertes Flechtwerk von Sphären angesehen werden, die auf vielen Ebenen existieren, die aber alle unter der Herrschaft unserer kosmischen Gottheit und innerhalb deren Grenzen stehen. Daher vibriert jedes Atom voll Leben; jedes ist ein verkörpertes Bewusstseinszentrum, eine Monade, wie wir sagen. Der einzige Unterschied zwischen Atom und Gott, zwischen den Scharen der Finsternis und den Scharen des Lichts besteht im Unterschied ihrer evolutionären Entwicklung.
Abschließend: Lasst uns den Versuch machen, etwas von der Bedeutung der so geheimnisvollen und gefährlichen Erfahrungen zu verstehen, denen sich einige, die weiter evolviert sind als wir, jetzt unterziehen.