Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
- Theosophische Perspektiven
Die Buddhas des Mitleids
Das große, klassische Werk der hinduistischen Yoga-Schulen ist die Bhagavad-Gītā, und sie wird von den Mahatmas und H. P. Blavatsky oft mit großer Achtung erwähnt und zitiert. Die Schrift ist unentbehrlich für all jene, die ernsthaft nach Selbsterkenntnis suchen, aber sie bringt das göttliche Mitleid, das Buddha in seinem Yoga der großen Entsagung unterrichtete, nicht deutlich zum Ausdruck, so dass wir uns damit nun etwas näher beschäftigen wollen. Auch H. P. Blavatsky scheint dies so empfunden zu haben, und so schenkte sie uns gegen Ende ihres Lebens einen wundervollen Auszug aus der östlichen heiligen Literatur, und zwar das Büchlein Die Stimme der Stille,1 übertragen aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“; es beginnt: „Gewidmet den Wenigen“ – nämlich jenen, die sich danach sehnen, das theosophische Ideal zu leben und der Menschheit ‘bis an das endlose Ende’ zu dienen. Aus diesem kleinen Buch können wir die Grundsätze ersehen, auf welchen die Schulung der Chelas durch die Meister beruht. Würden diese Grundsätze in einem weiteren Kreise akzeptiert werden, käme das nicht nur unserer Erkenntnisfähigkeit der ewigen Dinge zugute, sondern würde auch die Welt zu einem unendlich besseren Ort machen, um darin zu leben.
In Bezug auf das Mitleid finden wir in dem Büchlein Die Stimme der Stille:
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. Es ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, Alayas SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das Gesetz ewiger Liebe.
– S. 93
Alaya ist das, was Emerson die ‘Überseele’ nannte. Sie „spiegelt sich in jedem Gegenstand des Universums wider“ (The Secret Doctrine, I:48). Dieselbe Lehre des Mitleids ist ein wesentlicher Bestandteil des wahren Christentums. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe“ und „Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,8; 4,20).
Viele Aphorismen aus der Mahāyāna-Lehre, die von Evans-Wentz in Tibetan Yoga and Secret Doctrines angeführt werden, geben die Grundlehren der Stimme der Stille wieder, deren Leitprinzip Selbstaufopferung und Liebe für die Menschheit ist. Zum Beispiel:
Solange das Denkvermögen nicht geschult ist, uneigennützig und unendlich von Mitleid erfüllt zu sein, verfällt man leicht in den Irrtum, nur für sich selbst Befreiung zu suchen.
– S. 75
Das Geringste, das wir für andere tun, ist kostbarer als alles, was wir für unser eigenes Wohl tun.
– S. 90
Wenn man bei allem, was man tut, nur das Wohl der anderen beabsichtigt, ist es nicht nötig, nach eigenem Vorteil zu streben.
– S. 90
Wie unwichtig der wahre Yogi okkulte Phänomene findet, wird deutlich beschrieben:
Für denjenigen, der die erhabene Weisheit erworben hat, ist es gleich, ob er wunderliche Kräfte anwenden kann oder nicht.
– S. 92
Das letzte Zitat aus den Yoga-Abhandlungen bezieht sich auf eine Lehre, die das Herz und die Seele der Stimme der Stille bilden. Es ist die erhabenste Möglichkeit der spirituellen Bestrebung:
Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die die bodhische Erleuchtung erreicht haben und die imstande sind, als göttliche Inkarnationen zur Erde zurückzukehren und bis zu der Zeit der Auflösung des physischen Universums für die Befreiung der Menschheit und aller Lebewesen zu arbeiten, zeigt die Tugend des Heiligen Dharma. …
– S. 95
Dies ist ein Hinweis auf „die Große Entsagung“, ein Ideal, das alle anderen Ideale überragt und das der heutigen Welt angeboten wird; es spricht für die Tibeter, dass sie solche heiligen Männer (Bodhisattvas oder Nirmāṇakāyas) mehr verehren als einen fortgeschrittenen Yogi oder ‘Heiligen’, wie erhaben er auch sein möge. Damit verbunden ist das Thema der Pratyeka-Buddhas, über das es immer wieder Missverständnisse gibt, obschon H. P. Blavatsky dies in der Stimme der Stille und The Theosophical Glossary ausführlich erläutert hat.
Dr. Evans-Wentz behauptet mit Recht, dass die Befreiung des Menschen von der Unwissenheit das letztendliche Ziel des Buddhismus in seiner tiefsten Bedeutung ist, die Überwindung von Māyā, was wir nur unzureichend mit dem Wort Illusion übersetzen. Er weist darauf hin, dass Buddha lehrte, dass das erstrebenswerte Ziel, nämlich in Nirvāṇa einzugehen, aufgeschoben werden kann. Das gilt für jene erhabenen Seelen, die bereit sind, dem höchsten Weg der Selbstverleugnung zu folgen und die Große Entsagung zu vollziehen. Das bedeutet, dass der nach spiritueller Meisterschaft Strebende beschließt, niemals aus dem Saṁsāra oder dem Weltbewusstsein der Phänomene zu treten und in den unsagbar gesegneten Zustand von Nirvāṇa einzugehen, bevor nicht die müden Pilger in allen Welten das Beste ihrer Möglichkeiten in diesem Manvantara erreicht haben. Dies ist zweifellos die höchste mögliche Form Universaler Bruderschaft! Die heiligen Männer, die zurückkehrten, um der Erde unter Verzicht auf ihren eigenen Fortschritt zu helfen, werden die Buddhas des Mitleids genannt, womit man sie von den Pratyeka-Buddhas unterscheidet, deren Ideal nicht so erhaben ist.
Gemäß den führenden tibetischen Anhängern des Mahāyāna und durch den Lama Samdup bestätigt, werden die Pratyeka-Buddhas allgemein so betrachtet, wie es hier von Dr. Evans-Wentz formuliert wird:
Selbsterleuchtete (Sanskrit: Pratyeka) Buddhas unterrichten die Lehre nicht in der Öffentlichkeit, sondern tun nur denjenigen Gutes, die in persönlichen Kontakt mit ihnen treten, während allwissende Buddhas, zu denen Gautama der Buddha gehörte, die Lehre im großen Kreis predigen. …
Die Gurus der Schule des Großen Symbols lehren, dass Nirvāṇa nicht für ein Endstadium gehalten werden soll, in welchem derjenige, der diesen Zustand erreicht hat, sich in vollkommenem Frieden und Glückseligkeit selbstsüchtig aufhält. Das heißt, dass Nirvāṇa nicht ein Zustand ist, der nur zum eigenen Wohlergehen erreicht werden muss, sondern um des größeren Wohles willen, das jedem bewussten Wesen zuteil wird, ausschließlich aus diesem Grund. Deshalb ist es so, dass in Tibet alle, die nach göttlicher Weisheit streben, nach vollkommener Erleuchtung, bekannt als Nirvāṇa, das Gelübde ablegen, den Zustand des Bodhisattva oder Großen Lehrers anzustreben. Dieses Gelübde enthält, dass der Gelobende erst dann in Nirvāṇa eintreten wird, wenn sämtliche Lebewesen, angefangen von den niedrigsten Bewohnern der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, … sicher über den Ozean von Saṁsāra zum anderen Ufer geführt worden sind.
Die südlichen Buddhisten neigen dazu, Nirvāṇa, wenn es von Pratyeka (oder nicht lehrenden) Buddhas erreicht wurde, als einen Endzustand zu betrachten. Diejenigen, die zur Mahāyāna-Schule gehören sagen jedoch, dass Nirvāṇa ein Zustand des Geistes ist, der infolge einer evolutionären spirituellen Entwicklung erreicht wird, und deshalb nicht als ein Endzustand betrachtet werden kann, da Evolution kein vorstellbares Ende hat, sondern ewig fortdauert.
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 94, 144
Hieraus können wir ersehen, dass die Pratyeka-Buddhas in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, und trotzdem spricht H. P. Blavatsky von ihrer ‘spirituellen Selbstsucht’! Zu Beginn stiftete diese Aussage einige Verwirrung, aber sie wiederholte sie in ihrem später veröffentlichten Theosophical Glossary und G. de Purucker erläuterte diese scheinbare Schwierigkeit in seinen Goldenen Regeln der Esoterik. Da das Thema für den Studierenden des „Pfades der Rechten Hand“ von großer Bedeutung ist, zitieren wir einige Passagen aus diesem Buch:
(Die Pratyeka-Buddhas) sind sehr erhabene Menschen, sehr heilige Menschen, in jeder Hinsicht sehr reine Menschen, deren Erkenntnis weit, umfassend und tief, deren geistiger Zustand erhaben ist, die aber nach Erreichung der Buddhaschaft, anstatt den Ruf allmächtiger Liebe zu fühlen, anstatt umzukehren und jenen zu helfen, die weniger weit voran sind, weiterschreiten und hinübergehen in das höchste Licht und in die unaussprechliche Glückseligkeit Nirvāṇas eintreten und die Menschheit zurücklassen. Das sind die Pratyeka-Buddhas. Obwohl erhaben, stehen sie doch nicht auf gleicher Stufe wie die Buddhas des Mitleids in ihrer unsagbaren Erhabenheit.
Der Pratyeka-Buddha, der die Buddhaschaft für sich selbst verwirklicht, tut dies nicht selbstsüchtig, er macht es nicht um seiner selbst willen, und er fügt anderen damit keinen Schaden zu. Wenn das so wäre, könnte er ja nie seine Einzel-Buddhaschaft erlangen. Er erreicht sie aber, und er erreicht Nirvāṇa sozusagen automatisch, … .
Es besteht ein eigenartiger Widerspruch im Begriff Pratyeka-Buddha. Der Name ‘Pratyeka’ bedeutet ‘jeder für sich selbst’; und dieser ‘jeder-für-sich-selbst’-Geist ist gerade das Gegenteil von dem Geist, der in dem Orden der Buddhas des Mitleids herrscht, denn in dem Orden des Mitleids herrscht der Geist: Gib auf dein Leben für alles, was da lebt. …
Die Zeit kommt, wo der Pratyeka-Buddha, so heilig er ist, so erhaben er in Ideal und Streben auch ist, einen Entwicklungszustand erreicht, von dem aus er auf jenem Pfad nicht weiter vorwärts gehen kann. Hingegen hat der andere, der sich gleich von Anfang an mit der ganzen Natur und mit ihrem Herzen verbindet, ein ständig wachsendes Arbeitsgebiet, so wie sich sein Bewusstsein weitet und dieses Gebiet erfüllt. Und dieses wachsende Gebiet ist einfach unbegrenzt, weil es die grenzenlose Natur selbst ist. Er wird völlig eins mit dem spirituellen Universum, während der Pratyeka-Buddha nur eins wird mit einem besonderen Strang oder Strom der Entwicklung im Universum. …
So kommt auch die Zeit, wo der Buddha des Mitleids, obgleich er allem entsagt hat, weit über den Zustand hinausgelangt ist, den der Pratyeka-Buddha erreicht hat. Und wenn der Pratyeka-Buddha nach einer bestimmten Zeit aus dem nirvanischen Zustand heraustritt, um seine evolutionäre Reise erneut anzutreten, dann wird er sich weit hinter dem Buddha des Mitleids finden.
– Goldene Regeln der Esoterik, S. 172-177
Der Pratyeka-Pfad ist kein Pfad, der nach unten führt, es sei denn, man vergleicht ihn mit dem Pfad der Buddhas des Mitleids, mit dem ‘Geheimen PFAD’, wie ihn H. P. Blavatsky in der Stimme der Stille bezeichnet. Zu Beginn gibt es nur einen Pfad, aber schließlich muss die große Entscheidung getroffen werden; und der Pratyeka-Buddha wählt die Richtung, die von der Welt der Menschen wegführt, während der andere den Weg wählt, auf dem „er in dem glorreichen Körper, den er für sich selbst webte, verbleibt, unsichtbar für die nicht eingeweihte Menschheit, um über sie zu wachen und sie zu schützen“, wie ein Stein in dem mystischen ‘Schutzwall’.
Gautama der Buddha ermutigte auch die einfachen Menschen, indem er ihnen zeigte, wie er die furchterregenden und scheinbar endlosen Zyklen von Tod und Wiedergeburt durchbrechen konnte, um das ewige Drehen des karmischen Rades zu überwinden, während er gleichzeitig die Fesseln schmiedete, die ihn am Ende zurückhielten. Indem er das Gute Gesetz treu befolgte, konnte er einst die unsagbare Glückseligkeit der Befreiung erreichen. Aber für diejenigen, die durch ihre übergroße Liebe für die Menschheit dieses Recht erworben haben, erklärte der Buddha den erhabenen Pfad der Selbstaufopferung, den Pfad der Großen Entsagung.
Gautama der Buddha gehörte zu der Hierarchie des Mitleids, aus der von Zeit zu Zeit große Lehrer und Boten ausgesandt werden, um die Menschheit bei ihrer Evolution zu unterstützen. Die Spitze dieser Hierarchie ist der Stille Wächter, „der Namenlose Eine“, wie H. P. Blavatsky ihn nennt. Und sie sagt:
Er ist der „Initiator“, genannt das „GROSSE OPFER“. Denn an der Schwelle des LICHTES sitzend, blickt er in das LICHT aus dem Kreise der Dunkelheit, den er nicht überschreiten will; noch wird er seinen Posten verlassen vor dem letzten Tage dieses Lebenszyklus. Warum bleibt der einsame Wächter auf seinem selbsterwählten Posten? Warum sitzt er an der Quelle der ursprünglichen Weisheit, von der er nicht länger mehr trinkt, weil er nichts zu lernen hat, das er nicht wüsste – führwahr, weder auf dieser Erde noch in ihrem Himmel? Weil die einsamen Pilger mit wunden Füßen, auf ihrer Rückreise in ihre Heimat, bis zum letzten Augenblick niemals sicher sind, ihren Weg in dieser grenzenlosen Wüste von Illusion und Materie, Erdenleben genannt, nicht zu verlieren. Weil er gern einem jeden Gefangenen, dem es gelungen ist, sich von den Banden des Fleisches und der Illusion zu befreien, den Weg zeigen möchte zu jener Region der Freiheit und des Lichtes, aus der er sich selbst freiwillig verbannt hat.
– The Secret Doctrine, I:208
Wir mögen uns fragen, warum die Kenntnis der Lehren von den Pratyeka-Buddhas und den Buddhas des Mitleids für unsere eigene Existenz von Bedeutung ist. Das Erreichen dieses hohen Evolutionsstadiums liegt in so ferner Zukunft, dass uns die Bedeutung für unser heutiges, praktisches Leben nicht klar ist.
Es ist aber keine Angelegenheit der fernen Zukunft, die uns nur in dem Maße interessieren sollte, wie eine schöne, idealistische Theorie. Wir müssen in unserem Leben stets erneut wählen, und wenn wir die ‘Große Entsagung’ auch noch nicht erreicht haben, so spielt sie im Prinzip dennoch bei jeder von uns getroffenen Entscheidung eine Rolle. Oft ist unser Motiv Eigeninteresse, aber andererseits gibt es in jedem Menschenleben zahllose Beispiele manchmal ganz unscheinbarer Taten, die von dem Verlangen getragen werden, anderen zu helfen oder zu dienen.
Der Entschluss, dem einen oder dem anderen Pfad zu folgen, wird jeden Tag von uns gefasst, und wir werden ständig zwischen dem einen und dem anderen Pfad hin und her pendeln, bis wir stark genug sind, um den entscheidenden Schritt zu tun.
Fußnoten
1. H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, Theosophischer Verlag GmbH, Paperback: ISBN 3-930623-01-3, DM 11,-; Geschenkausgabe, Leinen mit Goldschnitt: 3-930623-00-5, DM 21,- . [back]