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Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre

Yoga in Tibet

Es ist noch gar nicht solange her, dass Berichte von okkulten Mysterien und über Magie in Tibet oder anderswo von seriösen Gelehrten aus dem Westen lächerlich gemacht wurden. In guten akademischen Kreisen wurden sie ganz einfach nicht zugelassen. Die Verfolgungen, denen sich H. P. Blavatsky im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ausgesetzt sah, ergaben sich teilweise aus dem geringschätzigen Leugnen solcher Möglichkeiten seitens der westlichen, gebildeten Gesellschaftsschichten, die sich durch die materialistischen Vorstellungen und die glänzenden praktischen Erfolge der modernen Wissenschaft in einer Art Rausch befanden. Sogar die allegorische Interpretation verwirrender Legenden über Götter und Helden in den hinduistischen und buddhistischen Schriften wurden verworfen.

Oberst H. S. Olcott, der damalige Präsident der Theosophischen Gesellschaft, sprach vor einem Jahrhundert mit dem berühmten Orientalisten Professor Max Müller über diese Angelegenheit. Professor Müller riet den Anhängern der Theosophie, den Behauptungen der abergläubischen Pandits, dass die Hinduschriften solche verborgenen Bedeutungen enthielten, keine Beachtung zu schenken. Heute jedoch lassen sich engagierte Orientalisten finden, die nicht nur mit mehr Ehrfurcht und Verständnis über diese Dinge sprechen, sondern auch die Tatsache akzeptieren, dass manche Yogis sogenannte ‘übernatürliche Kräfte’ besitzen. Es gibt Menschen, wie beispielsweise Frau David-Neel, die sogar übereinstimmend behaupten, dass sie tatsächliche, wenn auch begrenzte Kenntnis von der Grundlage bestimmter, elementarer, psycho-magischer Vorgänge besitzen. Dr. Richard Wilhelm, Sinologe, Dr. Carl Jung, Psychologe, Sir Wallis Budge, ehemaliger Direktor der ägyptischen Abteilung des Britischen Museums, Dr. Alexis Carrel, Autor von Der unbekannte Mensch und andere prominente Gelehrte und Reisende haben bezeugt, dass okkultes Wissen existiert, das im Westen für groben Aberglauben gehalten wurde, bis H. P. Blavatsky damit begann, ‘die Denkstrukturen zu zerbrechen’.

Die Berichte von Frau David-Neel über ihre Erfahrungen hinter dem Schleier Tibets haben viel dazu beigetragen, dass die Augen der westlichen Menschen sich für die Tatsache öffneten, dass das Leben der Menschen in diesem geheimnisvollen Land von psycho-okkulten Aktivitäten durchdrungen ist, die nicht nur Einbildung sind.

Die wissenschaftlichen Bücher von Dr. W. Y. Evans-Wentz über die Tibetische Religion lenkten überall auf der Welt die Aufmerksamkeit auf die seltsame Vermischung von tiefen spirituellen Lehren mit niedrigeren magischen Praktiken, die in Tibet und den benachbarten Ländern blühen. Der philosophische und geistige Aspekt entspricht fast ganz den Grundsätzen der Theosophie, was nicht sehr verwunderlich ist, da beide der gleichen Quelle entspringen, nämlich der alten Weisheitsreligion, behütet von der großen Weißen Loge, deren bedeutendstes esoterisches Zentrum das geheimnisvolle ‘Śambhala’ in Tibet ist.

Allgemein nimmt man an, dass der Buddhismus im siebten oder achten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung zum erstenmal in Tibet eingeführt wurde. Padma Sambhava, ein bekannter Hindulehrer, wird als sein bedeutendster Vertreter betrachtet. Seine Wiedergabe der Lehren beinhaltet zweifelsohne eine große Verbesserung der abergläubischen einheimischen Bon-Religion, aber sie trug trotzdem das Zeichen der niedrigeren tantrischen Magie und wich deshalb wesentlich von den reinen Lehren Buddhas ab. H. P. Blavatsky bringt jedoch zum Ausdruck, dass der Buddha, der die zukünftige Gefahr für den Buddhismus in Indien vorhersah, einige seiner Arhats tausend Jahre früher zu den Hängen des Kailas Gebirges in Tibet sandte, um den Kern seiner Lehre, den wahren ‘esoterischen’ Buddhismus, dort zu verankern. Sie sagt auch, dass die tibetische Bevölkerung in jener Zeit zu tief in Zauberei versunken war, um die reinen Lehren annehmen zu können, und dass aus diesem Grund erst zu einem späteren Zeitpunkt „der Buddhismus schließlich durch seine zwei verschiedenen Schulen geprägt wurde – die esoterischen und die exoterischen Abteilungen – im Lande des Bon-pa“. Aus chinesischen Quellen ist gleichwohl bekannt, dass einzelne Adept-Lehrer längere Zeit in der ‘verschneiten Gebirgskette Tibets’ gelebt hatten.

Über Padma Sambhava, der noch heute von vielen in Tibet bewundert wird, sagt der Orientalist Colonel Yule: „Er war ein großer Meister der Zauberei“, womit er wahrscheinlich auf seine niedrigeren tantrischen Arbeitsmethoden hinweist. H. P. Blavatsky unterscheidet die niedrigeren folgendermaßen von den höheren Tantras:

„Außerhalb Bengalens ist über tantrische Riten und Zeremonien so wenig bekannt, dass man dieser bemerkenswerten Schrift [Sāva-Sādhanā] Raum schafft, trotz der widerlichen und abscheulichen Zeremonien, die sie beschreibt. Da es sowohl Magie (reine, psychische Wissenschaft) als auch Zauberei (deren unreinen Gegenpol) gibt, gibt es auch das, was als die ‘Weißen’ und ‘Schwarzen’ Tantras bekannt ist. Das eine ist eine klare und äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form, das andere ein teuflisches Volksbuch mit bösen Anweisungen für den Möchtegernhexenmeister und -zauberer. Manche von den darin beschriebenen Zeremonien sind noch viel schlimmer als das Sāva-Sādhanā … .“

– H. P. Blavatsky: Collected Writings , 4:615

Auch W. Q. Judge spricht von der „edlen Philosophie“ vieler tantrischer Schriften, aber selbstverständlich verurteilt auch er den niedrigeren Tantrismus mit all seinen Greueln. Es ist bedauerlich, dass die „äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form“, wie H. P. Blavatsky die „Weißen“ Tantras nennt, durch das Dominieren der schwar-zen Magie unter den Tantrikern dermaßen verdunkelt wurde, dass heute sogar der Name einen schändlichen Klang hat.

Das religiöse Denken in Tibet ist leider noch immer durch Aberglauben, durch magische Praktiken und übermäßige Rituale befleckt – menschliche Schwächen, die sich auch in anderen Religionen einschleichen. Die gute Seite Tibets liegt in der Tatsache, dass die am meisten bewunderten nationalen Helden keine Soldaten oder gar Staatsmänner sind, sondern große spirituelle Lehrer und Reformatoren.

Von Zeit zu Zeit wurde versucht, Reformen zustande zu bringen, mit einigem Erfolg. Aber erst im vierzehnten Jahrhundert bewirkte der große Adept und Avatāra Tsong-kha-pa eine wesentliche Umkehr und säuberte das religiöse Milieu, indem er 40 000 Mönche und Lamas, die aus Eigennutz handelten und aus dem Buddhismus eine Handelsware machten, verbannte. Tsong-kha-pa ist der edelste und weiseste Reformator des nördlichen Buddhismus, und obschon ursprünglich ein Apostel der teilweise reformierten Kargyütpa Schule, schloss er sich dem anderen Orden, den Khadampas an, ‘sie, die durch Vorschriften gebunden sind’, um das neue System aufzubauen, das sich zum Orden der Gelugpas oder Gelbkappen entwickelte, welcher zur etablierten Kirche Tibets wurde. Er reorganisierte auch die esoterische oder mystische Bruderschaft (die von H. P. Blavatsky erwähnte ‘esoterische Abteilung’, worauf schon früher verwiesen wurde). Einzelne der höchsten Lamas besaßen das Vorrecht, dieser Abteilung anzugehören. In der Außenwelt ist sehr wenig über diese Bruderschaft bekannt.

Seit der Reform durch Tsong-kha-pa ist der Zustand niemals mehr so tief gesunken, aber wie bereits angemerkt, ist er auch heute noch immer nicht ideal. Die Gelugpas stehen jedoch weit über manchen der Rotkappensekten des westlichen Tibet, die sich noch der alten schwarzen Magie der Bon-Religion widmen.

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die interessanten Entwicklungen des buddhistischen Yoga in Tibet zu beschreiben, aber Interessenten werden in Werken wie jenen von Dr. Evans-Wentz, der im Westen viel zum Wissen über den Lamaismus beigetragen hat, Informationen erhalten. Sein Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines berührt ein vorher unbekanntes Gebiet mit Informationen aus erster Hand. Er behauptet, dass die sieben wichtigsten Abhandlungen, die aus dem Tibetischen übersetzt wurden, eine umfangreiche Wiedergabe des Mahāyāna oder nördlichen Buddhismus, des ‘großen Fahrzeugs’, darstellen. Für die nach spiritueller Erleuchtung Suchenden sind sie jedoch nicht alle von gleichem Wert.

Die Abhandlungen wurden von dem früheren Lama Kami Dawa-Samdup aus dem Tibetischen übersetzt, einem Professor der tibetischen Sprache an der Universität von Kalkutta, einem eingeweihten Lama des Kargyütpa Ordens des Mahāyāna Buddhismus, dessen wichtigste Lehren rein und von hohem Gehalt sind. Er war äußerst kompetent und interpretierte die außerhalb der Lamaklöster wenig oder überhaupt nicht bekannten Lehren und Yoga-Methoden. Selbst mit Hilfe seiner sorgfältigen Übersetzungen und den wertvollen Kommentaren von Dr. Evans-Wentz werden westliche Studierende mit den Themen Schwierigkeiten haben, weil nur wenige eine leise Ahnung von den sehr unterschiedlichen Gebieten der Natur und den dazugehörigen Bewusstseinszuständen haben, mit denen der Okkultist jedoch vertraut ist.

Wir können hier noch hinzufügen, dass der Lama Dawa-Samdup zur Verteidigung von H. P. Blavatsky ein bemerkenswertes Zeugnis ablegte, da man sie zu ihren Lebzeiten beschuldigte, dass sie die alten Weisheitslehren der Theosophie erfunden habe. In einem anderen Werk, The Tibetan Book of the Dead, schreibt Dr. Evans-Wentz:

„Der damalige Lama Kazi Dawa-Samdup war der Meinung, dass trotz der feindseligen Kritik gegenüber den Werken H. P. Blavatskys genügend Beweise vorliegen, dass die Autorin gründliche Kenntnisse der höheren lamaistischen Lehren besaß, in die sie eingeweiht war, wie sie behauptete.“

– S. 7

Aber H. P. Blavatsky gehörte zu einem höheren Orden der Schulung als dem, den man gewöhnlich als den lamaistischen bezeichnet, es sei denn, dass mit den Worten ‘höhere lamaistische Lehren’ die Alte Weisheit gemeint ist, der ‘Esoterische Buddhismus’, wie sie die Lehren der ‘großen Weißen Loge’ nannte. Es wäre aber nicht gerechtfertigt, daraus abzuleiten, dass sämtliche lamaistische Institutionen in Tibet ihr spirituelles Leben verloren hätten, denn Meister KH und H. P. Blavatsky nennen bestimmte Lamaklöster in Lhasa und anderswo, in welchen wahre und eingeweihte Okkultisten leben und in welchen Chela-Schulen für wahren spirituellen Yoga arbeiten. H. P. Blavatsky merkt an, dass viele Orientalisten die echten Lamas bestimmter Lamaklöster in Lhasa usw. mit den zahlreichen Scharlatanen und Zauberern der Bon-Religion verwechseln.

Sowohl Dr. Evans-Wentz wie Frau David-Neel erwähnen, dass die am höchsten geachteten Lehrer in Tibet den Besitz von okkulten Fähigkeiten sowie das Hervorbringen okkulter Phänomene als vollkommen unwichtig ansehen und diese nur als Nebenprodukte im Prozess der spirituellen Entwicklung erachten.

In Bezug auf die oben erwähnten Abhandlungen über Yoga schreibt Dr. Evans-Wentz, dass die beiden ersten Teile „im Grunde nicht tantrischer Natur seien“. Die siebte Abhandlung sei ebenfalls rein und ist eine der verbreitetsten Schriften des Mahāyāna. Sie ist eine verkürzte Wiedergabe des in Sanskrit verfassten Prajñā Pāramitā (vollkommene Weisheit) und behandelt die übersinnliche Lehre von Śūnyatā, der ‘Leere’. Diese Abhandlung stützt die Erklärung von H. P. Blavatsky, dass Buddha die innere Gruppe seiner Anhänger in einer geheimen Lehre unterwies. Manche buddhistische Gelehrte verneinen dies und behaupten, dass die einzige wirkliche geheime Lehre, welche die tibetischen Lamas besitzen, den Unterricht in praktischer Magie betrifft, der keinen spirituellen oder philosophischen Wert besitzt. In ihrem Kommentar über die sieben Abhandlungen weist Dr. Evans-Wentz darauf hin, dass sie sich irren, denn Nāgārjuna, der dreizehnte der buddhistischen Patriarchen, veröffentlichte im zweiten Jahrhundert nach Christus einige esoterische Lehren. Dr. Evans-Wentz schreibt darüber:

Laut Nāgārjuna stellte der Buddha Śākya-Muni selbst die Lehren zusammen und übergab sie der Obhut der Nāgas (Schlangengötter), damit sie in den Tiefen eines großen Sees oder eines Meeres verborgen bleiben, bis die Zeit kommen werde, in der die Menschen bereit sind, sie zu empfangen. Dies scheint auf eine symbolische Weise zu erklären, dass Buddha die Lehren esoterisch weitergab und dass sie seit Zeitaltern auch von Buddhas auf diese Weise gelehrt wurden, die Śākya-Muni vorausgingen, wie auch vom Bodhi-Orden der großen Yoga-Adepten, den weisesten der Weisen, die lange Zeit durch die Nāgas oder Schlangen-Halbgötter symbolisiert wurden. … Auch die Lamas behaupten, dass sie sich auf mündliche Überlieferungen berufen, von welchen gesagt wird, dass sie von den vertrauten Jüngern Buddhas zunächst im Geheimen weitergegeben wurden und dass Buddha die Prajñā Pāramitā sechzehn Jahre nach seiner Erleuchtung unterrichtet, … und weiter, dass Mahākāshyapa, sein gelehrigster Schüler und apostolischer Nachfolger, die Lehren im Geheimen festhielt. Die Japaner besitzen gleichfalls eine Überlieferung, die besagt, dass Buddha seine Schüler esoterisch, die breite Masse aber exoterisch unterrichtete. …“

Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 344

In der dritten bis zur sechsten Abhandlung werden zum größten Teil die psychologischen und körperlichen Übungen für die Entwicklung der persönlichen Willenskraft und dergleichen behandelt; diese Lehre ist völlig verschieden von dem, was von Buddha dem Herrn und den Meistern der Weisheit als der gesunde, unpersönliche und heilsame Yoga gelehrt wurde. Diese Teile behandeln die verführerischen Seitenwege des Okkultismus, die vom geraden und schmalen Pfad abzweigen, der zum Leben hinführt; sie sind von den früheren, unreinen vorbuddhistischen Bon-pa Quellen abgeleitet. H. P. Blavatsky beschreibt die Bon-Religion wie folgt:

… ein degenerierter Rest der chaldäischen Mysterien aus alten Zeiten, nun eine Religion, ganz und gar gegründet auf schwarze Magie, Zauberei und Wahrsagerei. Dass der Name von Buddha darin erwähnt wird, hat nichts zu sagen.“

– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 4:15 (Fußnote)

Die fünfte Abhandlung gibt den „Chöd“ Ritus des ‘kurzen Pfades’ wieder, eine energische und verzweifelte Methode, um durch ein mystisches Opfer der Persönlichkeit an die Elementale zur Adeptschaft zu gelangen, ein grauenhafter Vorgang, der den unbesonnenen Abenteurer leicht in den Wahnsinn oder gar Tod führen kann. Das falsche Ziel des grausamen und widerlichen Ritus ist es, den Ausübenden über eine Abkürzung von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien! Wahrscheinlich wird dieser Ritus jedoch vor allem mit dem Ziel ausgeführt, eine niedrige Ordnung von Elementalen zu beherrschen und dadurch zu magischen Fähigkeiten zu gelangen. Frau David-Neel fand heraus, dass viele bösartige Menschen in Tibet solche verachtenswerten und zerstörerischen Methoden anwenden, um zum Beispiel ihre Begierde nach Rache zu stillen.

Die erste Abhandlung (Kargyütpa, „Der höchste Pfad der Schülerschaft“) ist bedauerlicherweise sogar mit gewissen Anweisungen über Phänomene in Zusammenhang gebracht worden, die die schwächere Seite des Lamaismus offenbaren und nicht in ein Werk gehören, dessen Grundton im Allgemeinen erhaben ist. Pseudo-okkulte Ideen solcher Art können in einer Welt keinen Einfluss haben, die nach der Ausbeutung psychischer Kräfte für rein selbstsüchtige Zwecke strebt oder deren Interesse im besten Fall auf die Befriedigung der Neugierde abzielt, die sich hinter wohlklingenden Namen verbirgt. Vielleicht vermögen sie ein paar westliche Gelehrte aufzuwecken, welche die Existenz der okkulten Seite der Natur ableugnen, und ihnen zu der Einsicht zu verhelfen, dass die östliche Ansicht nicht unbegründet ist – wie merkwürdig sie manchen auch erscheinen mag –, dass diese Seite der Natur ebenso ‘natürlichen’ Gesetzen unterworfen ist wie die physische Welt.

Die Wirkungsweise solcher Gesetze wird in Tibet auf einem niedrigeren Gebiet durch Phänomene angedeutet, wie die Beherrschung des Feuers oder des Wassers, Levitation, Telepathie oder die Fähigkeit, Körperfunktionen zu ändern. „Tummo“, die Beherrschung der Körpertemperatur, ist für manche Lamas oder Einsiedler in Tibet ein wohlbekannter halbokkulter Prozess. Wer diese Kunst beherrscht, ist imstande, sich warm und behaglich zu fühlen, auch wenn er ohne warme Kleidung eisiger Kälte ausgesetzt ist. Frau David-Neel und andere Beobachter bezeugen die Existenz des Tummo aus persönlicher Erfahrung, und in wenigstens einem Fall wandte sie es mit Erfolg an, als sie ohne Brennstoff in die bittere Kälte einer bergigen Wildnis geraten war.

Solche Dinge werden aber von den Weisen nicht als spirituelle Errungenschaften oder von wahrhaftigem Wert erachtet, obschon sie unter gewissen Umständen nützlich sein können. Im Orient ist eine merkwürdige Geschichte über dieses Thema im Umlauf. Ein Händler und ein Yogi eines niedrigeren Ordens begegneten sich am Ufer eines Flusses. Letzterer erzählte ausführlich über die große Mühe, die er hatte, um zu erlernen, wie man die Levitation ausüben könnte. Danach erhob er sich mit seinem Körper in die Luft und schwebte über den Fluss. Der eher praktisch veranlagte Händler bezahlte einen Fährmann, damit er ihn übersetze. Als sie sich am anderen Ufer wieder trafen, erwartete der triumphierende Yogi, vom Händler bewundert zu werden. Er war jedoch sprachlos, als dieser ihm ein kleines Geldstück zeigte und bemerkte: „Dies ist der Wert deines Wunders!“

Wie bereits erwähnt, enthält der höhere Lamaismus viele der wichtigsten Grundsätze der Theosophie, und die Verbreitung solcher Lehren erklärt die wohlbekannten positiven Eigenschaften der Tibeter im Allgemeinen. Lama Yongden schreibt in seiner aufschlussreichen und romantischen Geschichte Mipam folgendes über eine Donquichotterie der Freundlichkeit: „Er meinte, dass sein junger Gefährte verrückt war, aber in Tibet erweckt jede Tat, die vom Mitleid inspiriert ist, ein intuitives Gefühl der bewundernden Ehrfurcht, sogar bei den gröbsten und äußerst materialistisch denkenden Bauern und Handelsleuten. Chenrezigs1 mit den tausend Armen, das Symbol unendlichen Mitleids, wurde nicht umsonst als der Höchste Herr und Beschützer des imposanten Landes des Schnees gewählt.

Den lockeren Humor der Tibeter illustriert folgender Aphorismus, welchen Dr. Evans-Wentz in seinem Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines erwähnt:

„Wenn ein Mensch, der seiner Religion ergeben ist, versucht, andere anstatt sich selbst zu verbessern, ist das ein großer Fehler.“

– S. 87

„Wer eine Religion predigt und nicht ausübt, gleicht einem Papagei, der ein Gebet aufsagt, und das ist ein ernsthafter Fehler.“

– S. 77

Viele Schriftsteller und Reisende aus dem Westen urteilen positiv über den Charakter der tibetischen Bevölkerung. So studierte ein Engländer einige Jahre lang die buddhistischen Lehren der Lamas, die an der Südgrenze Tibets leben. Er sagt, dass die Lamas und andere Tibeter, denen er begegnete, einen Geist der Liebe und Freundlichkeit besitzen, der durch einen ungewöhnlich ruhigen Ton gekennzeichnet ist, was neu für ihn war. Er erkannte schnell, dass diese außergewöhnliche Eigenschaft nicht auf unspezifischen Emotionen gründete, sondern die Folge ihrer Lebensanschauung war, die Folge einer umfassenden Einsicht in die Struktur des Universums, wodurch sie den engen Zusammenhang aller Dinge und Prinzipien erkennen. Für den aufgeklärten Lama sind die Naturgesetze und die Ethik oder die Regeln für rechtes Leben nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe. Dies ist ein wesentlicher Punkt in der theosophischen Yoga-Lehre. Wir machen einen verhängnisvollen Fehler, wenn wir Religion und Wissenschaft voneinander trennen. G. de Purucker beschreibt das in wenigen Worten:

„ … Ethik ist nicht reine Konvention, so sehr die Menschen sie auch in konventionelle Worte kleiden mögen, sondern sie beruht auf der Harmonie und der Liebe im Herzen des Universums. … Ethik ist etwas sehr Wesentliches, weil sie aus der Natur selbst stammt. Ethik bedeutet, gut zu handeln; gut bedeutet Harmonie; gut heißt Gesetz; und Gesetz ist kosmische Gerechtigkeit, die universale Liebe ist.“

Fußnoten

1. Aussprache Tsjen-re-zi. Im Sanskrit Avalokiteśvara, der ‘Herr, der wahrgenommen wird’, das Höhere Selbst, der Dritte Logos, sowohl himmlisch als auch menschlich, immer darauf bedacht, Schmerz zu entdecken und jenen, die in Not sind, beizustehen. [back]