Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
- Theosophische Perspektiven
YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darsanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.
– G. von Purucker, Okkultes Wörterbuch
Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
– G. von Purucker, Quelle des Okkultismus, I:50
In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.
Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.
Theosophische Perspektiven
Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Frei überarbeitet nach Charles J. Ryan
© 1998 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Vorwort
Dieses Buch stellt eine freie Überarbeitung des ursprünglichen Titels Yoga and Yoga Discipline von Charles J. Ryan dar und gibt einen allgemeinen Überblick über Yoga, so wie er in vielerlei Formen und in verschiedenen Ländern des Ostens seit Jahrhunderten praktiziert wird. Der Text macht deutlich, dass im Westen im Allgemeinen die niedrigeren Yoga-Formen bekannt sind. Er warnt vor den Gefahren jener Arten von Yoga, welche die Förderung psychischer Kräfte zum Ziel haben. Das Buch unterstützt die höheren Formen von Yoga, welche die spirituelle Entwicklung des Menschen zum Ziel haben.
Ein Kapitel beschäftigt sich insbesondere mit der sogenannten Yoga-Therapie. Es ist die Zusammenfassung eines Gespräches aus dem Jahre 1960, bei dem James A. Long den Vorsitz führte, um Antwort auf die Fragen einiger Suchender zu geben. Da das Thema jedoch stark an Popularität gewonnen hat, befassen sich auch heute wieder viele Menschen damit. Das Kapitel Yoga-Therapie legt die theosophischen Vorstellungen für die Bereiche der Yoga-Therapie dar, die unseres Erachtens eine ernsthafte Erörterung verdienen. Somit hat es besonders für jene Bedeutung, die sich in irgendeiner Weise in der Praxis mit Yoga beschäftigen.
Okkultismus ist nicht Magie,
obschon die Magie eines seiner Werkzeuge ist.
Okkultismus ist nicht das Erwerben
psychischer oder spiritueller Fähigkeiten,
obschon beide seine Diener sind.
Okkultismus bedeutet auch nicht,
dem Glück nachzujagen, so wie man dieses Wort
versteht, denn der erste Schritt ist Aufopferung,
der zweite Entsagung.
Okkultismus ist die Wissenschaft des Lebens,
der Lebenskunst.
– H. P. BLAVATSKY, Lucifer I, S. 7 (engl.)
Yoga und Theosophie
YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darśanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch
Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, I:50
In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.
Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.
Wir müssen aber auch hinzufügen, dass dies kaum mit den niedrigeren psycho-physiologischen Yoga-Methoden übereinstimmt, die im Westen so sehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die niedrigere Form von Yoga besteht prinzipiell hauptsächlich aus psycho-physischen Übungen, die im Osten entwickelt wurden. Aber der wahre Yoga, wie er von allen großen spirituellen Weisen und Sehern gelehrt wird, und den die Theosophie hervorhebt, ist eine wohl-geordnete spirituelle Ausbildung. Ihn auszuüben führt zur Entdeckung des Inneren Gottes. Das Wissen um diese Art von Yoga ist im materialistischen Westen nahezu verloren gegangen. Andeutungsweise fand es sich lediglich bei einzelnen erleuchteten christlichen Mystikern, und die äußeren Umstände verhinderten, dass es so öffentlich und ‘wissenschaftlich’ gelehrt werden konnte, wie es die Lehrer im Osten taten. Aber auch in den westlichen Ländern wurden Methoden entwickelt, die den intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen entgegenkamen. Der Zustand der Glückseligkeit sollte durch Liebe, Zuwendung und gute Taten erreicht werden. Die Selbstdisziplin und die körperlichen Geißelungen der Mönche hingegen glichen den Methoden mancher sogenannter Hindu-Yogis, die versuchen, den Willen zu stärken und vielleicht ein paar übersinnliche Kräfte niedrigerer Ordnung zu erlangen, indem sie ihren Körper mit Feuer und Messern usw. in mancherlei Weise quälen. Ihre anstößigen Praktiken werden manchmal – ganz zu Unrecht – mit dem verwechselt, was man ‘Hatha-Yoga’ nennt.
Vor etwa hundert Jahren betrachtete man selbst den echten östlichen Yoga hier im Westen als ein Produkt der Fantasie, auf Aberglauben beruhend, als etwas, mit dem man sich nur lächerlich machen konnte. 1893 predigte ein aufrichtiger hinduistischer Sannyāsin1 in überzeugenden Worten eine hohe Form des Yoga im Westen; aber es war unvermeidlich, dass er von den meisten seiner Zuhörer falsch verstanden wurde. Die meisten waren oberflächlich oder lediglich neugierig und wurden hauptsächlich vom östlichen Glanz angezogen, welcher für sie die neueste Mode war, der aber gleichzeitig Einsichten in geheimnisvolle Enthüllungen bieten konnte. Als die Menschen entdeckten, dass der wahre Yoga nichts mit dem Praktizieren von ‘magischen Künsten’ zu tun hat, sondern dass er ein anstrengendes Bemühen um Selbstkontrolle und Selbstläuterung ist, blieb sein Publikum aus.
Wenn die gröberen Formen der Begierde überwunden sind, kommen andere, heimtückischere Formen der Selbstsucht zum Vorschein, auch wenn sie hinter wohlklingenden Namen verborgen sind. Dazu gehört beispielsweise das eigennützige Verlangen nach okkulten Fähigkeiten. Unsere Beweggründe sind nicht immer so rein, wie wir es uns selbst vormachen; und die selbstsüchtige Persönlichkeit ist besonders darauf aus, ihren Willen schlau durchzusetzen, indem sie den niedrigeren Verstand gebraucht. Der Yoga, den die Welt braucht, gründet auf der Liebe zur Wahrheit, Güte und Weisheit, ohne Nebenabsichten: Er macht das selbstlose Arbeiten für andere zu einer Gewohnheit und einer Freude. Dem Anfänger des theosophischen Yoga wird gesagt, dass „der erste Schritt darin besteht zu leben, um der Menschheit zum Segen zu sein“ und ihm wird die Frage gestellt: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“ (Die Stimme der Stille, S. 94).
Wir müssen verstehen, dass die theosophische Sichtweise der spirituellen Selbstkontrolle – des Yoga – oder welchen Namen man ihr auch immer geben mag, auf diesem Prinzip beruht, und dass sie der einzige Weg ist, der uns aus dem Gefängnis des Niederen Selbstes in das Licht des ewigen Tages führt. Es ist erschütternd zu beobachten, wie intelligente Menschen, die von den konventionellen Antworten auf tiefere Lebensfragen und Fragen über den Menschen selbst enttäuscht werden, aufgrund ihrer Unwissenheit in verschiedenen Richtungen nach Antworten suchen und dabei auf irreführende, fruchtlose und mitunter sogar gefährliche Abwege geraten, während der wahre Weg offen vor ihnen liegt, die Wegweiser da sind und die Führer bereitstehen, um die richtige Richtung anzudeuten.
Die niedrigeren Yoga-Praktiken, welchen der Westen in letzter Zeit viel Interesse entgegenbringt, haben durch unfachmännische Experimente im Bereich der Atemkontrolle oder Prāṇāyāma (wörtlich „Beherrschung des Atems“), mit besonderen Körperhaltungen und anderen psycho-physiologischen Methoden vielen Menschen ernsthaften Schaden zugefügt. Nicht nur der Körper kann dabei geschädigt werden. Vielmehr kann es auch passieren, dass uns unbekannte, elementale Kräfte erweckt werden, die dem Menschen gefährlich werden können und die eine Bedrohung für den Verstand, die moralische Integrität und sogar für das Leben selbst darstellen.
Wer der Versuchung erliegt, das Tor zu psychischen Erfahrungen zu öffnen, tut gut daran, das Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, im Sinn zu behalten. Ebenso wie Bulwer-Lytton in Zanoni, zeigt H. P. Blavatsky in ihrem Buch A Bewitched Life [Ein verhextes Leben] in Erzählungen das Leiden und das Elend auf, das durch das Betreten von ‘verbotener Erde’ verursacht wird. Die Menschen in den Erzählungen hatten gute Absichten, klopften aber nicht in der richtigen Art und Weise an. Die beiden okkulten Schriftsteller hatten genaue und persönliche Kenntnisse über diese Thematik. Keine intellektuelle Schulung, auch nicht westliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, können die Sicherheit eines solchen Unterfangens garantieren, und das gilt gleichermaßen sowohl für östliche als auch für westliche Menschen.
Bedauerlicherweise ist bereits vielen Menschen durch die Anwendung der Atemkontrolle erheblicher Schaden entstanden, bei der das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Prāṇas gestört wurde, von denen Leben und Gesundheit abhängig sind, oft von der leider zu späten und bitteren Einsicht gefolgt, dass man besser den gutgemeinten Warnungen Gehör geschenkt hätte. Solche Tragödien sind üblicherweise eine Folge der Unwissenheit über diese Gefahren. Einige Menschen mit einem übersteigerten Selbstvertrauen sind bereit, jedes Risiko einzugehen, um sich der verbotenen Kräfte zu bemächtigen. ‘Verboten’ sind diese Kräfte in dem Sinne, dass wir in dieser Evolutionsperiode – ausgenommen einige wenige weiter Fortgeschrittene unter uns – das Recht noch nicht erworben haben, sie zu besitzen und die Qualität noch nicht entwickelt haben, diese Kräfte beherrschen zu können. Diese Kräfte sind durch die weise Vorsehung der Natur nicht ohne weiteres zugänglich, und jene, die ungeschickt sind, werden zu Opfern und nicht zu Meistern. H. P. Blavatsky sagt über diese Menschen, dass sie leicht „der Zauberei und der schwarzen Magie verfallen und dadurch ein furchtbares Karma für sich selbst anhäufen können, das sich über viele Inkarnationen hin auswirken wird“. Es „bestehe sogar die Gefahr, dass die gegenwärtige Persönlichkeit vernichtet werde“.
Jenen, die die Alte Weisheit studierten, wurde von Versuchen abgeraten, aus dem materiellen Körper auszutreten und im Astralen zu reisen. Leider werden im Namen der Theosophie manchmal Methoden propagiert, die das Ziel haben, den etherischen Körper von seiner materiellen Hülle zu lösen und im Astralen umherzustreifen, mit seinen fremden und bestürzenden Täuschungen, mit seinen uns unbekannten Gefahren und uns teilweise feindlich gesinnten Bewohnern. Derartige Methoden widersprechen aber ganz und gar den Lehren H. P. Blavatskys und den gesunden Idealen vom Dienst an der Menschheit. Zahlreiche Fälle zeugen von den unheilvollen Folgen für Verstand und Körper von solchen Menschen, die es zwar gut meinten, aber dennoch zu wenig wussten und sich widernatürlich vom Schutz des physischen Körpers lösten.
Die Warnungen vor unverantwortlichen Versuchen, durch Atemkontrolle und andere Hatha-Yoga-Übungen gewisse Bewusstseinszustände zu erlangen, beziehen sich selbstverständlich nicht auf vollkommen gesunde Atem- und Körperübungen, die im Sporttraining üblich sind. Es ist bedauerlich, dass es noch immer irreführende Auffassungen über Yoga gibt und dass so viele arglistige Sirenen ihre verführerischen Melodien singen, um unvorsichtige Menschen anzulocken. Auch gibt es mancherlei Hellseher, echte oder weniger echte, die ihre Praktiken unter der Bezeichnung ‘Yogi’ ausüben; man sollte sie aber eher als Wahrsager bezeichnen. Anstelle eines seriösen und wertvollen Buches über die Philosophie des höheren Yoga aus dem Osten, werden dem Publikum Dutzende von Titeln angeboten, die eine ungesunde Neugierde nach Phänomenen schüren und die Schriftsteller kümmern sich nicht darum, ob die von ihnen empfohlenen Übungen gefährlich sind oder nicht. Vielleicht sind sie in manchen Fällen selbst unwissend, aber ihre Intention ist es, ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Andere, die es noch weniger genau nehmen, bieten für Geld Fernunterricht an und behaupten, dass auf diese Weise die psychischen Zentren und damit auch die pranischen Kräfte im Körper erweckt werden können. Es ist aber sehr gefährlich für die Gesundheit des Körpers und der Seele, wenn das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Wieder andere versprechen Entspannung und ‘Einweihung’ gegen Bezahlung. Müssen wir uns da noch wundern, dass die echten Mysterienschulen vor Entweihungen solcher Art sicher abgeschirmt wurden (und werden) ?
Es gibt auch andere Formen des psychischen Yoga, die in keiner Weise von geistiger Natur sind, wenn sie auch nicht so allgemein zum Handelsobjekt gemacht werden. Sie gründen sozusagen auf einer Art wissenschaftlicher Technik, um teilweise hinter den Schleier der materiellen Natur vorzudringen. Aber diese Technik ist nicht geistiger oder ethischer als z. B. die Chemie und kann ebenso wie die Chemie für verwerfliche Zwecke verwendet werden. In den Händen von Menschen, deren Herz und Seele nicht vollkommen rein und selbstlos sind – und wie wenige sind das –, kann diese Technik genauso zerstörerisch wirken wie eine Mischung von Chemikalien in den Händen eines unwissenden und neugierigen Kindes. Alexandra David-Neel, eine buddhistische Gelehrte und maßgebliche Kapazität auf dem Gebiet des tibetischen Okkultismus, sowie Lama Yongden und andere kompetente Personen beschrieben viele Fälle, in denen Gefühle der Rache, des Ehrgeizes oder der Eitelkeit boshafte Menschen in Tibet dazu brachten, sich dieser Technik zu bemächtigen, ohne sich um die Folgen für andere und meist auch für sich selbst zu kümmern.
Aber abgesehen von jenen, die solche minderwertigen Ambitionen haben, gibt es viele intelligente Menschen, die nicht nur die ‘Eitelkeiten’ dieser Welt aufgeben, sondern gleichzeitig auch noch die gesunden Aktivitäten und Pflichten vernachlässigen, um durch niedrigere Yoga-Techniken persönlichen Fortschritt zu erlangen. Sie denken zu Unrecht, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnis sei und konzentrieren sich auf ihre eigene Errettung und Seligkeit, ohne dabei das Wohlergehen der gesamten Menschheit vor Augen zu haben, die sich dann selbst darum kümmern muss, wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dasselbe Prinzip der Erlösung für sich selbst ist in einer etwas anderen Form auch in den christlichen Ländern nicht unbekannt. Man muss allerdings hinzufügen, dass hier mittlerweile das Verantwortungsbewusstsein den ärmeren Ländern gegenüber zunimmt.
Eine Haltung des ganz und gar auf sich selbst gerichteten Seins ist das letzte, was ein wahrer Yogi gutheißen würde, denn hierdurch werden die Grundregeln der Bruderschaft verleugnet. Echter Yoga kann ohne Einsicht in die menschliche Natur nicht existieren, verbunden mit Mitleid und dem Verlangen zu helfen sowie dem wahrhaftigen Streben, den am wenigsten Fortgeschrittenen die schwere Last spiritueller und intellektueller Unwissenheit zu erleichtern, „selbst den Geringsten von ihnen“. Wahrer Yoga kennt keine ‘Unberührbaren’. H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Buch Studies in Occultism:
…Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die ‘Große Entsagung des SELBST“, bedingungslos und absolut, in Gedanken wie in Taten’.
– S. 28 (engl.)
… Es ist nicht möglich, spirituelle Kräfte anzuwenden, solange auch nur der geringste Rest von Selbstsucht in dem Ausübenden vorhanden ist. Denn wenn das Motiv nicht absolut rein ist, wird das Spirituelle sich in das Psychische umwandeln, auf der Astralebene wirken und schreckliche Folgen können dadurch hervorgebracht werden. Die Mächte und Kräfte der tierischen Natur können gleichermaßen von selbst- oder rachsüchtigen wie auch von unselbstsüchtigen und alles verzeihenden Menschen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes eignen sich nur für diejenigen, die ganz und gar reinen Herzens sind – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.
– S. 3 (engl.)
Diese Erde ist unser Zuhause und wird es noch lange sein. Die Welt hat alle Hilfe nötig, die starke Seelen ihr geben können. In dem Maße, in dem wir auf diesem Weg vorwärts kommen, werden alle unsere Fähigkeiten – spirituelle, intellektuelle und sogar psychische – uns in einem natürlichen Prozess der Evolution unterstützen, weil sie durch die richtige Bestrebung hervorgerufen wurden. Die spirituelle Intuition in dieser entmutigten und materialistischen Welt für selbstloses Streben zu erwecken, ist der einzige Yoga, der der Mühe wert ist. Es ist der Yoga der Theosophie. Er stellt uns vor eine drängende Frage: „Werde ich mein Leben so gestalten, dass es nützlicher wird, dass ich mehr Bereitschaft zeige und imstande sein werde, der Menschheit so zu dienen, wie mein Gewissen es mir vorschreibt?“
Die Meister, welche die Theosophische Bewegung gründeten, sind mit dem psycho-physischen System des Yoga vollkommen vertraut, das bestimmte Körperübungen und Atemprozesse (das niedrigere Hatha-Yoga) zur Einführung oder als Grundlage für höhere Übungen zum Gegenstand hat. Aber aus der eigenen Erfahrung kennen sie die ernsthaften Schwierigkeiten und sie haben nie zugelassen, dass Yoga in der Theosophischen Bewegung praktiziert wurde, wie interessant es auch für die Wissenschaftler dieser Art von Psychologie sein mag. Von jeder Neigung, ‘Yoga zu praktizieren’, wird dringend abgeraten und zwar aus sehr guten Gründen. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn wir uns an die Erzählung von Buddha erinnern, der seine Suche nach der Wahrheit mit dem Ausüben des niedrigeren Yoga, der strengen Askese, begann. Schon bald merkte er, dass sie seinem Fortschritt im Wege stand, sogar in seinem besonderen Fall.
Für die ernsthaft nach Seelenweisheit Strebenden kommt die Zeit, dass ungewöhnliche psycho-spirituelle Kräfte und Fähigkeiten sich auf ganz natürliche Weise zu entwickeln beginnen. Und unter diesen günstigen Umständen wird es für sie nicht schwierig sein, einem wahren Lehrer zu begegnen, der ihre weitere Entwicklung führen kann. Eine okkulte Redensart lautet: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Die Weisen suchen fortwährend nach Anwärtern für die Armee des Lichtes und der Befreiung. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die als würdig erachtet wurden, in dieser Weise begleitet zu werden, ungeachtet ihrer Religion oder ihrer philosophischen Überzeugung.
Auch die Geschichte der Theosophischen Bewegung kennt solche Fälle. Ein markantes Beispiel ist das eines intellektuellen und spirituell entwickelten jungen Hindus, der H. P. Blavatsky nach ihrer Ankunft in Indien unterstützte, wo sie unter großen Schwierigkeiten ihre erste theosophische Zeitschrift veröffentlichte. Dieser junge Mann, Dāmodar K. Māvalankar, gab seinen stolzen brahmanischen Kastenstand und eine glänzende, vor ihm liegende weltliche Karriere auf, um sich mittels der Theosophie der selbstlosen Arbeit für die Menschheit zu widmen. Sein Ernst und seine Zuwendung erregten die Aufmerksamkeit der Meister der Weisheit und des Mitleids, die hinter der Arbeit der Theosophischen Bewegung stehen. Er entdeckte, dass in ihm allmählich und ohne besondere Anstrengung neue Kräfte, körperliche wie auch mentale und sogar psycho-spirituelle Kräfte erwachten und für die große Aufgabe des Dienens, die ihm bevorstand, zur Verfügung standen.
Dāmodar ist das leuchtende Vorbild eines wahren Schülers. Die von ihm entwickelten Fähigkeiten waren für die Bedingungen, die er ins Leben gerufen hatte, vollkommen normal. Er strebte sie nicht um persönlicher Befriedigung willen an, noch stellte er sie jemals zur Schau, um jene nicht anzuspornen, die egoistisch nach psychischen Kräften strebten. Ein weiteres, für sich selbst sprechendes Beispiel für das gleiche Verhalten verkörperte innerhalb der Theosophischen Bewegung William Quan Judge. Und die Geschichte kennt noch andere.
Diese ergebenen Menschen hatten das erhabene Ziel der menschlichen Evolution vor Augen: das Einswerden mit dem Inneren Gott, dem ‘Vater im Himmel’. Das Beschreiten dieses Pfades sowie das Entwickeln des geistigen Hellsehens, erfordern keine physischen Übungen oder körperlichen Quälereien – und sicher nicht das Aufgeben jeglichen Kontaktes zu den Mitpilgern auf dem emporführenden Lebensweg. Die für uns notwendigen Erfahrungen liegen im Straucheln und Wiederaufstehen in unserem Leben verborgen, darin, dass wir das Unvermeidliche frohen Mutes annehmen und dass wir die karmischen Schwierigkeiten anderer verständnisvoll miterleben, die oftmals der Hilfe bedürfen, um sich selbst helfen zu können. Der theosophische ‘Brahma Yogi’ ist der Mann oder die Frau, an den oder an die sich die anderen, die sich gerade in Schwierigkeiten befinden, instinktiv wenden, um Rat zu erhalten. Der Brahma Yogi ist der Friedenstifter, zu Hause und überall.
William Quan Judge fasst den theosophischen Yoga in überzeugenden Worten wie folgt zusammen:
Was also ist das wahre Heilmittel, der königliche Talisman? Es ist PFLICHT, Selbstlosigkeit. Beständige Pflichterfüllung ist der höchste Yoga. … Auch wenn Sie nichts anderes tun können als Ihre Pflicht, sie wird Sie zum Ziel führen.
– Letters That Have Helped Me, Teil II, S. 3
Es ist die grenzenlose barmherzige Liebe, die Buddha veranlasste zu sagen: „Lasst die Sünden dieses dunklen Zeitalters auf mich fallen, auf dass die Welt errettet werde“, und nicht der Wunsch zu entfliehen oder das Verlangen nach Wissen. Dies kommt in den Worten zum Ausdruck: „DER ERSTE SCHRITT IN WAHRER MAGIE IST HINGABE FÜR DAS WOHL ANDERER.“
– Ebenda, S. 19
Yoga in Tibet
Es ist noch gar nicht solange her, dass Berichte von okkulten Mysterien und über Magie in Tibet oder anderswo von seriösen Gelehrten aus dem Westen lächerlich gemacht wurden. In guten akademischen Kreisen wurden sie ganz einfach nicht zugelassen. Die Verfolgungen, denen sich H. P. Blavatsky im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ausgesetzt sah, ergaben sich teilweise aus dem geringschätzigen Leugnen solcher Möglichkeiten seitens der westlichen, gebildeten Gesellschaftsschichten, die sich durch die materialistischen Vorstellungen und die glänzenden praktischen Erfolge der modernen Wissenschaft in einer Art Rausch befanden. Sogar die allegorische Interpretation verwirrender Legenden über Götter und Helden in den hinduistischen und buddhistischen Schriften wurden verworfen.
Oberst H. S. Olcott, der damalige Präsident der Theosophischen Gesellschaft, sprach vor einem Jahrhundert mit dem berühmten Orientalisten Professor Max Müller über diese Angelegenheit. Professor Müller riet den Anhängern der Theosophie, den Behauptungen der abergläubischen Pandits, dass die Hinduschriften solche verborgenen Bedeutungen enthielten, keine Beachtung zu schenken. Heute jedoch lassen sich engagierte Orientalisten finden, die nicht nur mit mehr Ehrfurcht und Verständnis über diese Dinge sprechen, sondern auch die Tatsache akzeptieren, dass manche Yogis sogenannte ‘übernatürliche Kräfte’ besitzen. Es gibt Menschen, wie beispielsweise Frau David-Neel, die sogar übereinstimmend behaupten, dass sie tatsächliche, wenn auch begrenzte Kenntnis von der Grundlage bestimmter, elementarer, psycho-magischer Vorgänge besitzen. Dr. Richard Wilhelm, Sinologe, Dr. Carl Jung, Psychologe, Sir Wallis Budge, ehemaliger Direktor der ägyptischen Abteilung des Britischen Museums, Dr. Alexis Carrel, Autor von Der unbekannte Mensch und andere prominente Gelehrte und Reisende haben bezeugt, dass okkultes Wissen existiert, das im Westen für groben Aberglauben gehalten wurde, bis H. P. Blavatsky damit begann, ‘die Denkstrukturen zu zerbrechen’.
Die Berichte von Frau David-Neel über ihre Erfahrungen hinter dem Schleier Tibets haben viel dazu beigetragen, dass die Augen der westlichen Menschen sich für die Tatsache öffneten, dass das Leben der Menschen in diesem geheimnisvollen Land von psycho-okkulten Aktivitäten durchdrungen ist, die nicht nur Einbildung sind.
Die wissenschaftlichen Bücher von Dr. W. Y. Evans-Wentz über die Tibetische Religion lenkten überall auf der Welt die Aufmerksamkeit auf die seltsame Vermischung von tiefen spirituellen Lehren mit niedrigeren magischen Praktiken, die in Tibet und den benachbarten Ländern blühen. Der philosophische und geistige Aspekt entspricht fast ganz den Grundsätzen der Theosophie, was nicht sehr verwunderlich ist, da beide der gleichen Quelle entspringen, nämlich der alten Weisheitsreligion, behütet von der großen Weißen Loge, deren bedeutendstes esoterisches Zentrum das geheimnisvolle ‘Śambhala’ in Tibet ist.
Allgemein nimmt man an, dass der Buddhismus im siebten oder achten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung zum erstenmal in Tibet eingeführt wurde. Padma Sambhava, ein bekannter Hindulehrer, wird als sein bedeutendster Vertreter betrachtet. Seine Wiedergabe der Lehren beinhaltet zweifelsohne eine große Verbesserung der abergläubischen einheimischen Bon-Religion, aber sie trug trotzdem das Zeichen der niedrigeren tantrischen Magie und wich deshalb wesentlich von den reinen Lehren Buddhas ab. H. P. Blavatsky bringt jedoch zum Ausdruck, dass der Buddha, der die zukünftige Gefahr für den Buddhismus in Indien vorhersah, einige seiner Arhats tausend Jahre früher zu den Hängen des Kailas Gebirges in Tibet sandte, um den Kern seiner Lehre, den wahren ‘esoterischen’ Buddhismus, dort zu verankern. Sie sagt auch, dass die tibetische Bevölkerung in jener Zeit zu tief in Zauberei versunken war, um die reinen Lehren annehmen zu können, und dass aus diesem Grund erst zu einem späteren Zeitpunkt „der Buddhismus schließlich durch seine zwei verschiedenen Schulen geprägt wurde – die esoterischen und die exoterischen Abteilungen – im Lande des Bon-pa“. Aus chinesischen Quellen ist gleichwohl bekannt, dass einzelne Adept-Lehrer längere Zeit in der ‘verschneiten Gebirgskette Tibets’ gelebt hatten.
Über Padma Sambhava, der noch heute von vielen in Tibet bewundert wird, sagt der Orientalist Colonel Yule: „Er war ein großer Meister der Zauberei“, womit er wahrscheinlich auf seine niedrigeren tantrischen Arbeitsmethoden hinweist. H. P. Blavatsky unterscheidet die niedrigeren folgendermaßen von den höheren Tantras:
„Außerhalb Bengalens ist über tantrische Riten und Zeremonien so wenig bekannt, dass man dieser bemerkenswerten Schrift [Sāva-Sādhanā] Raum schafft, trotz der widerlichen und abscheulichen Zeremonien, die sie beschreibt. Da es sowohl Magie (reine, psychische Wissenschaft) als auch Zauberei (deren unreinen Gegenpol) gibt, gibt es auch das, was als die ‘Weißen’ und ‘Schwarzen’ Tantras bekannt ist. Das eine ist eine klare und äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form, das andere ein teuflisches Volksbuch mit bösen Anweisungen für den Möchtegernhexenmeister und -zauberer. Manche von den darin beschriebenen Zeremonien sind noch viel schlimmer als das Sāva-Sādhanā … .“
– H. P. Blavatsky: Collected Writings , 4:615
Auch W. Q. Judge spricht von der „edlen Philosophie“ vieler tantrischer Schriften, aber selbstverständlich verurteilt auch er den niedrigeren Tantrismus mit all seinen Greueln. Es ist bedauerlich, dass die „äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form“, wie H. P. Blavatsky die „Weißen“ Tantras nennt, durch das Dominieren der schwar-zen Magie unter den Tantrikern dermaßen verdunkelt wurde, dass heute sogar der Name einen schändlichen Klang hat.
Das religiöse Denken in Tibet ist leider noch immer durch Aberglauben, durch magische Praktiken und übermäßige Rituale befleckt – menschliche Schwächen, die sich auch in anderen Religionen einschleichen. Die gute Seite Tibets liegt in der Tatsache, dass die am meisten bewunderten nationalen Helden keine Soldaten oder gar Staatsmänner sind, sondern große spirituelle Lehrer und Reformatoren.
Von Zeit zu Zeit wurde versucht, Reformen zustande zu bringen, mit einigem Erfolg. Aber erst im vierzehnten Jahrhundert bewirkte der große Adept und Avatāra Tsong-kha-pa eine wesentliche Umkehr und säuberte das religiöse Milieu, indem er 40 000 Mönche und Lamas, die aus Eigennutz handelten und aus dem Buddhismus eine Handelsware machten, verbannte. Tsong-kha-pa ist der edelste und weiseste Reformator des nördlichen Buddhismus, und obschon ursprünglich ein Apostel der teilweise reformierten Kargyütpa Schule, schloss er sich dem anderen Orden, den Khadampas an, ‘sie, die durch Vorschriften gebunden sind’, um das neue System aufzubauen, das sich zum Orden der Gelugpas oder Gelbkappen entwickelte, welcher zur etablierten Kirche Tibets wurde. Er reorganisierte auch die esoterische oder mystische Bruderschaft (die von H. P. Blavatsky erwähnte ‘esoterische Abteilung’, worauf schon früher verwiesen wurde). Einzelne der höchsten Lamas besaßen das Vorrecht, dieser Abteilung anzugehören. In der Außenwelt ist sehr wenig über diese Bruderschaft bekannt.
Seit der Reform durch Tsong-kha-pa ist der Zustand niemals mehr so tief gesunken, aber wie bereits angemerkt, ist er auch heute noch immer nicht ideal. Die Gelugpas stehen jedoch weit über manchen der Rotkappensekten des westlichen Tibet, die sich noch der alten schwarzen Magie der Bon-Religion widmen.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die interessanten Entwicklungen des buddhistischen Yoga in Tibet zu beschreiben, aber Interessenten werden in Werken wie jenen von Dr. Evans-Wentz, der im Westen viel zum Wissen über den Lamaismus beigetragen hat, Informationen erhalten. Sein Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines berührt ein vorher unbekanntes Gebiet mit Informationen aus erster Hand. Er behauptet, dass die sieben wichtigsten Abhandlungen, die aus dem Tibetischen übersetzt wurden, eine umfangreiche Wiedergabe des Mahāyāna oder nördlichen Buddhismus, des ‘großen Fahrzeugs’, darstellen. Für die nach spiritueller Erleuchtung Suchenden sind sie jedoch nicht alle von gleichem Wert.
Die Abhandlungen wurden von dem früheren Lama Kami Dawa-Samdup aus dem Tibetischen übersetzt, einem Professor der tibetischen Sprache an der Universität von Kalkutta, einem eingeweihten Lama des Kargyütpa Ordens des Mahāyāna Buddhismus, dessen wichtigste Lehren rein und von hohem Gehalt sind. Er war äußerst kompetent und interpretierte die außerhalb der Lamaklöster wenig oder überhaupt nicht bekannten Lehren und Yoga-Methoden. Selbst mit Hilfe seiner sorgfältigen Übersetzungen und den wertvollen Kommentaren von Dr. Evans-Wentz werden westliche Studierende mit den Themen Schwierigkeiten haben, weil nur wenige eine leise Ahnung von den sehr unterschiedlichen Gebieten der Natur und den dazugehörigen Bewusstseinszuständen haben, mit denen der Okkultist jedoch vertraut ist.
Wir können hier noch hinzufügen, dass der Lama Dawa-Samdup zur Verteidigung von H. P. Blavatsky ein bemerkenswertes Zeugnis ablegte, da man sie zu ihren Lebzeiten beschuldigte, dass sie die alten Weisheitslehren der Theosophie erfunden habe. In einem anderen Werk, The Tibetan Book of the Dead, schreibt Dr. Evans-Wentz:
„Der damalige Lama Kazi Dawa-Samdup war der Meinung, dass trotz der feindseligen Kritik gegenüber den Werken H. P. Blavatskys genügend Beweise vorliegen, dass die Autorin gründliche Kenntnisse der höheren lamaistischen Lehren besaß, in die sie eingeweiht war, wie sie behauptete.“
– S. 7
Aber H. P. Blavatsky gehörte zu einem höheren Orden der Schulung als dem, den man gewöhnlich als den lamaistischen bezeichnet, es sei denn, dass mit den Worten ‘höhere lamaistische Lehren’ die Alte Weisheit gemeint ist, der ‘Esoterische Buddhismus’, wie sie die Lehren der ‘großen Weißen Loge’ nannte. Es wäre aber nicht gerechtfertigt, daraus abzuleiten, dass sämtliche lamaistische Institutionen in Tibet ihr spirituelles Leben verloren hätten, denn Meister KH und H. P. Blavatsky nennen bestimmte Lamaklöster in Lhasa und anderswo, in welchen wahre und eingeweihte Okkultisten leben und in welchen Chela-Schulen für wahren spirituellen Yoga arbeiten. H. P. Blavatsky merkt an, dass viele Orientalisten die echten Lamas bestimmter Lamaklöster in Lhasa usw. mit den zahlreichen Scharlatanen und Zauberern der Bon-Religion verwechseln.
Sowohl Dr. Evans-Wentz wie Frau David-Neel erwähnen, dass die am höchsten geachteten Lehrer in Tibet den Besitz von okkulten Fähigkeiten sowie das Hervorbringen okkulter Phänomene als vollkommen unwichtig ansehen und diese nur als Nebenprodukte im Prozess der spirituellen Entwicklung erachten.
In Bezug auf die oben erwähnten Abhandlungen über Yoga schreibt Dr. Evans-Wentz, dass die beiden ersten Teile „im Grunde nicht tantrischer Natur seien“. Die siebte Abhandlung sei ebenfalls rein und ist eine der verbreitetsten Schriften des Mahāyāna. Sie ist eine verkürzte Wiedergabe des in Sanskrit verfassten Prajñā Pāramitā (vollkommene Weisheit) und behandelt die übersinnliche Lehre von Śūnyatā, der ‘Leere’. Diese Abhandlung stützt die Erklärung von H. P. Blavatsky, dass Buddha die innere Gruppe seiner Anhänger in einer geheimen Lehre unterwies. Manche buddhistische Gelehrte verneinen dies und behaupten, dass die einzige wirkliche geheime Lehre, welche die tibetischen Lamas besitzen, den Unterricht in praktischer Magie betrifft, der keinen spirituellen oder philosophischen Wert besitzt. In ihrem Kommentar über die sieben Abhandlungen weist Dr. Evans-Wentz darauf hin, dass sie sich irren, denn Nāgārjuna, der dreizehnte der buddhistischen Patriarchen, veröffentlichte im zweiten Jahrhundert nach Christus einige esoterische Lehren. Dr. Evans-Wentz schreibt darüber:
Laut Nāgārjuna stellte der Buddha Śākya-Muni selbst die Lehren zusammen und übergab sie der Obhut der Nāgas (Schlangengötter), damit sie in den Tiefen eines großen Sees oder eines Meeres verborgen bleiben, bis die Zeit kommen werde, in der die Menschen bereit sind, sie zu empfangen. Dies scheint auf eine symbolische Weise zu erklären, dass Buddha die Lehren esoterisch weitergab und dass sie seit Zeitaltern auch von Buddhas auf diese Weise gelehrt wurden, die Śākya-Muni vorausgingen, wie auch vom Bodhi-Orden der großen Yoga-Adepten, den weisesten der Weisen, die lange Zeit durch die Nāgas oder Schlangen-Halbgötter symbolisiert wurden. … Auch die Lamas behaupten, dass sie sich auf mündliche Überlieferungen berufen, von welchen gesagt wird, dass sie von den vertrauten Jüngern Buddhas zunächst im Geheimen weitergegeben wurden und dass Buddha die Prajñā Pāramitā sechzehn Jahre nach seiner Erleuchtung unterrichtet, … und weiter, dass Mahākāshyapa, sein gelehrigster Schüler und apostolischer Nachfolger, die Lehren im Geheimen festhielt. Die Japaner besitzen gleichfalls eine Überlieferung, die besagt, dass Buddha seine Schüler esoterisch, die breite Masse aber exoterisch unterrichtete. …“
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 344
In der dritten bis zur sechsten Abhandlung werden zum größten Teil die psychologischen und körperlichen Übungen für die Entwicklung der persönlichen Willenskraft und dergleichen behandelt; diese Lehre ist völlig verschieden von dem, was von Buddha dem Herrn und den Meistern der Weisheit als der gesunde, unpersönliche und heilsame Yoga gelehrt wurde. Diese Teile behandeln die verführerischen Seitenwege des Okkultismus, die vom geraden und schmalen Pfad abzweigen, der zum Leben hinführt; sie sind von den früheren, unreinen vorbuddhistischen Bon-pa Quellen abgeleitet. H. P. Blavatsky beschreibt die Bon-Religion wie folgt:
… ein degenerierter Rest der chaldäischen Mysterien aus alten Zeiten, nun eine Religion, ganz und gar gegründet auf schwarze Magie, Zauberei und Wahrsagerei. Dass der Name von Buddha darin erwähnt wird, hat nichts zu sagen.“
– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 4:15 (Fußnote)
Die fünfte Abhandlung gibt den „Chöd“ Ritus des ‘kurzen Pfades’ wieder, eine energische und verzweifelte Methode, um durch ein mystisches Opfer der Persönlichkeit an die Elementale zur Adeptschaft zu gelangen, ein grauenhafter Vorgang, der den unbesonnenen Abenteurer leicht in den Wahnsinn oder gar Tod führen kann. Das falsche Ziel des grausamen und widerlichen Ritus ist es, den Ausübenden über eine Abkürzung von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien! Wahrscheinlich wird dieser Ritus jedoch vor allem mit dem Ziel ausgeführt, eine niedrige Ordnung von Elementalen zu beherrschen und dadurch zu magischen Fähigkeiten zu gelangen. Frau David-Neel fand heraus, dass viele bösartige Menschen in Tibet solche verachtenswerten und zerstörerischen Methoden anwenden, um zum Beispiel ihre Begierde nach Rache zu stillen.
Die erste Abhandlung (Kargyütpa, „Der höchste Pfad der Schülerschaft“) ist bedauerlicherweise sogar mit gewissen Anweisungen über Phänomene in Zusammenhang gebracht worden, die die schwächere Seite des Lamaismus offenbaren und nicht in ein Werk gehören, dessen Grundton im Allgemeinen erhaben ist. Pseudo-okkulte Ideen solcher Art können in einer Welt keinen Einfluss haben, die nach der Ausbeutung psychischer Kräfte für rein selbstsüchtige Zwecke strebt oder deren Interesse im besten Fall auf die Befriedigung der Neugierde abzielt, die sich hinter wohlklingenden Namen verbirgt. Vielleicht vermögen sie ein paar westliche Gelehrte aufzuwecken, welche die Existenz der okkulten Seite der Natur ableugnen, und ihnen zu der Einsicht zu verhelfen, dass die östliche Ansicht nicht unbegründet ist – wie merkwürdig sie manchen auch erscheinen mag –, dass diese Seite der Natur ebenso ‘natürlichen’ Gesetzen unterworfen ist wie die physische Welt.
Die Wirkungsweise solcher Gesetze wird in Tibet auf einem niedrigeren Gebiet durch Phänomene angedeutet, wie die Beherrschung des Feuers oder des Wassers, Levitation, Telepathie oder die Fähigkeit, Körperfunktionen zu ändern. „Tummo“, die Beherrschung der Körpertemperatur, ist für manche Lamas oder Einsiedler in Tibet ein wohlbekannter halbokkulter Prozess. Wer diese Kunst beherrscht, ist imstande, sich warm und behaglich zu fühlen, auch wenn er ohne warme Kleidung eisiger Kälte ausgesetzt ist. Frau David-Neel und andere Beobachter bezeugen die Existenz des Tummo aus persönlicher Erfahrung, und in wenigstens einem Fall wandte sie es mit Erfolg an, als sie ohne Brennstoff in die bittere Kälte einer bergigen Wildnis geraten war.
Solche Dinge werden aber von den Weisen nicht als spirituelle Errungenschaften oder von wahrhaftigem Wert erachtet, obschon sie unter gewissen Umständen nützlich sein können. Im Orient ist eine merkwürdige Geschichte über dieses Thema im Umlauf. Ein Händler und ein Yogi eines niedrigeren Ordens begegneten sich am Ufer eines Flusses. Letzterer erzählte ausführlich über die große Mühe, die er hatte, um zu erlernen, wie man die Levitation ausüben könnte. Danach erhob er sich mit seinem Körper in die Luft und schwebte über den Fluss. Der eher praktisch veranlagte Händler bezahlte einen Fährmann, damit er ihn übersetze. Als sie sich am anderen Ufer wieder trafen, erwartete der triumphierende Yogi, vom Händler bewundert zu werden. Er war jedoch sprachlos, als dieser ihm ein kleines Geldstück zeigte und bemerkte: „Dies ist der Wert deines Wunders!“
Wie bereits erwähnt, enthält der höhere Lamaismus viele der wichtigsten Grundsätze der Theosophie, und die Verbreitung solcher Lehren erklärt die wohlbekannten positiven Eigenschaften der Tibeter im Allgemeinen. Lama Yongden schreibt in seiner aufschlussreichen und romantischen Geschichte Mipam folgendes über eine Donquichotterie der Freundlichkeit: „Er meinte, dass sein junger Gefährte verrückt war, aber in Tibet erweckt jede Tat, die vom Mitleid inspiriert ist, ein intuitives Gefühl der bewundernden Ehrfurcht, sogar bei den gröbsten und äußerst materialistisch denkenden Bauern und Handelsleuten. Chenrezigs2 mit den tausend Armen, das Symbol unendlichen Mitleids, wurde nicht umsonst als der Höchste Herr und Beschützer des imposanten Landes des Schnees gewählt.
Den lockeren Humor der Tibeter illustriert folgender Aphorismus, welchen Dr. Evans-Wentz in seinem Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines erwähnt:
„Wenn ein Mensch, der seiner Religion ergeben ist, versucht, andere anstatt sich selbst zu verbessern, ist das ein großer Fehler.“
– S. 87
„Wer eine Religion predigt und nicht ausübt, gleicht einem Papagei, der ein Gebet aufsagt, und das ist ein ernsthafter Fehler.“
– S. 77
Viele Schriftsteller und Reisende aus dem Westen urteilen positiv über den Charakter der tibetischen Bevölkerung. So studierte ein Engländer einige Jahre lang die buddhistischen Lehren der Lamas, die an der Südgrenze Tibets leben. Er sagt, dass die Lamas und andere Tibeter, denen er begegnete, einen Geist der Liebe und Freundlichkeit besitzen, der durch einen ungewöhnlich ruhigen Ton gekennzeichnet ist, was neu für ihn war. Er erkannte schnell, dass diese außergewöhnliche Eigenschaft nicht auf unspezifischen Emotionen gründete, sondern die Folge ihrer Lebensanschauung war, die Folge einer umfassenden Einsicht in die Struktur des Universums, wodurch sie den engen Zusammenhang aller Dinge und Prinzipien erkennen. Für den aufgeklärten Lama sind die Naturgesetze und die Ethik oder die Regeln für rechtes Leben nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe. Dies ist ein wesentlicher Punkt in der theosophischen Yoga-Lehre. Wir machen einen verhängnisvollen Fehler, wenn wir Religion und Wissenschaft voneinander trennen. G. de Purucker beschreibt das in wenigen Worten:
„ … Ethik ist nicht reine Konvention, so sehr die Menschen sie auch in konventionelle Worte kleiden mögen, sondern sie beruht auf der Harmonie und der Liebe im Herzen des Universums. … Ethik ist etwas sehr Wesentliches, weil sie aus der Natur selbst stammt. Ethik bedeutet, gut zu handeln; gut bedeutet Harmonie; gut heißt Gesetz; und Gesetz ist kosmische Gerechtigkeit, die universale Liebe ist.“
Yoga in Indien
Manchmal wird die Frage gestellt, ob H. P. Blavatsky 1878 nach Indien reiste, um dort Yoga zu studieren. Das war aber nicht der Fall. Nach der Gründung der Theosophischen Gesellschaft in Amerika reiste sie nach Indien, um das allgemeine Verständnis für Menschlichkeit und Bruderschaft zu fördern, das sich trotz den tausenden verschiedenen Yogis in einem jämmerlichen Zustand befand. Ein weiterer Grund war die Anweisung ihrer Meister, dass sie die großen Möglichkeiten Indiens fördern sollte, der Welt eine großartige Religions-Philosophie anzubieten, einer Welt, die logischere und befreiendere Lösungen auf die Fragen des Lebens suchte, als die von der dogmatischen Theologie oder der materialistischen Wissenschaft der damaligen Zeit angebotenen.
Sie schenkte dem Drängen vieler Hindus Gehör, die erkannten, dass die alten Lehren durch abergläubische Interpretationen und formelhafte gottesdienstliche Handlungen degeneriert waren. Viele prominente Gesellschaften einheimischer Sanskrit-Gelehrter luden sie ein, Mitglied zu werden und mehrmals ereigneten sich bemerkenswerte Phänomene.
Stolze, selbstzufriedene Brahmanen, die sich niemals um andere kümmerten, erkannten sie als ihre Lehrerin an, sie, die eine Ausländerin war, eine ‘Paria’ und … eine Frau! Bei vielen Anlässen wurde ihr in der Öffentlichkeit von ihnen und anderen indischen Organisationen gedankt, und sie empfing Ehrerweisungen für ihre aufopfernde Arbeit, dem vorwärtsstrebenden Teil Indiens zu höheren Idealen des Denkens und Handelns zu verhelfen. Eine solche Ehrung, angeboten von über dreihundert Hindustudenten einer höheren Schule in Madras, beginnt folgendermaßen:
„Nun, da wir Sie nach Ihrer Rückkehr von den intellektuellen Feldzügen, die Sie im Westen so erfolgreich vollbrachten, aufs Herzlichste willkommen heißen, erkennen wir, dass wir nur einen schwachen Ausdruck unserer großen Dankbarkeit zeigen können, die Indien Ihnen schuldet.
Sie haben Ihr Leben dem selbstlosen Dienst gewidmet, die Wahrheiten der okkulten Philosophie zu verbreiten. Auf die heiligen Mysterien unserer ergrauten Religion und Philosophie haben Sie viel Licht geworfen, indem Sie der Welt Ihr wunderbares Werk Isis entschleiert brachten.
– Incidents in the Life of Madame H. P. Blavatsky, A. P. SINNETT
Zu einer bestimmten Zeit, als viele Menschen meinten, es sei für ihre spirituelle Entwicklung notwendig, für eine okkulte Ausbildung eiligst nach Indien zu reisen, protestierte W. Q. Judge dagegen und sagte, dass dies nicht der Wunsch der Meister sei. Es entspräche auch nicht den von H. P. Blavatsky gebrachten Lehren, dass Theosophen den östlichen Methoden sklavisch folgen sollten, noch sollte der heutige Orient als Beispiel oder als Ziel gesehen werden. Der Westen muss einer Methode der spirituellen Entwicklung folgen, die seinem Charakter und dem Milieu seiner Völker entspricht. Selbstverständlich kann und muss der Westen in großem Ausmaß aus den östlichen Schriften schöpfen, deren Bedeutung für die Studierenden, seit H. P. Blavatsky den Schleier der ‘Isis’ teilweise gelüftet und viele verborgene Bedeutungen erläutert hat, sehr gewachsen ist. Aber trotz allem, was sie unternahm, um das alte spirituelle Leben in Indien wiederzuerwecken, können wir zum modernen Indien doch nicht wie zu einem Lehrer aufsehen. Die indischen Meister selbst sagen deutlich, „dass alle überzeugt sind, dass der Verfall Indiens hauptsächlich auf die Erstickung des spirituellen Lebens in früheren Tagen“ zurückzuführen sei, und Mahatma KH sagt, dass „selbst seine eigenen Landsleute den erstickenden Magnetismus nur sehr kurz ertragen können (aus The Occult World, A. P. SINNETT). Ebenfalls lesen wir in den Mahatma Letters to A. P. Sinnett:
„Wenn es zulässig wäre, subjektive Dinge durch objektive Phänomene zu symbolisieren, würde ich sagen, dass Indien für das psychische Auge mit einem erstickenden grauen Nebel bedeckt zu sein scheint – einem moralischen Meteor – der odischen3 Emanation ihres verdorbenen gesellschaftlichen Zustandes. Hier und da funkelt ein Lichtpunkt auf, der auf eine Natur hinweist, die ein wenig spirituell ist, auf einen Menschen, der nach höherem Wissen strebt und darum ringt. Wenn das Leuchtfeuer des arischen Okkultismus je wieder entzündet werden soll, müssen diese verstreuten Funken zusammengebracht werden, um die Flamme zu bilden. Und das ist die Aufgabe der TG, … .“
– S. 384 (engl. Ausgabe)
Schon immer und auch heute noch gab und gibt es einen ‘esoterischen Kreis’ von Wissenden. Unerkannt und der äußeren Welt unbekannt arbeitet er auf vielerlei Arten am spirituellen Wachstum der Menschheit. Dieser Kreis wurde vor Urzeiten von Menschen mit dem Ziel gegründet, die Menschheit vor bruchstückhaften oder irreführenden Halbwahrheiten okkulten Charakters zu bewahren, die weit gefährlicher sind als völlig falsche Erkenntnisse, weil man sie nicht so leicht als Unwahrheiten erkennen kann. Die geschichtlich bekannten Mysterienschulen in Eleusis und an anderen Orten Griechenlands, in Philae in Ägypten und in noch manchen anderen Gegenden der Welt, waren die verhältnismäßig modernen Nachfolger der alten Schulen. Sie genossen hohes Ansehen, wurden von jedermann geehrt und man brachte ihnen Vertrauen entgegen. Die Handlungen und andere mehr oder weniger exoterische Zeremonien waren den Bedürfnissen der durchschnittlichen Menschen der Zeit angepasst, aber sogar darin wurde Tieferes symbolisiert. Weiter fortgeschrittene Kandidaten verbrachten lange Perioden in der Stille, wie wir den Berichten der Schule von Pythagoras zu Krotona entnehmen. Wenn ihre Körper gereinigt und sie ihr Denken unter Kontrolle hatten, waren sie bereit, in sich selbst hohe Bewusstseinszustände zu erwecken, die für den ungeübten Intellekt ganz und gar unzugänglich sind. Paulus, ein Eingeweihter, sagt, dass ein Mensch ‘bis in den dritten Himmel entrückt wurde’ (2 Kor 12,2). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf eines der Stadien oder einen der Schritte auf dem Weg nach dem, was im Osten Samādhi genannt wird. Der Prozess, das nach außen zu bringen, was im Inneren eingeschlossen liegt, ist die wahre Bedeutung von Erziehung, und dies ist die Vorgehensweise jeder echten Yoga- oder Mysterienschule.
Mit dem Aufkommen der Theosophischen Bewegung im 19. Jahrhundert begann H. P. Blavatsky mit Erfolg die Mysterienschulen im Westen zum Leben zu erwecken. Sie schreibt:
Aber wenn auch die Stimme der MYSTERIEN im Westen schon seit vielen Zeitaltern verstummt ist, wenn Eleusis, Memphis, Antium, Delphi und Krisa schon vor langer Zeit zu Grabstätten einer Wissenschaft wurden, die einst im Westen genau so gewaltig war, wie sie jetzt noch im Orient ist, so werden doch jetzt Nachfolger für sie vorbereitet.
– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 8:205
Als das „Ursprüngliche Feuer des Arischen Okkultismus“, wie Meister KH es bezeichnet, hell brannte, wurde Yoga in richtiger Weise verstanden. In ihrem Theosophical Glossary (S. 381-2) spricht H. P. Blavatsky von den sechs Darśanas oder philosophischen Schulen Indiens, eine von diesen ist Yoga; und weiter beschreibt sie Yoga als „die Praxis der Meditation als ein Mittel, das zu spiritueller Befreiung führt“. Sie fügt hinzu, dass dadurch psycho-spirituelle Kräfte erlangt werden können; „und die hervorgerufenen ekstatischen Zustände führen zur klaren und richtigen Wahrnehmung der ewigen Wahrheiten, sowohl im sichtbaren als auch im unsichtbaren Universum“. Bedenken Sie hierbei, dass dies weder psycho-physische noch psycho-intellektuelle Kräfte sind, sondern Fähigkeiten, die zu einer weitaus höheren Ordnung gehören.
Den Yoga Darśana oder die Schule teilt man in fünf Hauptklassen ein, die mit den fünf wichtigsten Typen der Psychologie des Menschen übereinstimmen. G. de Purucker umschreibt sie folgendermaßen:
„Welche sind nun diese fünf Yoga-Schulen Indiens? Wir fangen mit der einfachsten und niedrigsten an; Hatha-Yoga, der Yoga der physiologisch-psychischen Übung, hauptsächlich den Körper und den Verstand betreffend. Dann Karma-Yoga, von dem Wort ‘Karma’, Handlung. Drittens Bhakti-Yoga, der Yoga der Liebe und der Hingabe. Viertens Jñāna-Yoga, der Yoga der Weisheit oder des Wissens, des Studiums. Fünftens Rāja-Yoga, der Yoga des selbständigen Bemühens, um zur Vereinigung mit dem Inneren Gott zu gelangen, der Yoga der Disziplin; so wie man die Könige der Kshatriyas oder der Kriegerkaste als Führer ihres Staates betrachtete. Und der sechste, den wir Theosophen noch hinzufügen, ist der Brahma-Yoga, der Yoga des Geistes, der die fünf anderen sozusagen enthält.“
– The Theosophical Forum, März 1940
Ein umfassendes Studium und die Ausübung der fünf hinduistischen Yoga-Systeme erfordert alle Energie, Aufmerksamkeit und die gesamte Zeit des Ausübenden. Es ist klar, dass das in der modernen westlichen Umgebung nicht durchführbar ist, wenn dieses Studium auch wünschenswert erscheint. Dazu kommt noch, dass die Anwesenheit eines Lehrers, der wenigstens den Stand eines niedrigeren Adepten erreicht hat, ganz und gar unentbehrlich ist; er muss seinen Schüler ständig beobachten und beschützen, wenn dieser durch bestimmte Entwicklungsstadien hindurchgeht. Man sagt, dass die Hatha-Yoga-Methoden (die in den höheren Schulen sehr selten angewendet werden und wenn, dann nur unter besonderen Umständen) für auserwählte Schüler ohne Gefahr sind, wenn sie unter der Leitung eines entsprechenden Gurus oder Führers angewendet werden. Aber im Falle eines voreiligen, unvorbereiteten und ungeschützten Laien sind die Umstände ganz anders und es besteht das Risiko sehr tragischer Folgen.
Betrachten wir zum Beispiel die Āsanas oder Yoga-Körperhaltungen, die im Westen durch Fotos und Beschreibungen mehr oder weniger bekannt sind. Es sind rein körperliche Übungen, die manche Yogis anwenden. Sie bereiten damit ihren Körper auf die gewaltigen Spannungen vor, die bei der Erweckung der starken und gefährlichen innerlichen Kräfte entstehen, die der westlichen Wissenschaft noch unbekannt sind.
Es sind mehr als siebzig Āsanas bekannt, von denen die meisten eine lange Vorbereitung erfordern, bevor man sie praktizieren kann. Manche sind für den einen Yogi geeignet, andere für einen anderen, und nur der verständnisvolle und erfahrene Guru ist imstande, sie vernünftig zu dosieren. Der Schüler kann unmöglich ihre Unterschiede kennen, und es ist eine sehr ernste Sache, an einem falschen Āsana zu arbeiten, was, wie man sagt, den Tod zur Folge haben kann!
Vor einiger Zeit veröffentlichte ein Student des Okkultismus die Ergebnisse einer langen Untersuchung der höheren Weisheit im ‘geheimen Indien’. Er stieß auf viele sogenannte Yogis,
die zum größten Teil Fanatiker oder Egoisten waren, die, so sagt er, selbst bei der jüngeren Hindugeneration in den fortschrittlichen Klassen die Bezeichnung Yogi in ein schlechtes Licht gerückt hätten. Es waren auch einige wahre Medien und Magier darunter, offensichtlich einem niederen Orden angehörend. Aber er fand auch ein paar ernsthafte, rechtschaffene Männer, die in keinerlei Weise ihre Fähigkeiten zur Schau trugen und die für die psychischen, sogenannten Yoga-Übungen keine Werbung machten, die vielmehr Lehren von lebenswichtiger Bedeutung für den spirituellen Fortschritt übermittelten. Ein Lehrer aus Südindien, über den der Schriftsteller mit Recht mit großer Ehrfurcht und Bewunderung spricht, antwortete auf die Frage, was getan werden müsse, um den Pfad zu betreten: „Es gibt nur eines, was man tun muss. Schaue in dich selbst hinein. Tue dies in der richtigen Weise und du wirst die Antwort auf all deine Fragen finden. Du musst dich fragen: Wer bin ich? Kenne dein wahres Selbst, dann wird das Licht der Wahrheit in deinem Herzen wie das Licht der Sonne hervorbrechen.“
– PAUL BRUNTON: Verborgene Weisheit
Der Suchende muss nicht nach Indien reisen, um das zu lernen. Er kann es als einen wesentlichen Bestandteil in theosophischen Werken über das Thema der spirituellen Schulung finden, z. B. in Die Stimme der Stille von H. P. Blavatsky. Der Pfad der Schülerschaft wird darin deutlich in einer Weise beschrieben, die sich für alle Völker eignet, östliche wie westliche. Aber welcher Pfad ist der richtige? Kann es richtig sein, sich von der aktiven Teilnahme am weltlichen Leben zurückzuziehen, indem man sich auf seinen eigenen persönlichen Fortschritt konzentriert, ohne sich um das Wohl der anderen zu kümmern? Ohne nähere Erläuterung könnte der eben gegebene Rat leicht falsch verstanden werden. Den richtigen Weg, Selbsterkenntnis zu erlangen, findet man in der Bhagavad-Gītā, dem maßgebenden Werk der Hindus über Yoga-Philosophie und Selbstbemeisterung. Sie betont die Notwendigkeit, in der Welt seine ganze Pflicht zu erfüllen, d. h. die Pflicht anderen und sich selbst gegenüber – das Dharma. Dieser Yoga, Karma-Yoga, ist äußerst wichtig für uns westliche Menschen, die wir lernen müssen, wie wir unsere sprudelnde Energie mit mehr Weisheit lenken können. Es ist „das Ausüben rechter Handlungen“. G. de Purucker behandelte das Thema des unpersönlichen Dienens ausführlich in Die Goldenen Regeln der Esoterik. Aus diesem Buch zitieren wir:
Das Hauptgesetz des Universums ist Selbstvergessen, nicht Konzentration der Aufmerksamkeit auf persönliche Freiheit, nicht einmal auf die Individualität. Das Grundgesetz des Universums will, dass wir für alle Dinge leben und nicht, dass jeder für sich lebe, um für sich die inneren spirituellen Kräfte zu entfalten. Die Weisung, die inneren spirituellen Kräfte zu entwickeln, ist zwar als allgemeine Forderung richtig, doch ist sie als solche auch irreführend, gefährlich, unweise und deshalb ungeeignet als Regel esoterischer Schulung, wenn sie nicht qualifiziert, richtiggestellt und ergänzt wird durch folgende Zusatzlehre: Gib dein Leben auf, so du es finden willst. Lebe für das Wohl der Menschheit, denn das ist der erste Schritt. …
– S. 104
Der Mensch, der zuerst an andere denkt, ist bereits groß. Der Mensch, der um anderer willen sein Leben hingibt, ist schon groß. Der Mensch, der sich in unpersönlichem Dienst für die Menschheit selbst vergisst, ist jedoch am größten. Ein solcher Mensch erntet ein gottgleiches Schicksal, da er sich einen entsprechenden Charakter geschaffen hat.
– S. 115
In der Theosophie finden wir eine hohe Art des Yoga, der uns von den Täuschungen befreien kann, die wir fälschlicherweise mit dem wirklichen Leben verwechseln. Ein Beginn einer solch hohen Art von Yoga hängt davon ab, ob wir die Chancen, die das tägliche Leben im Getöse der Welt uns bietet, richtig nutzen. Es ist nicht nötig, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern sich aus der Sklaverei der egoistischen Anforderungen, welche die Welt stellt, zu befreien. Wollen wir nicht alle ohne zu zweifeln zwischen einer weisen und einer dummen Handlungsweise unterscheiden können und ein so großes und vorurteilsfreies Verständnis der menschlichen Natur haben, dass wir in unserem Wunsch, unseren Mitmenschen zu helfen, keine Fehler machen können? Diese höhere Form des Hellsehens wird sich entwickeln, je weiter die Rasse voranschreitet, aber wir können deren Kommen beschleunigen, indem wir den Yoga der Pflicht und der Selbstlosigkeit ausüben. Manche würden das eine Stärkung der Moral nennen, aber der höhere Yoga enthält mehr als das, was wir im Allgemeinen mit diesen Worten meinen.
Wenn wir ihn besser verstehen, bemerken ernsthafte Aspiranten, dass intuitive Eigenschaften in uns zu erwachen beginnen. Wenn keine Gefahr besteht, dass wir diese missbrauchen, können sich daraus glänzende Fähigkeiten entwickeln und das Bewusstsein wird sich in überraschender Weise erweitern.
Wir müssen unseren eigenen Kampf führen. Ein bekannter okkulter Spruch lautet: „Der Adept wird, er wird nicht gemacht“. Wir können Leiter finden, die uns vor den Fallgruben auf dem Pfad warnen, Lehrer, die unsere verborgenen Schwächen ans Licht bringen und die uns zeigen, wie wir sie besiegen können; aber wir müssen unsere eigenen Erlöser sein. Auf dem Yoga-Pfad gibt es kein ‘stellvertretendes Leiden’, aber es gibt Hilfe und, wie bereits vorher gesagt, „wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Zwar ist es ein großer Segen, dass es diese Möglichkeit gibt, trotzdem bringt der Läuterungsprozess notwendigerweise unerwartete und unangenehme Enthüllungen mit sich, denen man aufrichtig entgegentreten soll und die überwunden werden müssen. Aber der ernsthafte Schüler erwartet dies, und er bittet seinen Lehrer nicht, seinen Egoismus zu dulden. Andererseits bringt Selbstdisziplin eine wachsende Freude, die allmählich deutlich macht, dass der auf sich selbst gerichtete tierische Mensch, wie intellektuell auch immer, nicht der wahre, unsterbliche Mensch ist, „für den die Stunde nie schlagen wird“, und dass wir nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen haben, wenn das wahre Selbst unser Meister wird.
Die edelsten Yoga-Lehren des alten Indien wie Der königliche Juwel der Weisheit von Śaṅkarācārya oder die Bhagavad-Gītā zeigen die grundlegenden Bedingungen für eine erhabene spirituelle Entwicklung auf, ohne eine Spur von Psychismus oder niedrigere Formen der Magie, die manche Teile der Hinduliteratur verunstalten, die Tantren genannt, aus denen ein Großteil des westlichen Yoga und okkulter Bücher ihre zweifelhafte und oft gefährliche Kenntnis holen. Śaṅkarācārya und der Autor der Bhagavad-Gītā lehren die Methoden der Selbstbemeisterung, die den Pfad zu spiritueller Weisheit öffnet. Einige Auszüge aus der Wiedergabe der Bhagavad-Gītā von W. Q. Judge geben einen Eindruck von dieser Art der Lehren:
Wenn der so lebende Mensch sein Herz auf das wahre SELBST konzentriert und frei ist vom Hängen an jeglichem Verlangen, dann wird von ihm gesagt, dass er Yoga erreicht hat.
– VI, 18
In diesem Yoga-System wird weder eine Anstrengung vergeudet, noch gibt es irgendwelche üblen Folgen; selbst ein klein wenig von dieser Übung schützt einen Menschen vor großer Gefahr.
– II, 40
Es gibt keinen Reiniger auf dieser Welt, der mit spiritueller Erkenntnis vergleichbar ist, und wer in Hingabe an das Göttliche vollkommen ist, findet, wie im Laufe der Zeit spirituelle Erkenntnis spontan in ihm selbst entspringt.
– IV, 38
Solche erleuchteten Weisen, deren Sünden erschöpft sind, die frei von Täuschung sind, die ihre Sinne und Organe unter Kontrolle haben und sich dem Wohle aller Geschöpfe hingeben, gehen in den Höchsten Geist ein.
– V, 25
Suche diese Weisheit durch Dienen, durch eindringliches Forschen, durch Fragen und durch Demut; die Weisen, die die Wahrheit sehen, werden sie dir bekannt geben, und sie erkennend, wirst du niemals wieder in Irrtum verfallen, o Sohn Bharatas.
– IV, 34/35
Śaṅkarācārya schreibt:
Die Vision der Seele ist jenem zu eigen, der frei von Leidenschaft ist; die ständige Inspiration gehört jenem, der mit der Seele sieht. … Die erste Freiheit bringende Ursache wird so erklärt, dass man sich vollständig von der Begierde nach nicht dauerhaften Dingen abwenden muss. Dann folgen Frieden, Selbstbeherrschung, Ausdauer, eine vollkommene Entsagung von allen Handlungen, die Anhaften bewirken oder eine Verunreinigung darstellen. … Selbst gut beherrscht, erwirbt er die Frucht und die Belohnung, und seine Belohnung ist das Wirkliche. … Für das Selbst ist alles, was es sieht, nur Sinnestäuschung; es dauert nur einen Augenblick; wir sehen und wissen, es ist nicht „ich“; wie könnte das persönliche Selbst, das sich jeden Augenblick ändert, sagen: „Ich weiß alles ?“
– Oriental Department Papers, 1895-6.
Es ist in der Tat bedeutungsvoll, dass Krishna, die Innere Gottheit, Arjuna nicht in der Einsamkeit einer Einsiedlerhütte unterrichtet, sondern inmitten des Waffenlärms auf dem Schlachtfeld, was den Eindruck vermittelt, dass es sich dabei um die Handlungen und Erprobungen des täglichen Lebens in der Welt handelt.
Die Buddhas des Mitleids
Das große, klassische Werk der hinduistischen Yoga-Schulen ist die Bhagavad-Gītā, und sie wird von den Mahatmas und H. P. Blavatsky oft mit großer Achtung erwähnt und zitiert. Die Schrift ist unentbehrlich für all jene, die ernsthaft nach Selbsterkenntnis suchen, aber sie bringt das göttliche Mitleid, das Buddha in seinem Yoga der großen Entsagung unterrichtete, nicht deutlich zum Ausdruck, so dass wir uns damit nun etwas näher beschäftigen wollen. Auch H. P. Blavatsky scheint dies so empfunden zu haben, und so schenkte sie uns gegen Ende ihres Lebens einen wundervollen Auszug aus der östlichen heiligen Literatur, und zwar das Büchlein Die Stimme der Stille,4 übertragen aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“; es beginnt: „Gewidmet den Wenigen“ – nämlich jenen, die sich danach sehnen, das theosophische Ideal zu leben und der Menschheit ‘bis an das endlose Ende’ zu dienen. Aus diesem kleinen Buch können wir die Grundsätze ersehen, auf welchen die Schulung der Chelas durch die Meister beruht. Würden diese Grundsätze in einem weiteren Kreise akzeptiert werden, käme das nicht nur unserer Erkenntnisfähigkeit der ewigen Dinge zugute, sondern würde auch die Welt zu einem unendlich besseren Ort machen, um darin zu leben.
In Bezug auf das Mitleid finden wir in dem Büchlein Die Stimme der Stille:
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. Es ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, Alayas SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das Gesetz ewiger Liebe.
– S. 93
Alaya ist das, was Emerson die ‘Überseele’ nannte. Sie „spiegelt sich in jedem Gegenstand des Universums wider“ (The Secret Doctrine, I:48). Dieselbe Lehre des Mitleids ist ein wesentlicher Bestandteil des wahren Christentums. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe“ und „Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,8; 4,20).
Viele Aphorismen aus der Mahāyāna-Lehre, die von Evans-Wentz in Tibetan Yoga and Secret Doctrines angeführt werden, geben die Grundlehren der Stimme der Stille wieder, deren Leitprinzip Selbstaufopferung und Liebe für die Menschheit ist. Zum Beispiel:
Solange das Denkvermögen nicht geschult ist, uneigennützig und unendlich von Mitleid erfüllt zu sein, verfällt man leicht in den Irrtum, nur für sich selbst Befreiung zu suchen.
– S. 75
Das Geringste, das wir für andere tun, ist kostbarer als alles, was wir für unser eigenes Wohl tun.
– S. 90
Wenn man bei allem, was man tut, nur das Wohl der anderen beabsichtigt, ist es nicht nötig, nach eigenem Vorteil zu streben.
– S. 90
Wie unwichtig der wahre Yogi okkulte Phänomene findet, wird deutlich beschrieben:
Für denjenigen, der die erhabene Weisheit erworben hat, ist es gleich, ob er wunderliche Kräfte anwenden kann oder nicht.
– S. 92
Das letzte Zitat aus den Yoga-Abhandlungen bezieht sich auf eine Lehre, die das Herz und die Seele der Stimme der Stille bilden. Es ist die erhabenste Möglichkeit der spirituellen Bestrebung:
Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die die bodhische Erleuchtung erreicht haben und die imstande sind, als göttliche Inkarnationen zur Erde zurückzukehren und bis zu der Zeit der Auflösung des physischen Universums für die Befreiung der Menschheit und aller Lebewesen zu arbeiten, zeigt die Tugend des Heiligen Dharma. …
– S. 95
Dies ist ein Hinweis auf „die Große Entsagung“, ein Ideal, das alle anderen Ideale überragt und das der heutigen Welt angeboten wird; es spricht für die Tibeter, dass sie solche heiligen Männer (Bodhisattvas oder Nirmāṇakāyas) mehr verehren als einen fortgeschrittenen Yogi oder ‘Heiligen’, wie erhaben er auch sein möge. Damit verbunden ist das Thema der Pratyeka-Buddhas, über das es immer wieder Missverständnisse gibt, obschon H. P. Blavatsky dies in der Stimme der Stille und The Theosophical Glossary ausführlich erläutert hat.
Dr. Evans-Wentz behauptet mit Recht, dass die Befreiung des Menschen von der Unwissenheit das letztendliche Ziel des Buddhismus in seiner tiefsten Bedeutung ist, die Überwindung von Māyā, was wir nur unzureichend mit dem Wort Illusion übersetzen. Er weist darauf hin, dass Buddha lehrte, dass das erstrebenswerte Ziel, nämlich in Nirvāṇa einzugehen, aufgeschoben werden kann. Das gilt für jene erhabenen Seelen, die bereit sind, dem höchsten Weg der Selbstverleugnung zu folgen und die Große Entsagung zu vollziehen. Das bedeutet, dass der nach spiritueller Meisterschaft Strebende beschließt, niemals aus dem Saṁsāra oder dem Weltbewusstsein der Phänomene zu treten und in den unsagbar gesegneten Zustand von Nirvāṇa einzugehen, bevor nicht die müden Pilger in allen Welten das Beste ihrer Möglichkeiten in diesem Manvantara erreicht haben. Dies ist zweifellos die höchste mögliche Form Universaler Bruderschaft! Die heiligen Männer, die zurückkehrten, um der Erde unter Verzicht auf ihren eigenen Fortschritt zu helfen, werden die Buddhas des Mitleids genannt, womit man sie von den Pratyeka-Buddhas unterscheidet, deren Ideal nicht so erhaben ist.
Gemäß den führenden tibetischen Anhängern des Mahāyāna und durch den Lama Samdup bestätigt, werden die Pratyeka-Buddhas allgemein so betrachtet, wie es hier von Dr. Evans-Wentz formuliert wird:
Selbsterleuchtete (Sanskrit: Pratyeka) Buddhas unterrichten die Lehre nicht in der Öffentlichkeit, sondern tun nur denjenigen Gutes, die in persönlichen Kontakt mit ihnen treten, während allwissende Buddhas, zu denen Gautama der Buddha gehörte, die Lehre im großen Kreis predigen. …
Die Gurus der Schule des Großen Symbols lehren, dass Nirvāṇa nicht für ein Endstadium gehalten werden soll, in welchem derjenige, der diesen Zustand erreicht hat, sich in vollkommenem Frieden und Glückseligkeit selbstsüchtig aufhält. Das heißt, dass Nirvāṇa nicht ein Zustand ist, der nur zum eigenen Wohlergehen erreicht werden muss, sondern um des größeren Wohles willen, das jedem bewussten Wesen zuteil wird, ausschließlich aus diesem Grund. Deshalb ist es so, dass in Tibet alle, die nach göttlicher Weisheit streben, nach vollkommener Erleuchtung, bekannt als Nirvāṇa, das Gelübde ablegen, den Zustand des Bodhisattva oder Großen Lehrers anzustreben. Dieses Gelübde enthält, dass der Gelobende erst dann in Nirvāṇa eintreten wird, wenn sämtliche Lebewesen, angefangen von den niedrigsten Bewohnern der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, … sicher über den Ozean von Saṁsāra zum anderen Ufer geführt worden sind.
Die südlichen Buddhisten neigen dazu, Nirvāṇa, wenn es von Pratyeka (oder nicht lehrenden) Buddhas erreicht wurde, als einen Endzustand zu betrachten. Diejenigen, die zur Mahāyāna-Schule gehören sagen jedoch, dass Nirvāṇa ein Zustand des Geistes ist, der infolge einer evolutionären spirituellen Entwicklung erreicht wird, und deshalb nicht als ein Endzustand betrachtet werden kann, da Evolution kein vorstellbares Ende hat, sondern ewig fortdauert.
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 94, 144
Hieraus können wir ersehen, dass die Pratyeka-Buddhas in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, und trotzdem spricht H. P. Blavatsky von ihrer ‘spirituellen Selbstsucht’! Zu Beginn stiftete diese Aussage einige Verwirrung, aber sie wiederholte sie in ihrem später veröffentlichten Theosophical Glossary und G. de Purucker erläuterte diese scheinbare Schwierigkeit in seinen Goldenen Regeln der Esoterik. Da das Thema für den Studierenden des „Pfades der Rechten Hand“ von großer Bedeutung ist, zitieren wir einige Passagen aus diesem Buch:
(Die Pratyeka-Buddhas) sind sehr erhabene Menschen, sehr heilige Menschen, in jeder Hinsicht sehr reine Menschen, deren Erkenntnis weit, umfassend und tief, deren geistiger Zustand erhaben ist, die aber nach Erreichung der Buddhaschaft, anstatt den Ruf allmächtiger Liebe zu fühlen, anstatt umzukehren und jenen zu helfen, die weniger weit voran sind, weiterschreiten und hinübergehen in das höchste Licht und in die unaussprechliche Glückseligkeit Nirvāṇas eintreten und die Menschheit zurücklassen. Das sind die Pratyeka-Buddhas. Obwohl erhaben, stehen sie doch nicht auf gleicher Stufe wie die Buddhas des Mitleids in ihrer unsagbaren Erhabenheit.
Der Pratyeka-Buddha, der die Buddhaschaft für sich selbst verwirklicht, tut dies nicht selbstsüchtig, er macht es nicht um seiner selbst willen, und er fügt anderen damit keinen Schaden zu. Wenn das so wäre, könnte er ja nie seine Einzel-Buddhaschaft erlangen. Er erreicht sie aber, und er erreicht Nirvāṇa sozusagen automatisch, … .
Es besteht ein eigenartiger Widerspruch im Begriff Pratyeka-Buddha. Der Name ‘Pratyeka’ bedeutet ‘jeder für sich selbst’; und dieser ‘jeder-für-sich-selbst’-Geist ist gerade das Gegenteil von dem Geist, der in dem Orden der Buddhas des Mitleids herrscht, denn in dem Orden des Mitleids herrscht der Geist: Gib auf dein Leben für alles, was da lebt. …
Die Zeit kommt, wo der Pratyeka-Buddha, so heilig er ist, so erhaben er in Ideal und Streben auch ist, einen Entwicklungszustand erreicht, von dem aus er auf jenem Pfad nicht weiter vorwärts gehen kann. Hingegen hat der andere, der sich gleich von Anfang an mit der ganzen Natur und mit ihrem Herzen verbindet, ein ständig wachsendes Arbeitsgebiet, so wie sich sein Bewusstsein weitet und dieses Gebiet erfüllt. Und dieses wachsende Gebiet ist einfach unbegrenzt, weil es die grenzenlose Natur selbst ist. Er wird völlig eins mit dem spirituellen Universum, während der Pratyeka-Buddha nur eins wird mit einem besonderen Strang oder Strom der Entwicklung im Universum. …
So kommt auch die Zeit, wo der Buddha des Mitleids, obgleich er allem entsagt hat, weit über den Zustand hinausgelangt ist, den der Pratyeka-Buddha erreicht hat. Und wenn der Pratyeka-Buddha nach einer bestimmten Zeit aus dem nirvanischen Zustand heraustritt, um seine evolutionäre Reise erneut anzutreten, dann wird er sich weit hinter dem Buddha des Mitleids finden.
– Goldene Regeln der Esoterik, S. 172-177
Der Pratyeka-Pfad ist kein Pfad, der nach unten führt, es sei denn, man vergleicht ihn mit dem Pfad der Buddhas des Mitleids, mit dem ‘Geheimen PFAD’, wie ihn H. P. Blavatsky in der Stimme der Stille bezeichnet. Zu Beginn gibt es nur einen Pfad, aber schließlich muss die große Entscheidung getroffen werden; und der Pratyeka-Buddha wählt die Richtung, die von der Welt der Menschen wegführt, während der andere den Weg wählt, auf dem „er in dem glorreichen Körper, den er für sich selbst webte, verbleibt, unsichtbar für die nicht eingeweihte Menschheit, um über sie zu wachen und sie zu schützen“, wie ein Stein in dem mystischen ‘Schutzwall’.
Gautama der Buddha ermutigte auch die einfachen Menschen, indem er ihnen zeigte, wie er die furchterregenden und scheinbar endlosen Zyklen von Tod und Wiedergeburt durchbrechen konnte, um das ewige Drehen des karmischen Rades zu überwinden, während er gleichzeitig die Fesseln schmiedete, die ihn am Ende zurückhielten. Indem er das Gute Gesetz treu befolgte, konnte er einst die unsagbare Glückseligkeit der Befreiung erreichen. Aber für diejenigen, die durch ihre übergroße Liebe für die Menschheit dieses Recht erworben haben, erklärte der Buddha den erhabenen Pfad der Selbstaufopferung, den Pfad der Großen Entsagung.
Gautama der Buddha gehörte zu der Hierarchie des Mitleids, aus der von Zeit zu Zeit große Lehrer und Boten ausgesandt werden, um die Menschheit bei ihrer Evolution zu unterstützen. Die Spitze dieser Hierarchie ist der Stille Wächter, „der Namenlose Eine“, wie H. P. Blavatsky ihn nennt. Und sie sagt:
Er ist der „Initiator“, genannt das „GROSSE OPFER“. Denn an der Schwelle des LICHTES sitzend, blickt er in das LICHT aus dem Kreise der Dunkelheit, den er nicht überschreiten will; noch wird er seinen Posten verlassen vor dem letzten Tage dieses Lebenszyklus. Warum bleibt der einsame Wächter auf seinem selbsterwählten Posten? Warum sitzt er an der Quelle der ursprünglichen Weisheit, von der er nicht länger mehr trinkt, weil er nichts zu lernen hat, das er nicht wüsste – führwahr, weder auf dieser Erde noch in ihrem Himmel? Weil die einsamen Pilger mit wunden Füßen, auf ihrer Rückreise in ihre Heimat, bis zum letzten Augenblick niemals sicher sind, ihren Weg in dieser grenzenlosen Wüste von Illusion und Materie, Erdenleben genannt, nicht zu verlieren. Weil er gern einem jeden Gefangenen, dem es gelungen ist, sich von den Banden des Fleisches und der Illusion zu befreien, den Weg zeigen möchte zu jener Region der Freiheit und des Lichtes, aus der er sich selbst freiwillig verbannt hat.
– The Secret Doctrine, I:208
Wir mögen uns fragen, warum die Kenntnis der Lehren von den Pratyeka-Buddhas und den Buddhas des Mitleids für unsere eigene Existenz von Bedeutung ist. Das Erreichen dieses hohen Evolutionsstadiums liegt in so ferner Zukunft, dass uns die Bedeutung für unser heutiges, praktisches Leben nicht klar ist.
Es ist aber keine Angelegenheit der fernen Zukunft, die uns nur in dem Maße interessieren sollte, wie eine schöne, idealistische Theorie. Wir müssen in unserem Leben stets erneut wählen, und wenn wir die ‘Große Entsagung’ auch noch nicht erreicht haben, so spielt sie im Prinzip dennoch bei jeder von uns getroffenen Entscheidung eine Rolle. Oft ist unser Motiv Eigeninteresse, aber andererseits gibt es in jedem Menschenleben zahllose Beispiele manchmal ganz unscheinbarer Taten, die von dem Verlangen getragen werden, anderen zu helfen oder zu dienen.
Der Entschluss, dem einen oder dem anderen Pfad zu folgen, wird jeden Tag von uns gefasst, und wir werden ständig zwischen dem einen und dem anderen Pfad hin und her pendeln, bis wir stark genug sind, um den entscheidenden Schritt zu tun.
Yoga-Therapie5
Heutzutage besteht ein wachsendes Interesse für Yoga als Methode zur Gesundheitsförderung. Verschiedene Organisationen, darunter auch Sportvereine, empfehlen bestimmte Yoga-Übungen, um den Körper zu stärken oder fit zu halten. Es gibt auch Ärzte, die zur Heilung von Krankheiten Yoga-Therapien anwenden, manchmal auch zur Vorbeugung, indem sie die Körperfunktionen ins Gleichgewicht bringen, wodurch die großen Spannungen dieser Zeit besser verkraftet werden können.
Es wäre alles wunderbar, wenn diese Therapien sich auf normale Körperübungen beschränken würden und die Atemübungen sich lediglich damit beschäftigten, was jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand tut, nämlich seine Lungen mit reinem Sauerstoff zu füllen. Auch wenn die Übungen anfangs ganz harmlos zu sein scheinen, wage ich dennoch zu behaupten, dass viele Menschen schon recht bald darin unterrichtet werden, wie sie ihren Atem „beherrschen“ können, und zwar durch das, was die Yogis Prāṇāyāma oder die Regulierung der Prāṇas oder des „Lebensatems“ nennen, der dem Körper Leben schenkt und ihn gesund erhält, wenn er in normaler Weise funktionieren kann. Und dies kann gefährlich werden, weil die ersten Stadien dieser Übungen oft eine größere körperliche Energie zur Folge haben. Abgesehen von den spirituellen und moralischen Risiken, die man trägt, wenn man seine Energien aus der richtigen Bahn bringt, ist auch eine körperliche Gefahr damit verbunden. Wenn das natürliche Fließen der Lebensströme durch eine unvernünftige und gewöhnlich falsch geführte Beherrschung des Atemprozesses gestört wird, könnte die Auswirkung auf unsere Gesundheit äußerst schädlich sein. Und was noch viel schlimmer ist: Wenn die Prāṇas, die lediglich die äußerlichen Manifestationen der Lebenskräfte darstellen, welche sich in und durch die feinen Zentren unserer Konstitution bewegen, im physischen Bereich aus dem Gleichgewicht geraten, neigen sie dazu, das Gleichgewicht unserer inneren Natur zu stören. Das ist der Grund dafür, dass wir derartig häufig psychischer und mentaler Labilität begegnen, besonders im Westen, wo wir unsagbar naiv sind, was diese Dinge anbelangt. Dies ist eine direkte Folge der falschen Anwendung von Yoga oder sogenannten „okkulten“ Heilmethoden.
Das klingt vielleicht unfreundlich, aber ich habe die bedauernswerten Menschen gesehen, deren Zustand durch unbesonnenen und unwissenden Gebrauch von Yoga-Techniken verursacht wurde, durch die Beherrschung des Atems und andere Formen der Spielerei mit den vitalen Körperzentren. Der gesamte Bereich der Heilmethoden, die sich von den jahrhundertelang als erfolgreich etablierten Vorgehensweisen unter-scheiden, muss einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden, bevor sie zur Anwendung kommen.
Zunächst einmal stellt sich die Frage, was wir eigentlich vom Körper wissen? Was wissen die Ärzte? Sehr viel, gewiss, was seine Physiologie anbelangt, seine Funktionen, und die Behandlung von Krankheitsfolgen. Aber die besten unter ihnen geben sofort zu, dass sie nicht wissen, weshalb uns eine Krankheit trifft; warum der eine Krebs bekommt, der andere einen Herzfehler und wieder ein anderer die Zuckerkrankheit und all die anderen fremden, sogar rätselhaften Leiden, welche die menschliche Rasse heimsuchen. Und was soll man von den Tausenden von Männern und Frauen halten, die heutzutage unter mentalen und nervösen Erkrankungen leiden? Sind die Ursachen psychischer Natur oder liegen sie tiefer, vielleicht in unserer inneren Konstitution?
Paulus sagte über den Menschen, dass er einen „natürlichen oder physischen Körper“ habe und einen „spirituellen Körper“, Worte, die wir einfach mit „Leib und Seele“ übersetzt haben. Es sollte schlicht bedeuten, dass die Wurzeln des Menschen spirituell sind und sein Körper der Spielplatz der Seele ist. Aber in alten Zeiten – wie man der Literatur Griechenlands und Persiens, Ägyptens und Indiens entnehmen kann – glaubte man, dass der Mensch fünf, sieben oder sogar zehn Essenzen oder Energien besitzt, die alle aus dem göttlichen Zentrum oder dem Gott im Inneren emanieren. Man gab ihnen verschiedene Namen, mit denen man versuchte zu zeigen, dass der wahre Mensch unsichtbar ist und dass das, was wir sehen – das Physische – nur ein kleiner Aspekt von der flammenden Intelligenz ist, die den Menschen bildet.
Wir sind wie ein Eisberg, von dem nur ein Siebtel oder Zehntel sichtbar ist und dessen größter Teil unter der Oberfläche verborgen ist. Welch ausgezeichnete Analogie! Der maßgebliche Teil des Menschen unsichtbar, und deshalb ist es verwegen und gefährlich, uns in ein Gebiet hineinzuwagen, das für uns noch nicht kartiert ist.
Ab und zu hört man Berichte über Kranke, die auf eine normale medizinische Behandlung nicht reagieren, die aber durch die Anwendung von Yoga geheilt wurden. Dies löst natürlich das Interesse vieler Menschen aus, denn fast jeder hat die eine oder andere körperliche Schwäche.
Es ist vollkommen richtig, dass in der Anfangsperiode einer Behandlung mit Yoga das körperliche Leiden zurückgeht und die Vitalität wächst. Aber gerade darin lauert die Gefahr, die in der Potenz eine weitaus vernichtendere Auswirkung hat als die Folgen einer Atomexplosion. Als Rasse wurden wir nicht unterwiesen, den Unterschied zwischen dem Spirituellen und dem Psychischen oder zwischen dem Astralen und dem Physischen zu erkennen. Wenn wir durch Unwissenheit andere als die physischen Heilmethoden anwenden, ist die Chance groß, dass wir eine Tür öffnen und Kräfte der unsichtbaren Seite der Natur freisetzen; und wir sind ganz sicher völlig unvorbereitet, um mit diesen Kräften umzugehen.
In den letzten Jahrzehnten sind wir uns in zunehmendem Maße der vielen ungreifbaren Energien bewusster geworden, die durch die Materie wirken, und zwar so, dass unsere Gelehrten zögernd über ‘Anti-Gravitation’, ‘Anti-Protonen’ und von einer möglichen ‘Art der Materie der linken Hand’ sprechen, die das Gegenteil oder die Matrix sein könnten, auf welcher die materielle Welt aufgebaut ist. Wer durch eine forcierte und vorzeitige Entwicklung von psychischen und astralen Kräften versucht, den schützenden physischen Schleier zu zerreißen, vergisst, dass die Natur sowohl eine helle als auch eine dunkle Seite hat. Anstatt seine Aufmerksamkeit der Förderung des moralischen und spirituellen Wachstums zu widmen, wird er von der Faszination der niedrigeren Astralebene in Bann gezogen. Wer diesen natürlichen Schleier durch die Anwendung von Yoga vorzeitig transparenter zu machen versucht, ohne den Schutz einer intelligenten und moralischen Kontrolle, ruft das Unheil herbei, denn genau wie der Zauberlehrling werden wir nicht imstande sein, die Tür wieder zu schließen, die wir so unbesonnen öffneten.
Unlängst hörte ich von einem Patienten, der schon länger ein Leiden hatte, das es ihm unmöglich machte, seine Arbeit zu verrichten. Er hatte bereits viele Ärzte und Spezialisten konsultiert, die ihm allesamt nicht helfen konnten. Schließlich begegnete er jemandem, der Yoga-Therapie praktizierte und ihn behandelte. Sein Zustand besserte sich ziemlich schnell und allmählich konnte er wieder den ganzen Tag arbeiten. Dieser Mann, der Frau und Kinder hatte, für die er sich an erster Stelle verantwortlich fühlte, machte die Yoga-Übungen, weil er einfach keine andere Lösung sah und nahm die eventuellen Risiken mit in Kauf.
Man könnte sich fragen, ob er so falsch gehandelt hat. Die Natur ist streng in ihrer Gerechtigkeit, aber auch barmherzig; und wenn die Motive dieses Mannes wirklich selbstlos sind, wird das Übel, das er möglicherweise durch die Übungen hervorruft, durch den Einfluss der selbstlosen Seite seiner Natur gemildert. Man kann nur hoffen, dass die Übungen, die ihm vorgeschrieben werden, einfach bleiben und dass in seinem fundamentalen pranischen Gleichgewicht keine ernsthaften Beeinträchtigungen auftreten. Ich habe großes Mitgefühl für alle, die sich scheinbar zu bestimmten Schritten gezwungen sehen, weil sie die Dinge lediglich kurzfristig betrachten, die sie aber aus einer größeren Perspektive als unvernünftig einschätzen würden. Außerdem gibt es im Leben eines jeden Menschens Momente, in denen er handeln muss, auch dann, wenn er sich über die wahre Natur seines Problems nicht im Klaren ist oder wenn es bedeutet, dass er etwas opfern muss, auf das er großen Wert legt. Letztlich bestimmt das Motiv alles und wird die Waagschale entweder zu seinem Vor- oder Nachteil neigen.
Nein, ich verurteile die Anwendung von Yoga im Westen nicht nur, weil er importiert wurde und fremd für uns ist, auch nicht, weil er mit so wenig Sachverstand in unseren westlichen psychologischen Boden verpflanzt wurde. Aber gerade weil unsere Entwicklung sich in einer ganz anderen Richtung vollzieht als im Osten, können wir gar nicht sicher sein, dass die hinduistischen Methoden der Seelenkultur für uns geeignet sind. Es kommt noch dazu, dass die Yogis und Swamis, die hierher kommen, um zu unterrichten, wie aufrichtig sie auch sein mögen, in den meisten Fällen nicht viel mehr mitbringen als das Beiwerk einiger entarteter Kenntnisse – die Reste einer einst wahrhaft spirituellen Wissenschaft. Die Yogis des alten Indien besaßen große Kenntnisse bezüglich der feineren Energien, die im Menschen ihre Brennpunkte haben und die durch ihn wirken. Sie lehrten, dass das Ausüben von Yoga mit dem ausschließlichen Ziel, einen starken Körper zu bekommen, gleichbedeutend damit ist, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Für sie war Yoga an erster Stelle ein Prinzip der Reinigung und der Übung. Das einzige Ziel dieses Prinzips war es, die „Vereinigung“ zu erreichen (das ist die Bedeutung des Wortes Yoga) oder das Eins-Sein mit dem Göttlichen Selbst oder Ātman in uns. Wenn als Nebenprodukt der Körper gesund wurde, war das wunderbar, aber es war nie das Ziel.
Ich richte meine Worte gegen die falsche Anwendung dieser Praktiken durch östliche Yogis in unserer Zeit und auch durch westliche Anwender, die keine vollständige Kenntnis über die innere Konstitution des Menschen haben. Das Problem wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Lehren der Yogis im Kern nicht falsch sind, sondern dass sie auf Halbwahrheiten basieren, die nur teilweise verstanden und im Allgemeinen daher falsch angewendet werden. Der reine Yoga, so wie er in der Bhagavad-Gītā gelehrt wird, ist eine spirituelle Übung, die das Äußerste an Selbstaufopferung und Selbstbeherrschung verlangt und überhaupt nichts mit körperlichen oder psychischen Übungen zu tun hat.
Nun, wohin führt all das?
Es hat vielleicht den Anschein, als ob ich mich um die Schwierigkeit herumwinde, und das ist in gewissem Sinne auch der Fall, aber nicht ohne Grund. Was ich versuche, ist, das Bewusstsein zu erheben, damit wir den Menschen aus einer höheren Perspektive betrachten und nicht von einem Maulwurfshügel im Tal aus. Wie Sie bemerken, ist dies kein einfaches Thema, da wir es nicht nur mit dem physischen Körper zu tun haben – einem komplizierten, wunderbaren Instrument –, sondern mit einer ganzen Reihe unsichtbarer Energien, die durch den Menschen fließen. Energien und Kräfte, die sich nicht auf unser eigenes Wesen beschränken, sondern die in und durch die uns umgebende Natur fließen, andere menschliche Wesen einbegriffen.
Krankheiten spielen im Leben des Menschen eine wichtige Rolle, denn fast jeder hat oder bekommt damit in seinem Leben zu tun. Lange Zeit ging man davon aus, dass Krankheiten lediglich physisch verursacht werden, aber allmählich entdeckte man, dass auch psychische und andere Faktoren Krankheiten hervorrufen können.
Vom theosophischen Standpunkt aus gesehen haben alle Krankheiten, unabhängig davon, in welcher Form sie sich zum Ausdruck bringen, ihren Ursprung und ihr Ende im Denken. Ich spreche jetzt von Ursachen, denn die Folgen wirken sich natürlich im physischen Körper aus. Wir brauchen nicht die Einzelheiten zu kennen, wann und wie die Krankheit beginnt und auch nicht, welcher bestimmte Gedanke oder welche Tat sie entstehen ließ; aber wenn wir innerlich geduldig sind und ausreichend Ruhe haben, können wir meistens herausfinden, welche Eigenschaft der inneren Disharmonie der verursachende Samen gewesen sein könnte, der die äußere Störung schließlich verursacht hat. Wenn in unserer Lebensgeschichte die Folgen von Verfehlungen in der Vergangenheit schließlich die physische Ebene erreichen, entsteht automatisch eine Störung im Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verursacht das Un-wohlsein. Es kann sich um eine lediglich zeitlich begrenzte Störung handeln, deren Ursache leicht auf einen emotionalen oder mentalen Zustand zurückzuführen ist. Aber wenn wir von einem ernsthaften Leiden oder von einer nicht heilbaren Krankheit getroffen werden, die scheinbar vom Himmel fällt, ist es wahrscheinlich, dass die Ursachen in einer fernen Vergangenheit liegen.
Alle heiligen Schriften lehren, dass das, was wir mit Gedanken oder Taten säen, einmal von uns geerntet werden muss; dass jeder Aktion eine damit übereinstimmende Reaktion folgt und dass es für jede Folge einmal eine Ursache gegeben hat. Daraus folgt, dass alles, was wir in diesem Leben erfahren, das Resultat der Qualität der Samen ist, die wir einst in das Feld unseres Denkens säten. Diese Samen werden zu ihrer Zeit in der Form von Freude oder Leid erblühen. Wenn wir nun Schmerzen empfinden oder uns unwohl fühlen, können wir erstens sicher sein, dass dies der wirksamste Weg der Natur ist, uns dabei zu unterstützen, dass wir unsere innere Gesundheit wieder ins Gleichgewicht bringen, und zweitens uns zu befähigen, auf der Leiter des Wachstums einen kleinen Schritt höher zu steigen.
Was geschieht nun aber, wenn wir in der Gesundbeterei Zuflucht suchen oder versuchen, das Leiden durch mentale Heilung oder Yoga-Therapie zu beheben, die, unter welchem Deckmantel auch immer, den Geist und den Willen des Patienten in falscher Weise beeinflussen? Vielleicht gelingt es, den Schmerz zu vertreiben. Aber ist damit das störende Element, das den Schmerz verursachte, recht behandelt worden und bekam es eine Gelegenheit, unseren Organismus zu verlassen? Oder wurde die Krankheit weiter nach innen zurückgedrängt, in eine subtilere Ebene unserer Konstitution, um später noch machtvoller wiederzukehren? Das sind Fragen, die wir uns äußerst ernsthaft stellen sollten.
Wenn ich krank wäre und die üblichen Mittel wie Ruhe und viel zu trinken keine Linderung brächten, würde ich einen zuverlässigen Arzt aufsuchen, zu dem ich Vertrauen hätte; und ich würde versuchen, mit seiner Hilfe meinen Organismus von Unreinheiten zu befreien. Unsere Ärzte behaupten nicht, dass sie alles wissen, und sie selbst sind die ersten, die das eingestehen; die Ärzteschaft besteht zum größten Teil aus aufrichtigen und ergebenen Männern und Frauen, die einen heiligen Eid ablegten, um mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen, Kranke zu heilen und das Leben zu bewahren. Selbstverständlich ist eine zu unachtsame und häufige Anwendung von Medikamenten gefährlich und sollte vermieden werden, vor allen Dingen in den Fällen, wo gesunde Methoden der Hygiene und Ruhe der Natur Gelegenheit geben können, den Heilungsprozess zu leiten und die gestörten Prāṇas zu ordnen.
Vergessen wir aber nicht, dass Karma uns in diesem besonderen Zyklus inkarnieren ließ, einem Zyklus in dem jeder Aspekt des menschlichen Könnens eine Umwälzung erlebt, auch die Heilmethoden. Alte Maßstäbe werden durch neue ersetzt, und obgleich die neuen nicht immer besser sind als die alten, hat die medizinische Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht und hat durch ihre erstaunlichen Entdeckungen hunderttausenden von Männern und Frauen unsagbar viel Gutes gebracht. Das heißt nicht, dass wir, sobald wir krank werden, jedes neue Medikament ausprobieren müssen; sowohl auf diesem wie auch auf anderen Gebieten muss man sein Unterscheidungsvermögen gebrauchen.
Wenn wir gründlich darüber nachdenken, liegt die eigentliche Schwierigkeit vielleicht bei uns selbst. Die meisten von uns müssen unter Druck arbeiten, wir haben das Gefühl, dass wir es uns nicht leisten können, krank zu werden. Wenn dann doch etwas schief geht, muss eine Injektion mit der einen oder anderen kräftigen Medizin uns wieder rasch auf die Beine bringen. Wir haben kein sonderliches Interesse daran, uns selbst einmal gründlich zu beobachten, um herauszufinden zu versuchen, was die Ursache unserer Schwierigkeiten gewesen sein mag. Was wir brauchen sind nicht mehr Arzneimittel, sondern eine Tinktur von echtem, altmodischem, gesundem Menschenverstand, kombiniert mit der Wiederherstellung der spirituellen Werte. Wir müssen allmählich verstehen lernen, warum der Mensch hier auf Erden ist, was sein wahres Ziel ist und woher es kommt, dass das, was er denkt und fühlt, sein körperliches Wohlbefinden unmittelbar beeinflusst.
Es wäre natürlich ideal, sowohl für die Patienten wie für die Ärzte, wenn wir Meta-Ärzte würden, das heißt Ärzte für den ganzen Menschen und nicht nur für den Körper. Alles was der Arzt machen kann, ist die Diagnose der in Erscheinung getretenen Störung zu stellen, ein Gegengift zu verordnen und zu hoffen, dass der Körper stark genug ist, das Gift aus dem Körper zu schaffen.
Dies mag so sein und die heutige medizinische Wissenschaft (und auch wir) haben noch einen langen Weg vor uns. Ich würde dennoch lieber eine zeitlich begrenzte körperliche Störung infolge einer Überdosierung von Arzneimitteln erleiden, als mich dem so viel schädlicheren und langwierigen psychologischen Einfluss eines anderen zu unterwerfen – ob es sich dabei um einen Yoga-Therapeuten, einen Gesundbeter oder einen Geistheiler handelt, wenn sie auch alle mit den besten Absichten handeln. Wenn ein Arzt einen Fehler macht, kommt nur der physische Körper zu Schaden. Das ist der einzige Teil unserer ganzen Konstitution, der darunter leiden würde. Das wirkliche Selbst, das Element, das Geburt und Tod überlebt, bleibt unberührt und könnte sogar durch die Härte der Erfahrung gestärkt werden.
Ich muss gestehen, dass diese Argumente für diejenigen nicht sehr hilfreich sind, die von der Reinkarnation nicht überzeugt sind. Es ist nicht unser Ziel zu versuchen, die Reinkarnation zu beweisen. Wie jemand darüber denkt, ist seine eigene Sache. Aber es ist schwierig, über das Thema der Krankheiten zu sprechen, ohne es vom Standpunkt des reinkarnierenden Egos zu betrachten.
Nehmen wir zum Beispiel einmal an, dass ich an einer ernsthaften Krankheit leide und dass mein Arzt mir überhaupt nicht helfen kann. Ich fasse den Entschluss, einen Heiler aufzusuchen, um dort Erleichterung zu finden. Er erkennt, was mir fehlt und sagt, er könne mir helfen, wenn ich dies oder jenes tun würde. Es fängt alles ganz harmlos an, aber es kann ganz anders enden, möglicherweise werde ich die Folgen erst in der nächsten Inkarnation begreifen. Wenn ich es zulasse, dass irgendein Aspekt der psychischen Natur des Heilers oder des Yoga-Therapeuten sich mit meiner eigenen psychischen Natur verbindet, ist die Möglichkeit umso größer, dass ein negativer Einfluss zur Auswirkung kommt; wie unbewusst diese Beeinflussung auch sein mag, es befindet sich darin ein Element, das die Alten Zauberei oder schwarze Magie nannten. Das sind scharfe Worte, aber es ist höchste Zeit, dass wir uns die Warnungen zu Herzen nehmen, die durch Jahrhunderte überliefert wurden und die so überzeugend von dem Apostel Jakobus formuliert wurden, wenn er sagt, dass es eine „Weisheit gibt, die von oben ist“, die „rein … voller Gnaden und guten Früchten“ ist und eine andere „Weisheit, die nicht von oben kommt, sondern irdisch, sinnlich und teuflisch“ ist.
Was heißt das? Wir haben gesagt, dass alle Krankheiten im Denken ihren Ursprung haben; aber wo enden sie? Wir dürfen nicht vergessen, dass der Verstand in seiner Funktion eigentlich dual ist; das heißt nicht, dass er geteilt ist, sondern dass seine höheren Bereiche mit dem spirituellen und intuitiven Teil des Menschen verschmelzen, mit Buddhi oder dem ‘erleuchteten’ Aspekt, während seine niedrigeren Aspekte sich mit unserer Begierde und unserer leidenschaftlichen Natur verbinden. Daher können wir sagen, dass das Denkvermögen zwei unterschiedliche Charaktere in sich trägt: Der eine ist mit der „Weisheit, die von oben ist“, verwandt und der andere wird von dem, was „irdisch und sinnlich“ ist, angezogen. Das höhere Denkvermögen gehört zum unsterblichen Teil unserer Konstitution oder zum höheren, reinkarnierenden Element, das in zahllosen Leben seine Erfahrungen gemacht hat, und zwar während Millionen von Jahren, von dem Augenblick an, da die Menschheit sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst wurde und beschloss, sich den Weg zum Spirituellen zurück zu erkämpfen.
Wo haben nun Krankheiten ihren Ursprung? In uns selbst, in jenem Bereich des Denkvermögens, der andauernd „zum Irdischen“ hinabgezogen wird anstatt „empor“. Beim Fortschreiten der Zyklen und dem Immer-wieder-auf-Erden-geboren-Werden, sinken die Folgen unseres falschen Denkens allmählich bis in den äußersten Teil unserer Konstitution hinab, um am Ende mittels körperlicher Krankheiten einen Ausweg aus unserem Organismus zu suchen. Aus Disharmonie geboren, werden die Folgen der Fehltritte, wenn sie den Körper erreichen, automatisch Schmerz verursachen. Und weshalb? Um uns auf die einzige Art, zu der die Natur imstande ist – nämlich durch Leiden – mitzuteilen, dass irgendetwas irgendwo geändert werden muss.
Die Gefahr einer nicht natürlichen Genesung liegt an erster Stelle auf der inneren Ebene, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die unmittelbaren Wirkungen der Heilung dem Menschen oftmals viel schneller Erleichterung von den Folgen der Schmerzen bringen als die übliche Medizin. Aber genau das ist der springende Punkt: Wenn wir – anstatt einer Krankheit die Gelegenheit zu geben, sich durch unseren physischen Körper auf natürliche Weise auszuwirken – zu schnell geheilt werden, indem wir uns diesen sogenannten okkulten Heilmethoden unterwerfen, durchkreuzen wir möglicherweise den mitleidsvollen Plan der Natur. Eigentlich müssten wir sehr dankbar sein, dass die Krankheit, deren Kern in einer mentalen oder emotionalen Instabilität verborgen liegt, am Ende die physische Ebene erreicht, auf der wir die Ursache ein für alle Mal endgültig beseitigen können.
Lassen Sie körperliche Folgen mit der richtigen medizinischen Fürsorge auf der Ebene der Folgen behandeln, aber schauen Sie nach innen, um die Ursachen zu erkennen. Was wir auch tun, wir sollen die Umstände, die für uns eine Erfahrung bedeuten, nicht so hastig aus dem Weg räumen, dass der Wert des Schmerzes für uns nicht verloren geht. Letztendlich sind Schmerzen und Unbequemlichkeiten Wegweiser der Natur auf der Straße des Lebens, die uns immer wieder dazu zwingen, uns selbst zu prüfen und herauszufinden, wo wir in unserem Denken und in unserer inneren Haltung in die Irre gegangen sind. Indem wir den Schmerz durch die Anwendung von unnatürlichen und nicht-physischen Methoden unmittelbar beseitigen, bevor wir die Gelegenheit hatten, seine segensreichen Nebenwirkungen zu erfahren, berauben wir uns einer kostbaren Gelegenheit, gerade die Lektion zu lernen, die wir brauchen.
Manchmal scheint es, als müssten die besten Charaktere am meisten leiden. Wir alle haben Menschen gekannt, deren Leidensbecher, mental und körperlich, überzulaufen scheint und die sich trotzdem nicht schlecht fühlten. Sie weigern sich, dem Selbstmitleid zu erliegen und lassen sich deshalb nicht durch Umstände behindern, die weniger starke Seelen übermannen könnten. Ihre Schwierigkeiten sind für sie zweitrangig in Vergleich zu dem Wissen, dass sie – sobald sie die Laufzeit ihres Leidens zu Ende bringen, selbst wenn der Tod dazwischen kommt – in der Zukunft für einen größeren Dienst befreit und gestärkt sein werden. Vom inneren Standpunkt aus gesehen wird Schmerz für einen ernsthaften Schüler zum Schönsten, was es auf der Welt gibt. Nichts, auch nicht der Samen in der Erde, kann ohne Schmerzen wachsen. Intellektuell können wir das wohl einsehen, aber wenn es uns persönlich überfällt, vergessen wir es gerne. Dennoch ist es die einfache Arithmetik des reinen Okkultismus, die wir verstehen und festhalten müssen, wenn wir je das ABC unseres Daseins hier auf Erden begreifen wollen.
Es gibt noch eine andere Art von Leiden, das nur jene seltenen Wesen kennen, die freiwillig Leiden auf sich nehmen, damit anderen geholfen wird. Sie aber gehören einer Klasse an, die weit über dem Gewöhnlichen steht; und ihr Opfer wird mit Glorie gekrönt.
Fußnoten
1. Sannyāsin (Sanskrit): Jemand, der die Bande und die Anziehung der Welt aufgibt, um der spirituellen Natur zu dienen. [back]
2. Aussprache Tsjen-re-zi. Im Sanskrit Avalokiteśvara, der ‘Herr, der wahrgenommen wird’, das Höhere Selbst, der Dritte Logos, sowohl himmlisch als auch menschlich, immer darauf bedacht, Schmerz zu entdecken und jenen, die in Not sind, beizustehen. [back]
3. Od – ein von Reichenbach zur Benennung der Lebensflüssigkeit gebrauchter Ausdruck – ist auch ein tibetisches Wort mit der Bedeutung Licht, Helligkeit, Strahlen (HPB, The Secret Doctrine, I:76, Fußnote). [back]
4. H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, Theosophischer Verlag GmbH, Paperback: ISBN 3-930623-01-3, DM 11,-; Geschenkausgabe, Leinen mit Goldschnitt: 3-930623-00-5, DM 21,- . [back]
5. Zusammenfassung eines „Gespräches am runden Tisch“, wiedergegeben in Sunrise, Heft 5/1960, Vorsitzender: James A. Long. [back]