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Die Sprüche des Alten

Der Tempel und der Teich

Der Alte sagte:

Am Morgen erwachte ich aus der Tiefe der Nacht und Traumlosem Schlaf und schaute auf das Land, in das ich gekommen war. Hinter mir schoss der Fluss des Blutes, den ich überquert hatte, brüllend herab, bevor mich die Dunkelheit ereilte, und vor mir lag ein Land Ruhiger Schönheit. Leuchtend grüne Wiesen mit vielen bunten Blumen, die sich im sanften Schlaf zwischen dunkelgrünen Hügeln und Wäldern ausbreiteten und zehntausend subtile Düfte ausströmten. Bäche, die wie Ketten aus Silber und Opal funkelten, flossen von den Hügeln hinab durch die Wälder und verloren sich in einem breiten Fluss, der in langsamen Windungen durch weite Täler floss und in einem dunstigen Gold schimmerte. Keine Regung von Mensch noch Tier störte den Frieden der Landschaft, und kein Vogelgesang entzückte die sanfte, azurblaue Luft: Doch der Ort war vom Leben und vom Lied des Lebens erfüllt: Und das Leben war das Licht, und seine Form war der Klang.

Dann nahm der Klang in meinem Ohr die Gestalt einer Stimme an und sagte: „Bruder, was siehst du?“

Und ein Echo in mir antwortete und sagte: „Ich sehe Licht.“

Die Stimme fragte: „Bruder, was fühlst du?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich fühle die Kraft des Menschseins.“

Die Stimme fragte: „Bruder, was hörst du?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich höre das Lied des Friedens.“

Die Stimme fragte: „Bruder, wo sind deine Kleider?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich habe meine Kleider unter den Kindern verteilt.“

Die Stimme fragte: „Bruder, wie ist Dein Name?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich bin Ich.“

Die Stimme fragte: „Was suchst du, Oh Mensch?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich suche Getreide für die Hungernden.“

Die Stimme sagte: „Wenn du die Hungrigen nähren willst, dann lehre sie zu säen, denn was einer im Garten des Königs sät, erntet kein anderer.“

Das Echo in mir war still, aber ich hörte meine eigene Stimme sprechen und sagen: „Wie soll ich Samen für andere finden, und wie soll ich sie lehren, zu säen, da ich nackt bin und nichts besitze und die Zeiten und die Jahreszeiten dieses Landes nicht kenne.“

Die Stimme antwortete nicht, aber mein Blick wurde in Richtung Osten gezogen, wo sich die Erde sanft nach oben krümmte, bis ihr grüner Mantel die blauen Gewänder des Himmels berührte. Und aus Licht formte sich dort vor meinen verwunderten Augen ein großer Tempel mit Sieben breiten Giebeln. Die Wände waren strahlend und feurig, als wären sie aus der Substanz der Sonne erbaut, und sie wurden von einer Blauen Kuppel gekrönt, deren Wölbung sich im Blau des Himmels verlor. Sieben hohe Türme umgaben die Kuppel wie ein Diadem, und jeder der sieben trug eine der Farben des Regenbogens.

Hoch in der Westlichen Wand, die in meine Richtung ausgerichtet war, befanden sich mächtige Tore aus Gold und Perlen: Und eine wundersame Treppe mit Sieben Läufen aus jeweils Sieben Stufen, die sich wie ein großer Regenbogen auf einen Bogen stützten, erhob sich von der grünen Erde weit unten bis zu einer Schwelle in der Wand.

Wieder formte sich der Klang zu einer Stimme in meinem Ohr und sagte: „Wenn du den Samen der Weisheit sammeln willst, gehe zum Tempel der Weisheit, Oh Mensch, und lies dort die Lektion, die für alle geschrieben steht, die Augen haben zu lesen.“

Ich ging nach Osten, den Grünen Hügel hinauf und stieg die Regenbogentreppe hinauf. Die Tore aus Gold und Perlen schwangen bei meiner Berührung weit auf, mit einem Klang wie das Geräusch von zehntausend Goldenen Stimmen, welche die Morgenhymne singen. Ich ging hinein und sah eine riesige Halle mit einem mondlichtblauen Gewölbedach und einem Boden aus Milchweißem Kristall. Um mich herum sah ich dunkle, ferne Wände und hoch aufragende, skulpturale Säulen aus Farbtönen und Umrissen, die schwankten und sich veränderten wie die Nebel, die beim Anblick der Morgensonne aus der schlafenden Erde aufsteigen.

Dann schaute ich Ostwärts und sah einen großen Weißen Altar in Form eines Zehnstrahligen Sterns. Zehn von Silberketten getragene Lampen schwangen über den Strahlen des Sterns, und jede Lampe war aus einem einzigen prächtigen Juwel geschnitten. Sieben verströmten die Sieben heiligen Regenbogenstrahlen über den Altar und den Boden; die anderen Drei jedoch, die im Osten hingen, leuchteten im wechselvollen Licht des Geheimen Opals.

Die Lichter ergossen sich und umfassten mich, und sie zogen mich weiter nach Osten. Ich ging Sieben Stufen des Regenbogenkristalls hinauf und drei weitere Stufen des nebelumfangenen Opals, und dann kniete ich nieder und betete den Heiligen Stern an. Ich stand auf und sah nach Westen auf die Tempelhalle hinunter; und ich sah, dass das Kristallpflaster zu einem Teich geworden war, klar und still wie ein vollkommener Spiegel und tief und leer wie ein Glas, das den mitternächtlichen Himmel widerspiegelt.

Dann, als ich auf den Teich blickte, sah ich verwundert, doch ohne Furcht, dass das Wasser schnell und leise bis zu meinen Füßen hoch anstieg. Stufe um Stufe versank die Altartreppe unter die stille Fassade der Umgebung und verschwand völlig aus meinen Augen, als hätte sie nie existiert.

Die Flut küsste meine Füße und umarmte meine Knie, doch ich fühlte weder Kälte noch Nässe. Die stille Welle umfloss meinen Hals und verschlang den Altarstern. Nur die hohen Säulen, das mondlichtblaue Gewölbe, die Lampen, ihre Silberketten und ich blieben über der Flut.

Dann formten sich die Heiligen Lichter als Stimme in meinem Ohr und sagten: „Was suchst du, Oh Mensch?“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „Ich suche Getreide für die Hungernden und Leben für jene, die umkommen.“

Die Stimme sagte: „Wisse, Oh Suchender, dass Du allein Leben bist und dass nur du den Samen des Lebens besitzt.“

Und das Echo in mir antwortete und sagte: „All dieses Ich bin ich teile ich mit denen, die sich nach dem Leben sehnen, und alles was mir gehört, gebe ich den Hungernden.“

Und ich wusste, dass ich selbst all die von mir ausgesprochenen Worte war, aber dass die Worte nicht mir gehörten; und ich senkte meinen Kopf in die Wasser und ging in eine Region ohne Länge noch Breite, ohne Höhe noch Tiefe. Deren Herrscher war Schwärze, und sein Thron war Stille. Und ich nahm dieses Reich an mich und stieß den Monarchen von seinem Platz, und Schwärze wurde mein Diener und Schweigen mein Fußschemel.

Dann verließ ich das Land, das ich erobert hatte und betrat ein fremdes Land. Und ich sah eine weite Landschaft, ruhig und grün und voller Blumen, die sich zu meiner Rechten weit nach Osten erstreckte und aussah wie das Land, in dem der Tempel stand, nur dass sich ein außergewöhnliches Licht darüber ergoss, das keine Sonne jemals auf die Erde geworfen hatte, obwohl es am Himmel keine Sonne gab. Und zu meiner Linken sah ich ein weiteres Land, sturmgepeitscht, baumlos und voller schwarzer, formloser Felsen, das sich weit nach Westen hin erstreckte und das wie das Land jenseits des Flusses des Blutes aussah, abgesehen von einer Düsternis, die es wie ein Leichentuch umhüllte, so wie keine Nacht es jemals über die Erde legt. Und über dem Hellen Land formte sich eine schneeweiße Wolke gegen den Himmel zu Buchstaben; und die Buchstaben formten folgende Worte:

Das ist das Land des Tages.

Und über dem Dunklen Land formte sich eine trübe, rote Wolke vor der Dunkelheit zu Buchstaben; und die Buchstaben ergaben folgende Worte:

Das ist das Land der Nacht.

In den Landschaften vor mir sah ich zwei Menschen erscheinen, einen im Land des Tages und einen im Land der Nacht. Der Erste ging aus einer riesigen weißen Flamme hervor, die den fernen Horizont im heiligen Osten überflutete. Der Zweite kam aus einer dichten Schwarzen Wolke, welche die wilde Landschaft im fernen, traurigen Westen verhüllte. Er, der im Land des Tages wandelte, hatte eine aufrechte und königliche Gestalt und war in ein bis zu den Füßen reichendes schneeweißes Gewand gehüllt, sein Kopf war jedoch von seinem eigenen Licht verhüllt, und ich konnte seine Gesichtszüge nicht ­ausmachen. Er bewegte sich mit stiller, gemächlicher Anmut, wie sich ein Herrscher durch ein loyales Königreich bewegt, und ich sah, dass er dem Tageslauf der Sonne folgte. Meine Augen folgten dem Pfad, der einen riesigen Kreis um das Land herum beschrieb, und ich erkannte, dass er in der Mitte die Grenzen des Landes der Nacht berührte.

Ich wandte mich um und schaute auf das andere Land und auf den Menschen, der dort wandelte. Er war gebeugt, von dürftiger Gestalt und in einen zerfetzten, erdbefleckten Umhang gekleidet, die Umrisse seiner Gesichtszüge waren jedoch undeutlich, denn eine Finsternis breitete sich aus und verbarg sie wie hinter einem Schleier. Er bewegte sich mit ängstlichen, stockenden Schritten, fiel oft und drehte sich zur Seite, aber ich sah, dass seine Straße ebenfalls dem Tageslauf der Sonne folgte. Meine Augen folgten dem Pfad, der einen weiten, ungleichförmigen Kreis um das Land beschrieb und ich sah, wie er sich auf halbem Weg den Grenzen des Landes des Tages näherte.

Ich wandte mich wieder dem Hellen Land zu und sah und bemerkte etwas, das mir zuvor nicht aufgefallen war: Der Helle Mensch wurde auf seinem Weg von einer Gruppe Heller Wesen begleitet. Es gab menschenähnliche Kreaturen und andere, die wie Tiere aussahen. Einige von ihnen schwirrten wie strahlende Vögel durch die Luft, und andere schwebten wie fröhliche, geflügelte Insekten umher. Einige waren anders als alle anderen Geschöpfe der Erde und waren Jungfrau und Rehkitz und schnellflüglige Biene und süßstimmige, hoch hinaufsteigende Lerche in einer einzigen sich wandelnden, leuchtenden Gestalt. Einige gingen vor dem Hellen Menschen und ebneten den Weg zu seinen Füßen. Andere bewegten sich in seiner Nähe und bewahrten ihn vor jeglichem Missgeschick. Einige kühlten mit ihren Flügeln die Luft über ihm; andere wiederum erfüllten sie mit Melodien der Traumwelt und malten mit ihnen strahlende Formen in Millionen schöner Farben. Alle waren liebevolle Sklaven des Menschen; und jeder, obwohl mit seiner eigenen Aufgabe beschäftigt, übernahm auch die Arbeiten jedes anderen und vereinte sich mit allen im Dienst für den Strahlenden Meister von Allem.

Dann schaute ich auf den Dunklen Pfad und sah, was ich vorher nicht bemerkt hatte, dass eine Horde Grimmiger Wesen den Dunklen Menschen auf seinem Weg begleitete. Einige waren schwarz wie die Mitternacht, andere wiederum trugen die Farbe der Dämmerung. Einige, hier und da weit verstreut, hatten einen schillernden Farbton und eine schöne Form, aber bei ihnen handelte es sich scheinbar lediglich um einige Migranten aus dem fernen Land des Tages. Die Dunklen hatten viele schreckliche Formen: einige menschlich, jedoch deformiert und unvollständig, und andere seltsame, grausame Bestien. Einige waren reptilienförmig, und andere, die auf der Erde krochen, hatten überhaupt keine feste Form. Viele hatten riesige Fledermausflügel und Körper, die aus Frau, Tier, Spinne, Eidechse und Skorpion in einer abscheulichen Form vereint waren. Alle waren Peiniger und Feinde des Menschen und hätten ihn schnell zerstört, aber sie bekämpften sich gegenseitig in unaufhörlichem und sinnlosem Zorn. Sie gingen dem Menschen voraus und belagerten seinen Weg und rissen ihn mit ihren Reißzähnen, als er vorüberging. Sie hemmten seine Füße mit ihren Körpern und drängten ihn hin und her; und oftmals zwangen sie ihn mit waghalsigen Sturzflügen, zwischen Schwarzen Felsen Zuflucht zu suchen. Die fliegenden Monster blendeten seine Augen durch die wütenden Schläge ihrer finsteren Schwingen, betäubten seine Sinne und Ohren durch den schrecklichen Lärm ihrer Stimmen. Wieder und wieder dachte ich, er sei verloren, aber immer wieder kam in seiner dringendsten Not ein Helles Wesen auf schnellen Flügeln daher und schlug die Dunklen Heerscharen in die Flucht. Trotz all seiner Schwierigkeiten blickte der Dunkle Mensch niemals zurück, sondern arbeitete sich auf seiner Reise in das ferne Land des Tages immer weiter voran.

Und nun gelangten die beiden Menschen in das Grenzland, wo das Reich des Tages und das Reich der Nacht zusammentrafen, und dort, wo ihre Wege nebeneinander lagen, konnte ich erkennen, dass sie nur auf Armeslänge voneinander entfernt nebeneinander hergehen mussten, einer neben dem anderen. Über ihnen leuchteten die vom Feuer aus dem Land des Tages purpurrot gefärbten Wolken und tauchten das neblige Grenzland in eine gespenstische Farbe. Der Dunkle Mensch drehte seinen Kopf von einer Seite zur anderen und tastete mit den Händen, wie ein Blinder, der nach einer Lampe sucht, die er nicht sehen kann; und der Schimmer erhellte sein gequältes Gesicht, und ich sah, dass er tatsächlich blind war.

Der Helle Mensch wandte sich dem Land der Nacht zu, sah seinen Dunklen Bruder an und streckte die Arme aus, um ihn in einer Geste der Liebe und des Mitleids zu umarmen. Der Blinde spürte die angebotene Hilfe, fiel auf die Knie und betete laut.

Das Erste Gebet des Dunklen Menschen

Oh geheimes Licht! Oh Verborgenes Feuer! Oh Rettende Herrlichkeit!

Hebe diesen Schleier der Finsternis von meinen Augen, und Lasse Mich Meine Peiniger Erkennen!

Gib meinen Händen Kraft, damit ich sie Versklaven und Vernichten Kann,

Und als König über dieses Reich herrsche, so wie Du in Deinem Reich Regierst.

Der Dunkle Mensch beendete sein Gebet, und der Schleier aus Licht hob sich einen Moment lang vom Gesicht seines Hellen Bruders. Und ich sah ein Gesicht von mächtiger Kraft, Frieden und vollkommener Schönheit: Und meine Augen trafen Augen von unergründlichem Mondlichtblau, die von unendlichem Mitgefühl überflutet waren. Doch der Strahlende Schleier sank wieder herab, und die mitfühlenden Arme senkten sich. Und der Helle Mensch drehte langsam mit sorgenvollen Schritten auf dem Weg um und ging zu seinem Haus im Großen Weißen Feuer, das im heiligen Osten brannte. Und der Dunkle Mensch erhob sich langsam von seinen Knien und ging auf seinem blinden und überlaufenen Weg, bis ich ihn in der grausamen Finsternis seines Hauses im düsteren Westen aus den Augen verlor.

Der Helle Mensch kehrte wieder aus dem Weißen Feuer des Ostens zurück; und sein Dunkler Bruder kehrte aus der Schwarzen Wolke des Westens zurück; und jeder setzte wie zuvor seine Reise in Richtung des Grenzlandes fort, wo ihre Königreiche aufeinander trafen. Nichts von alledem, was ich beschrieb, hatte sich verändert, außer dass die Strahlend­geflügelten Wesen, die den Dunklen Menschen in seiner Not unterstützten, in größerer Zahl als zuvor auftauchten.

Ein zweites Mal begegneten sich die beiden Menschen, der Dunkle Mensch und sein Heller Bruder, im Land des Zwielichts, wo ihre beiden Reiche aneinander grenzten. Ein zweites Mal stand der Helle Mensch dort und streckte voller Mitgefühl seine Arme aus; und wieder kniete der Dunkle Mensch nieder und erhob seine Stimme im Gebet.

Das Zweite Gebet des Dunklen Menschen

Oh Geheimes Licht! Oh Verborgenes Feuer! Oh Ungesehene Herrlichkeit!

Hebe den Schleier von Deinem Gesicht, damit Sein Licht Meine Finsternis Erhellen kann.

Erhebe mich zu Deinem Diener in Deinem strahlenden Land;

Und lasse Meinen Feinden die Dunkelheit dieses Landes Zuteil werden.

Lange und traurig betrachtete der Helle Mensch die Gestalt seines flehenden Bruders; und eine wunderbare Verheißung lebte und erglühte in der unergründlichen Tiefe seiner Augen; dennoch wandte er sich ab wie zuvor und ging zu seinem Haus im Großen Weißen Feuer des Ostens; und der Dunkle Bruder machte sich auf den Weg in den Westen und dessen düstere Finsternis.

Ein drittes Mal beobachtete ich, wie die Menschen ihre Wege fortsetzten; und nichts von alledem, was ich erzählt habe, hatte sich geändert, außer dass diese Strahlend­geflügelten Wesen, die wachsamen Freunde des Dunklen Bruders, in größerer Anzahl erschienen, als ich es zuvor beobachtet hatte.

Wieder begegneten sich die Menschen im Zwielicht der Grenze und der Dunkle Mensch fiel auf die Knie und erhob die Hände zu seinem Strahlenden Bruder. Und ich sah in dem Leuchten, das von den Roten Wolken auf ihn herabstrahlte, dass der Schleier von seinem Gesicht gefallen war, und seine Augen waren die Augen eines sehenden Menschen. Dann hörte ich die Worte dieses Gebets:

Das Dritte Gebet des Dunklen Menschen

Oh Geheime Sonne! Oh Verborgenes Feuer! Oh Strahlender von Namenloser Herrlichkeit!

Der Schleier ist von Meinen Augen Gefallen; und Ich Sehe Dein Leuchtendes Gesicht,

Doch die Nacht Rückt Näher; und die Schwärze Erhebt sich, um Mich zu Umfangen.

Erhöre mein Gebet, Oh Strahlende Vision, Bevor Ich Meinen Weg Fortsetze.

Gib mir die Kraft, Meinem Land und den Meinen zu Dienen und über sie zu Herrschen, Oh König:

Dem Frieden dieses aufgewühlten Landes Widme Ich Meine Kraft.

Berühre Mich, Heller Bruder, mit Deinem Feuer.

Dann flammte ein Lächeln der Herrlichkeit über das Antlitz des Strahlenden Menschen, das meine Augen blendete; und er berührte mit seiner Hand die Stirn, den Hals und das Herz seines knienden Bruders. Nachdem all dies vollzogen war, wandte er sich seinem ruhigen Weg zu seinem Haus im Heiligen Osten zu: Und der Dunkle Mensch machte sich auf den Weg zu seinem Haus im Düsteren Westen. Aber ich erkannte, dass der Pfad des Dunklen Menschen nicht mehr überfüllt und verschlungen war; denn das Feuer auf seiner Stirn, seinem Hals und seinem Herzen beschwichtigte die Wut der Dunklen Legionen; und ergoss helle Farbtöne auf sie; und ihre abscheulichen Formen verwandelten sich in Schönheit.

Und jetzt, während ich zum vierten Mal die Bahnen der Menschen beobachtete, verwandelte sich die Szene langsam, unverständlich für mich. Wie beim langsamen Kommen der Mitternacht verdichtete sich die Finsternis im Land der Nacht, bis von ihrem ganzen Leben nichts mehr zu sehen war, mit Ausnahme des Feuers auf der Stirn, dem Hals und dem Herzen des Dunklen Bruders und den Leuchtenden Flügeln seiner Strahlenden Diener. Und langsam wurde das Licht über dem Land des Tages intensiver, bis mit Ausnahme seines Strahlenden Herren sämtliche Formen in ihm zu einem Weißem Feuer verschmolzen waren.

Dann tauchten die beiden Brüder wieder im Zwielicht der Grenze auf; und der Dunkle Mensch sank im Gebet auf die Knie, und diese Worte ertönten leise in meinen Ohren:

Das Vierte Gebet des Dunklen Menschen:

Oh Geheime Sonne! Oh Verborgenes Feuer! Oh Heiliges Licht Unvorstellbaren Glanzes!

Erneut Schaue ich Deine Herrlichkeit und Bade in Deinen Goldenen Strahlen.

Doch es Sammeln sich Mitternachtsschatten um Mein Haupt; und die Schwärze Steigt auf, um Mich zu Umhüllen:

Erhöre Mein Gebet, Oh Bruder des Lichts, Bevor ich Meinen Weg Beschreite.

Entfache Meine Feuer Wieder, Oh Du, der Du Weder Docht noch Brennstoff Brauchst:

Ich bin der Diener meines Landes und der Meinen; Oh König:

Gewähre Mir Meinen Dienst, Oh Du, den keine Wolke zu Verdunkeln vermag:

Lass mich Dein Licht durch die Schwärze tragen, Oh Strahlender Herr der Flamme!

Der Dunkle Bruder erhob sich und stand mit gesenktem Kopf da; und der Strahlende König zeichnete mit der Hand aus Weißem Feuer einen Kreis um seine Stirn. Aus dem Feurigen Kreis erhoben sich zehn Flammenspitzen und ruhten wie eine Krone auf seinem Haupt. Eine Zeit lang standen die Brüder da und hielten sich an den Händen; dann wandten sie sich um und gingen ihre eigenen Wege getrennt, und einer der beiden war für meine Augen in unergründlicher Schwärze und der andere in unermesslichem Licht verborgen.

Ein Zeitalter lang lebte ich allein mit der Schwärze und mit dem Licht; und dann sah ich die beiden Brüder im Land des Zwielichts noch einmal erscheinen. Ruhig, gelassen und herrlich wie zuvor war das Gesicht und die Form des Leuchtenden, doch die Gestalt seines Dunklen Bruders war müde und gebeugt, mit Ausnahme seiner Flammenden Krone waren all seine Feuer erloschen. Und ich sah, dass das Dunkle Gesicht verhüllt war wie zuvor, und dass die Augen, obwohl sie auf den Strahlenden Bruder gerichtet waren, ihn überhaupt nicht sahen. Und ich sah die vorgebeugte Gestalt auf die Erde sinken und hörte seine Stimme dieses Gebet murmeln:

Das Fünfte Gebet des Dunklen Menschen:

Oh Schlafende Sonne! Oh Verborgenes Feuer! Oh Namenlose Herrlichkeit!

Die Morgendämmerung ist nahe, doch die Schwärze zu Meinen Füssen Verdichtet sich,

Peinigt mein Herz und Blendet meine Augen.

Kehre Zurück, Oh Rettende Herrlichkeit: Kehre auf Deine Bahnen Zurück, Oh Herr der Flamme!

Berühre Mich Nochmals mit Deiner Heilenden Flamme

Und Bringe Meine Feuer Erneut zur Geburt.

Eine lange Stille folgte dem Gebet: Dann hörten meine wartenden Ohren die Goldene Musik der Stimme des Leuchtenden Bruders:

Die Goldene Stimme fragte:

Was ist Dein Verlangen, Oh müder Bruder?

Der Dunkle Bruder antwortete:

Ich wünsche mir Dein Kommen, Oh Herr des Lichts, damit dieses Dunkle Land den Tag kennt.

Die Goldene Stimme fragte:

Was willst Du Deinem Verlangen opfern, Oh Geduldiger Wächter der Nacht?

Der Dunkle Mensch antwortete:

Ich werde meinen Schatten opfern und mein Licht.

Der Dunkle Bruder verneigte sich mit seiner Strahlenden Krone in den Staub; und ihr Licht wurde gelöscht; und die Schwärze verschluckte die kniende Gestalt.

Zeitlose Stille hielt an, während der Dunkle Bruder in der Schwärze verweilte. Schließlich ertönte aus den Tiefen der Stille eine Stimme aus unermesslicher Musik mit diesen juwelenbesetzten Worten:

Licht für Dunkelheit: Ruhe für Mühsal: Freude für Schmerz:

Zu ihm, der Alles für Alle Aufgibt, gelangen all diese Wertvollen Juwelen.

Dein Angebot ist Angenommen, Oh Diener der Nacht:

Erhebe Dich aus der Dunkelheit des Westens; und Empfange Deinen Gerechten Lohn.

Bruder, Empfange diesen Körper und dieses Licht

Ich sah nichts mehr, denn die Form verschmolz mit dem Licht, und die Strahlen zehntausend verborgener Sonnen hüllten den Grenzenlosen Raum ein. Ich hörte nichts mehr, denn Worte verloren sich im Klang, und die Stimmen aller Kreisenden Sterne vereinten sich zu einem Friedensgesang.

Zeit existierte nicht, und ich wohnte in der Ewigkeit beim Licht und fiel in das Lied des Friedens ein.

Der Gesang der Kreisenden STERNE:

Oh Alle in Allen Vereinte!

Oh Sonnen, die Alle Winde Überwinden:

Oh Winde, Die Alle Meere Überwinden:

Oh Meere, Die Alle Länder Überwinden:

Oh Alle in Allen!

Wir leben in Dir, wir und alle Wesen und Dinge:

Oh Alle in Allen!

Lass uns, Deine Kinder, Eins sein mit Deinem Selbst:

Oh Alle in Allen!

Lass das Schlagen Unserer Herzen zu Einem Grossen Puls Verschmelzen,

Wenn Wir der Flamme Deines Unverschleierten Gesichtes Gegenüberstehen:

Oh Vater, Herr und Heimat Aller:

Oh Alle in Allen Vereint!

Dann nahm das Licht wieder Gestalt an, nicht mehr die eines Strahlenden Landes und eines Dunklen Landes, sondern nur die Eines Landes, das sich in Goldener Herrlichkeit vom unendlichem Osten bis zum Unend­lichen Westen erstreckte. Und es gab nun nicht mehr zwei Menschen, sondern nur einen Menschen, die Hoch Auf­­ragende Gestalt einer Reinen Weißen Flamme, die ruhig und still in dem Stillen Leuchtenden Land stand.

Wieder hatte ich meine Wohnstatt in der Ewigkeit, sah das Licht und hörte das Lied. Die Zeit entthronte ihren Meister, und ich schaute nach Osten und sah das Land des Tages, und nach Westen und sah das Land der Nacht. Und das Dunkle Land war leer, denn kein Dunkler Bruder befand sich dort; aber im Strahlenden Land sah ich zwei Strahlende Figuren, und jede von ihnen war in jeder Hinsicht das Gegenstück der anderen. Seite an Seite wandelten die beiden Leuchtenden Gestalten weiter, bis sie das Zwielicht der Grenze erreichten, und dort machten sie eine Pause und blickten in unendlichem Mitgefühl nach Westen auf das wüste Land der Nacht. Dann stand die eine Strahlende Gestalt der anderen gegenüber und breitete ihre Arme weit aus, und die Worte, die sie sprach, klangen tief und süß in meinen Ohren wie das Geläut der geheimen Tempelglocken zum Sonnenuntergang:

Das Gebet des Zweiten Bruders

Oh Strahlender Herrscher von Allen In Allen! Glorreich ist die Stunde Deines Bruders, der Dein Antlitz Unverschleiert erblickt.

Doch das Dunkle Königreich Kann Deine Pracht Nicht Erkennen.

Noch kann Sein Verdunkeltes Leben Licht und Leben von Deinem nehmen:

Ein Milderer Strahl mag Diese Dumpfe Glut Entfachen:

So kann Dein Bruder Seinem Mutterland und Dir Dienen.

Lass Mich im Dunkelsten Westen Träger Deines Strahls sein, Oh König!

Siehe, dieser Aufgabe Opfere ich Meinen Sternenkörper,

Und übertrage Mein Licht auf Eine andere Irdische Form.

Dann nahm der Bruder von der Erde einen zerfetzten, erdbefleckten Umhang auf und wickelte ihn um seine Makellos Weißen Gewänder. Dreimal neigte er den Kopf vor dieser anderen Leuchtenden Form; dann ging er mit langsamen und gemessenen Schritten über die Schattengrenze und bog auf den alten, Dunkel Umwölkten Pfad durch das Aufgewühlte Land der Nacht ab.

Wieder sah ich, wie die Menschen ihren Bahnen folgten, und wieder sah ich, wie sie sich im Zwielicht des Grenzlandes begegneten. Wieder sah ich den Dunkel Gekleideten Bruder im Stillen Gebet niederknien; und ich hörte, wie die Stimme des Strahlend gekleideten Königs in folgenden Worten antwortete:

„Zustimmung“:

Oh Stern, Vollkommen geworden durch Vollkommenes Opfer,

Das Königreich der Vollkommenheit ist jetzt Dein,

Wie Es Mein ist, War und in Ewigkeit Sein Wird.

Dein Thron Erwartet Dich! Komm, Geliebter Bruder,

Setze Dich zu Mir im Reich des Endlosen Lichts.

Und Führe mit Strahlender Weisheit diesen Niederen Schatten,

Der im Dunklen Westen für die Erde und für alle Arbeitet.

Und ich sah die Dunkle Form und die Strahlende wie Morgenwolken von der Erde aufsteigen und zusammenfließen und sich umarmen und in Eine Einzige Gestalt verschmelzen. Und als ich hinschaute, kannte ich die Wahrheit, dass es nie zwei gegeben hatte, sondern immer nur Einen: den Leuchtenden und Seinen Schatten.

Ich eilte durch die Sphäre der Schwärze und der Stille, stieg durch das Wasser des Tempelbeckens und stellte mich auf die Stufen des Altarsterns. Von dort ging ich, einem Schatten gleich, an die Ufer des Flusses des Blutes. Dann schaute ich auf meinen Körper und sah, dass er nicht mehr nackt war, denn ein Gewand, Weiß wie Schnee, bedeckte mich bis zu meinen Füßen, und eine Krone aus Reinem Gold schmückte meine Stirn. Ich schaute nach unten und sah zu meinen Füßen einen zerfetzten, erd­befleckten Umhang liegen, von dem ich wusste, dass er das Kleidungsstück war, das ich jenseits des Flusses zurückgelassen hatte. Ich zog diesen Umhang über mein Leuchtendes Gewand und blickte nicht zurück, sondern stürzte mich in die Tosende Flut und erreichte das andere Ufer.

Wisse, Oh Schüler, dass Du, obwohl ich bei Dir bin, nicht Mich siehst, sondern nur meinen Schatten; und obwohl ich zu dir spreche, hörst du nicht meine Stimme, sondern lediglich ihr Echo; denn ich wohne jenseits des Flusses, bete im Tempel der Weisheit und sammle den Samen der Weisheit im Wasser des Tempelbeckens. Achte deshalb auf meine Worte und nutze sie; denn sie sind die Weisheit des Tempels und tief in den Kristall über dem Tor der Tempelhalle eingraviert.

Willst Du die Hungrigen Nähren, Lehre Sie zu säen, denn Kein Mensch Erntet, Was ein anderer
im Garten des Königs Sät.

Wenn Du Vollkommen Sein Willst,
Oh Diener des Lebens,
musst Du im
Licht Wohnen
und im
Schatten Arbeiten.

Ili Tongo ka lase nwaye zu ze esu nka dhlineni.

(Mögest Du mit Allen Vereint
zusammen in der Ewigkeit wohnen.)