Die Mysterienschulen
- Grace F. Knoche
5 – Der duale Charakter der Mysterien
Die gesamte Essenz der Wahrheit kann nicht von Mund zu Ohr übermittelt werden. Auch kann keine Feder sie aufschreiben, nicht einmal die des aufzeichnenden Engels, wenn nicht der Mensch die Antwort im Heiligtum seines eigenen Herzens findet, in den innersten Tiefen seiner göttlichen Intuitionen.
– The Secret Doctrine, II: 516
Wie können diese „innersten Tiefen“ zum Klingen gebracht werden, so dass das Wissen um die Wirklichkeit gewonnen werden kann? Durch Übung, Schulung und selbstgeborene Weisheit. Eine solche Übung und Seelen-Schulung ist das unterscheidende Merkmal der Mysterienschulen, die seit ihrer Einführung in zwei Teile getrennt waren: die exoterische Form, allgemein als die Kleineren Mysterien bekannt, offen für alle ernsthaften und ehrenwerten Kandidaten für ein tiefergehendes Lernen; und die esoterische Form oder die Größeren Mysterien, deren Tore sich nur den Wenigen öffnen und deren schließliche Initiation zu Adeptschaft der Lohn jener ist, deren innerer Adel sie befähigt, die solaren Riten zu durchlaufen (siehe Kapitel 8 und 9).
Weltweit legen Steine und Papyri, Symbole und Allegorien, Höhlen und Krypten Zeugnis über die zweifältige Prüfung der Neophyten ab. Jesus, der Avatāra, sprach in Gleichnissen zu der Menge, aber „seinen Jüngern erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war“ (Markus 4, 34). Die Essener hatten ihre größeren und kleineren Mysterien. Man nimmt an, dass Jesus in erstere eingeweiht war.
Die chinesischen Buddhisten halten an einer geliebten Tradition fest, nämlich dass Gautama der Buddha zwei Lehren hatte: eine für das Volk und seine Laien-Schüler, die andere für seine Arhats. Sein unveränderliches Prinzip war:
Niemandem den Zutritt zu den Reihen der Kandidaten für Arhatschaft zu verwehren, aber niemals die entscheidenden Mysterien zu enthüllen – außer jenen, die sich selbst durch lange Jahre der Prüfung als der Initiation wert erwiesen haben.
– „The Doctrine of Avatāras“, BCW XIV: 370
Die Intensität der Entschlossenheit kennzeichnet die hebräischen Initiierten bei ihrer Verschleierung der inneren Lehre. Der Menge lehrten sie die To-rāh, das ‘Gesetz’, aber den Wenigen lehrten sie ihre ungeschriebene Interpretation, die „Geheime Weisheit“ – ḥokhmāh nistorāh – „in ‘Dunkelheit, an einem einsamen Platz und nach vielen und schrecklichen Prüfungen’. … Nur als ein Mysterium weitergegeben, wurde sie dem Kandidaten mündlich mitgeteilt, ‘von Angesicht zu Angesicht, von Mund zu Ohr’.“ Die persischen und chaldäischen Magier bestanden auch aus zwei Kasten: „Den Initiierten und jenen, denen es lediglich bei den öffentlichen Riten gestattet war, zu amtieren“ (siehe Isis II: 306, Fußnote, und The Kabbalah von Christian D. Ginsburg, S. 86).
Eleusis und Samothrake sind in einer wunderbaren Silhouette vor dem blau-schwarzen Himmel der Geschichte abgebildet. Klassische Gelehrte erzählen uns, dass die Kleineren Mysterien in Agrä nahe bei Athen im Frühling aufgeführt wurden, während die Größeren Mysterien in Eleusis im Herbst gefeiert wurden. Bei den Kleineren Mysterien wurden die Kandidaten, welche die ersten Riten erlebten, Mystai (die Auge und Mund Geschlossenen) genannt. Bei den Größeren Mysterien wurden die Mystai zu Epoptai (Klarsehenden), die an den Mysterien des göttlichen Elysiums teilnahmen – das ist die Vereinigung mit dem Göttlichen.
Ebenso bewachten der hinduistische Arhat, der skandinavische Skald und der walisische Barde die Seele der Esoterik mit der Heiligkeit ihres Lebens und der Disziplin ihrer heiligen Tradition.
Zu jedem Tempel gehörten die ‘Hierophanten’ des inneren Heiligtums und die weltliche Priesterschaft, die nicht einmal in den Mysterien unterwiesen war.
– Isis, II: 306, Fußn.
Darüber hinaus hatte in allen alten Ländern „jeder große Tempel seine private oder geheime Mysterienschule, die der Menge unbekannt oder teilweise bekannt war“ und die dort als eine geheime Körperschaft angeschlossen war. Eine Mysterienschule ist nicht notwendigerweise für die Bewohner einer bestimmten Region bestimmt, und sie hat nicht Zeitalter hindurch und mit immer gleichbleibenden physikalischen Gegebenheiten ihren Sitz an einem bestimmten und festgelegten Ort. Wo immer der Bedarf groß ist, muss Arbeit geleistet werden; und der „Fehler aller Gelehrten und Mystiker liegt darin, die Mysterienschulen zu sehr auf einen Ort festzulegen“ (SOP, S. 634-5).
Was ist mit den Tempeln von Griechenland und Rom, von Syrien und Judäa; mit den Höhlen-Tempeln von Elephanta und Karli in Indien; mit den Dagobas buddhistischer Länder; mit den Pyramiden von Ägypten und Peru, Mexiko und Yukatán? Was ist mit Stonehenge in England; mit Karnak in Britannien; Sippara in Assyrien; Babylon, Borsippa und Erech in Babylonien; Ekbatane in Medien; Bibrakte in Gallien; und nicht zuletzt mit Iona in Schottland, dessen geheimes Wissen ein Juwel der Weisheit war – eingepflanzt in die Herzen der nördlichen Länder? Wo sind sie jetzt? Lediglich Namen, Relikte, Überbleibsel von vergessenem Glanz? So könnte es den Anschein haben.
Eine Mysterienschule ist nicht von einem Ort abhängig; sie ist vielmehr eine Vereinigung oder Bruderschaft von spirituell geschulten Individuen, die durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind – dem Dienst für die Menschheit, ein intelligent und mitleidsvoll ausgeführter Dienst, weil er aus Liebe und Weisheit geboren ist. Es ist jedoch eine Tatsache, dass bestimmte Zentren für spirituellen Erfolg günstiger zu sein scheinen als andere. Warum fanden sich beispielsweise diese alten Zentren der Mysterien fast ausschließlich in Felsentempeln oder unterirdischen Höhlen, in Wäldern oder Gebirgspässen, in Pyramidenkammern oder Tempelkrypten? Weil die Strömungen des Astrallichts stiller, ruhiger, reiner werden, je weiter sie von der tobenden Menge entfernt sind. Nur selten wird man den Sitz einer esoterischen Schule in der Nähe einer Metropole finden, denn sie sind „wirbelnde Strudel … Ganglien, Nervenzentren, in den niederen Bereichen des Astrallichtes (ET, II: 1026).
Daher waren die Orte der Größeren Mysterien gewöhnlich sorgfältig ausgewählt und ihre Schulen
waren solcherart, dass sie auf Gebäude keinerlei Wert legten, hauptsächlich weil solche Gebäude sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und öffentliche Beachtung finden würden; das ist genau das, was diese geheimeren, esoterischeren Schulen zu vermeiden trachteten. Deshalb wurden manchmal, wenn die Tempel eher Sitze exoterischer Rituale waren, die Mysterienschulen abseits im Geheimen gehalten und führten ihre Versammlungen, Treffen, Initiationen und Initiationsriten gewöhnlich in sorgfältig vorbereiteten und dem allgemeinen Wissen verborgenen Höhlen aus, mitunter sogar unter freiem Himmel, unter Eichen, wie die Druiden in ihren halb urzeitlichen Wäldern in England und Britannien; und in einigen wenigen Fällen hatten sie nicht einmal eine ständige oder feste Bleibe; aber die Initiierten erhielten Nachricht, wo sie sich von Zeit zu Zeit treffen und ihre Initiations-Funktionen weiterführen konnten.
– SOP, S. 635
Es sind die Orte der Ruhe, des Friedens, der tiefen Stille, zu welchen sich die Adepten hingezogen fühlen und wo die geheimen oder Größeren Mysterien am wirksamsten arbeiten. In der Abgeschiedenheit ihrer Initiationskammern gibt es jene Kräfte und Strömungen des höheren Astrallichts, des Ākaśa, der feinen Substanz, welche auf die höheren spirituellen und intellektuellen Strömungen reagieren. Auf diese Art übermittelt die Bruderschaft ihre mächtige spirituelle Vitalität in die Initiations-Hallen; und der Kandidat, dessen siebenstrahlige Seele in Einklang ist, kann die göttliche Prägung empfangen.