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Die Mysterienschulen

9 – Die Initiationspfade

In der tieferen Mysterienschulung muss der Schüler nicht nur lernen, den mystischen Behälter des erwachenden Bewusstseins zu erbauen, der ihn von Ebene zu Ebene tragen wird, sondern im Laufe eines solchen individuellen Werdens muss er für sich die zeitalterlosen Initiationspfade wieder entdecken.

In Weisheit und Voraussicht ist die Natur durch und durch folgerichtig: ein Gesetz, ein Plan, eine Struktur. Mit bezaubernder Sparsamkeit wiederholt sie die Initiationspfade in den Zyklen von Schlaf und Tod. Der Tod und seine Vorgänge bilden das Herz und den Kern der Größeren Mysterien: Durch den Tod des Geringen wird das Höhere geboren. Wenn der Same nicht stirbt, kann die Blume nicht blühen; wenn die Blume nicht stirbt, kann der Same nicht gebildet werden. „Wer das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Matthäus 10, 39).

Der Schlaf ist ein unvollständiger Tod – unbewusst erlebt; der Tod ist ein vollständiger Schlaf – unbewusst erlebt; Initiation ist ein selbstbewusster Schlaf oder ‘Tod’ der niederen Elemente mit einer vollkommen bewussten Befreiung der spirituellen Seele, entsprechend den Pfaden von Schlaf und Tod.

Im Schlaf ‘stirbt’ der Körper unvollständig, denn der goldene Faden bleibt mit dem schlummernden Körper verbunden. Wenn die Seele nicht mit materiellen Wünschen beladen ist, folgt danach eine natürliche Ruhe. Während der kurzen Stunden des nächtlichen Schlafes kann die befreite Geist-Seele – wenn das Karma günstig ist – aus der Sphäre der Erde entlang der unsichtbaren magnetischen Pfade in höhere Reiche aufsteigen. Der Aufstieg ist blitzschnell und folgt bei seiner Rückkehr denselben Pfaden, bis die Seele wieder in den schlafenden Körper eintritt und ein neuer Tag heraufdämmert.

Die Pfade des Schlafs, die Nacht für Nacht begangen werden, stellen eine unbewusste Reise entlang der Initiationsrouten dar. Ein solch vorübergehender und unbemerkter Kontakt während des Schlafs ist nicht ohne Sinn; gerade die Wiederholung genau des gleichen Vorgangs wirkt auf den gewöhnlichen Menschen wie ein unsichtbarer Ansporn. Wenn die Sehnsüchte andauern und das Leben reiner gemacht wird, werden vage Eindrücke von Schönheit und Großartigkeit in die Seele dringen, Intuitionen werden sich manifestieren und der Aspirant wird feststellen, wie seine Tage durch die nächtliche Berührung der höheren Sphären gesegnet werden.

Der Tod ist die Abfolge derselben Vorgänge wie beim Schlaf, nur vollständig. Der Körper wird endgültig abgelegt und löst sich auf; der goldene Faden wird zurückgezogen und die Seele, befreit von ihren irdischen Elementen, betritt die Sphären vorübergehender Reinigung. Von irdischer Schlacke befreit und gereinigt, steigt die Seele zu ihrem spirituellen Ursprung auf, zu ihrem höheren Selbst, und sie verfolgt in unvorstellbarem Frieden und Glück die gleichen Wege wie im Schlaf. In jedem Haus des Raumes wird eine Pause gemacht – kürzer oder länger, abhängig von den in vergangenen Erfahrungen der spirituellen Seele erschaffenen Anziehungskräften, bis sie, durch den Kontakt mit dem Göttlichen gestärkt, dem alten Pfad erneut folgt und ein Kind auf Erden geboren wird.

So wandert die spirituelle Monade im Tod in bewusstem Erkennen entlang der Zeitalter alten Initiationspfade, aber für die gewöhnliche menschliche Seele noch in unbewusstem Verstehen.

Der Mensch ist vielseitig: Er hat eine göttliche Monade in sich, eine spirituelle Selle und eine menschliche Seele, welche durch seine vital-astral-physische Natur arbeitet. Wir müssen auf der Hut sein, dass nicht das Niedere die Herrschaft über das Höhere gewinnt, und wir müssen sorgfältig beobachten, besonders bei der Besprechung dieser heiligen Themen, dass wir nicht durch ihre Schönheit und ihren intellektuellen Glanz so fasziniert werden, dass wir ihren essenziellen Wert vergessen – den der Ethik. Bevor ein Individuum nicht die Ethik zur Grundlage seines Charakters gemacht hat, werden sein Herz und sein Verstand unaufhörlich von den Stürmen des Verlangens erschüttert werden.

Wer sich nur am Rande um das kümmert, was über das Alltägliche hinausgeht, wird nur eine geringe Anziehung zu tieferen Dingen verspüren. Wer aber begonnen hat, intuitiv zu denken und zu fühlen, wird sich unwiderstehlich zur alten Weisheit hingezogen fühlen. Und doch werden jene, welche allmählich aus dem Schlaf der Materie erwachen, immer wieder davor gewarnt, sich mit der Vorstellung zu tragen, die Einweihungen lägen direkt vor ihren Füßen. Man muss das Herz vor dem selbstsüchtigen Verlangen nach sogenannten okkulten Kräften schützen, wie man sich vor Schlangenbissen schützen würde. Die Initiationen, auf die vor allem im vorigen Kapitel hingewiesen wurde, sind nicht beschrieben, sondern werden nur angedeutet als etwas, worüber der würdige Schüler eines Tages vielleicht glücklich sein wird, sie zu erleben.

Zusammengefasst – die Initiationsreise wird wieder und wieder durchlaufen: im Schlaf unvollständig, im Tod vollkommener; während der Nacht von der Seele im Schlaf, periodisch von der Seele im Tod. Wenn auch unbewusst durchlaufen, wiederholt die Natur somit das, was die Seele eines Tages willentlich und bewusst in voller Aktivität befolgen muss. Dieser letztere Vorgang ist die Initiationsreise: die absichtliche Lähmung des irdischen Einflusses, gefolgt von der selbst wahrgenommenen Reise durch alle Ebenen und Sphären des Kosmos.

In seiner Esoteric Tradition führt Purucker aus:

Der Zweck der Reise der Monade nach dem Tod durch die verschiedenen Planetenketten ist, ihr die Möglichkeit zu geben, sich auf jeder Planetenkette von der Hülle, dem Kleid oder Vehikel, das zu der vitalen Essenz der betreffenden Plantenkette gehört, zu befreien. Nur auf diese Weise kann die Monade die verschiedenen ‘Schichten’, eine nach der anderen, abstreifen, in die sie sich während ihrer langen Evolutionsreise eingehüllt hat. Wenn sie sich dann von allen sieben ‘Schichten’ befreit hat, ist sie zum Eintritt in ihre eigene ursprüngliche spirituelle Heimat bereit, da sie frei und in ihrem reinen und ‘unbekleideten’ Zustand ist. Wenn nun die Rückreise zur planetarischen Erdkette beginnt, wandert die Monade wieder durch alle sieben Planeten, jedoch in umgekehrter Reihenfolge ihres Aufstiegs. Auf jedem dieser Planeten, den sie nun auf der Rückwanderung zur Erdkette in der umgekehrten Reihenfolge besucht, sammelt sie die Lebensatome auf, nimmt sie wieder an oder bekleidet sich damit. Diese Lebensatome bildeten die von der Monade zuvor auf dem jeweiligen der sieben Planeten abgestreiften oder abgeworfenen ‘Schichten’.

– II: 869-70

 

Diese Reise ist so bedeutsam, dass sich die Größeren Mysterien fast gänzlich mit Vorgängen des mystischen Todes befassten. Wie im vorhergehenden Kapitel gesagt, beinhaltet die vierte Initiation einen teilweisen Abstieg in niedrigere Sphären, begleitet von einem teilweisen Aufstieg in höhere Sphären. Die Seele hat bisher noch nicht genügend Stärke entwickelt, um der vollständigen Offenbarung des Universums standzuhalten.

Es gibt eine babylonische Legende, die auf eine Mysterienlehre hinweist. Ishtar 1steigt in die Unterwelt hinab, gelangt an die Tore von Arallu (Hades) und steht dort schön und königlich. Der archaische Ratschluss verlangt jedoch, dass niemand die gefürchteten Bereiche der Unterwelt betreten kann, der nicht von Kleidern oder Juwelen entblößt ist.

Deshalb entkleidet der Wächter an jedem der aufeinander folgenden Tore, durch welche Ishtar hindurch gehen muss, sie von einem weiteren Gewand oder Schmuckstück: zuerst ihre Krone, dann ihre Ohrringe, dann ihre Halskette, dann die Schmuckstücke an ihrer Brust, dann ihr mit vielen Juwelen besetzter Gürtel, dann die Arm- und Fußreifen und schließlich ihr Lendentuch.

– Will Durant, The Story of Civilization, I: 238

Frei und rein betritt sie das Land ohne Wiederkehr, wo ihre Schwester, Ereshkigal, herrscht. Von Eifersucht erfüllt sendet Ereshkigal ihr sechzig Krankheiten. Nachdem Ishtar die Prüfungen der niederen Welt bestanden hat, beginnt sie ihren Rückweg durch die sieben Tore und nimmt in umgekehrter Reihenfolge ihre beim Abstieg abgelegten Kleider und Juwelen wieder auf. Schließlich wird Ishtar bei ihrem Aufstieg in die Regionen des Lichts mit dem siebten Juwel gekrönt – mit der Krone des spirituellen Glanzes.

Der Abstieg in die Unterwelt ist kein automatischer Vorgang, sondern eine willentliche Entscheidung, die Reise als eine hohe Prüfung intellektueller und spiritueller Integrität zu unternehmen. Wenn der Kandidat siegt, gewinnt er die Vereinigung mit dem Göttlichen und überirdischen Segen; wenn er versagt, erwartet ihn Tod oder Wahnsinn. Es wäre dann weit besser gewesen, wenn er diese Prüfungen nie gewagt hätte, denn sie sind in der Tat schrecklich. Aber es ist nicht alles verloren, denn in einem künftigen Leben kann er es erneut versuchen.

Wenn der Aspirant durch Enthaltsamkeit, völlige Hingabe, Disziplin und Schulung dem Gold im Feuer gleich wird, wird er die niederen Welten schnell und sicher durchschreiten. Mit der Flamme der Spiritualität, die im Inneren brennt, steigt der erfolgreiche Kandidat in höhere Sphären auf, wo er in vollem Bewusstsein von einem Planeten zum nächsten übergeht. Nachdem er die allerletzte Prüfung bestanden hat, kehrt der Schüler, jetzt zu einem Meister geworden, zur Erde und zu seinem in Trance liegenden Körper zurück.

Der Hüter der Initiationskammer, der mit Geduld und liebevoller Fürsorge über den Körper seines Schülers gewacht hatte, ist von Freude erfüllt: Die Initiation ist vollbracht.

Fußnoten

1. Eine Variante der sumerischen Inanna. [back]