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Theosophie entdecken

4 – Reflexionen über Die Stimme der Stille

Hilf der Natur und arbeite mit ihr zusammen, dann wird die Natur dich als einen ihrer Schöpfer betrachten und dir gehorsam sein.

Die Stimme der Stille

Unter H. P. Blavatskys Schriften hat ihr hingebunsvoller Klassiker Die Stimme der Stille all die Jahre hindurch eine große Anziehung ausgeübt. Die Unverfälschtheit der universalen Wahrheit ist auf jeder Seite dieses kleinen Büchleins klar zu erkennen, das dem „Dem Buch der goldenen Vorschriften“ entnommen ist, welches seit unzähligen Jahrhunderten die Schritte von Schülern der Mystik auf der Suche nach dem spirituellen Pfad geleitet hat. Die ursprünglichen Vorschriften enthalten ungefähr „neunzig verschiedene kleine Abhandlungen“, von denen HPB neununddreißig auswendig lernte. Kopien sind auf dünnen Scheiben graviert, die „allgemein auf den Altären von Tempeln aufbewahrt werden, die Zentren“ der Mahāyāna-Schulen angehören. In ihren späteren Jahren übersetzte und kommentierte sie ausgewählte Fragmente aus den Vorschriften und gestaltete so dieses Büchlein von großer Schönheit.

Die Stimme umfasst drei „Fragmente“ – Die Stimme der Stille, Die Zwei Pfade und Die Sieben Pforten – gewidmet dem Erwecken des niederen Selbst zum höheren Selbst, dessen Anregungen, Weisheit und tonlose Stimme nicht voll verstanden wird, solange wir dieses Selbst nicht werden, „der Handelnde und auch der Zeuge, … das Licht im Ton und auch der Ton im Licht“.

Mitleid ist die motivierende Kraft sowohl im Mahāyāna Buddhismus als auch in der Theosophischen Gesellschaft. Der bekannte Gelehrte des Zen-Buddhismus, Dr. D. T. Suzuki, schrieb über Die Stimme der Stille:

Zweifellos war Madame Blavatsky in gewisser Weise in die tiefere Seite der Mahāyāna-Lehre eingeweiht worden und brachte dann, was sie für weise hielt, der westlichen Welt als Theosophie heraus.

The Eastern Buddhist (old series), 5:377

Die göttliche Einheit des Lebens, die gerechten und unfehlbaren Wirkungsweisen Karmas und unsere zyklischen Wiedergeburten hier auf Erden bilden die breite Leinwand, auf der die Aspekte der menschlichen Konflikte und Möglichkeiten objektiv dargestellt werden. Es werden auch verschiedene Arten der Illusion behandelt, die aus der „Ketzerei des Sonderseins“ stammen, und die Schulung und Ausübung der Pāramitās oder Tugenden, die für einen aufrichtigen Schüler oder Lehrer erforderlich sind. Diese umfassen Nächstenliebe, Harmonie in Wort und Tat, Geduld, Beharrlichkeit, Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz, die durch Dhyāna (Kontemplation) zu Erleuchtung – Prajñā – führen. „Die Zwei Pfade“ und „Die Sieben Pforten“ erklären den Unterschied zwischen dem Pfad des Pratyeka Buddha, der im Höhepunkt seiner Entwicklung äonenlange nirvanische Seligkeit wählt, und dem Pfad des Buddha des Mitleids, den es dazu drängt, seinem wohlverdienten Nirvana zu entsagen, um auf der Erde verbleiben zu können und dabei zu helfen, das menschliche Leid zu lindern. Der Pfad „für sich allein“ wird das Dharma des Auges oder des Intellekts genannt, das Äußere und das Vergängliche; der Pfad, anderen zu helfen ist das Dharma des Herzens, das Beständige und Ewige, bekannt als das wahre Siegel esoterischer Weisheit.

Diese Erde ist unsere Heimat, auf der wir seit langer Zeit die Früchte vergangener Handlungen und Gedanken ernten, manchmal voller Freude, manchmal erfüllt von Leid und Schmerz. Auf sie wird als Halle des Leidens – Myalba (die Hölle) – verwiesen, wegen der Prüfungen, die wir selbst in früheren Leben verursacht haben. Während wir uns durch die Halle des Lernens zur Halle der Weisheit begeben, wird uns allmählich bewusst, dass wahre Freude davon kommt, dass man dem Dharma des Herzens folgt, wenn man das Persönliche dem Selbstlosen und Universalen opfert, die Finsternis der Angst dem Herzenslicht des Mutes.

Zahlreich sind die tröstlichen Gedanken, wenn wir dem eigenen Karma als absolute Gerechtigkeit des karmischen Wirkens positiv begegnen:

Keine einzige Anstrengung, und wäre sie noch so klein, ob in der richtigen oder falschen Richtung, kann aus der Welt der Ursachen verschwinden. Nicht einmal unnützer Rauch verschwindet spurlos … Nie wird die Pfefferstaude Rosen tragen, niemals des süßen Jasmins Silberstern in Dornen oder Disteln sich verwandeln.

– S. 51

Es ist faszinierend, in Der Stimme die Anwendung des Paradoxons zu erforschen. Ein Paradoxon zeigt zwei einander scheinbar widersprechende Seiten derselben Wahrheit als Mittel, um Intuition und Fähigkeiten zu erwecken, die verschieden sind von den rein in der Vernunft begründeten. Sie halten das Denkvermögen davon ab, auf eine Meinung fixiert zu werden, sodass es frei walten kann, um die Möglichkeiten der Bedeutung zu erforschen. Wahrheit ist für immer lebendig und fortschreitend, aber sobald sie in ein Schema gepresst wird, verliert sie ihre Vitalität und wird zum Dogma: „Die Samen der Weisheit können im luftleeren Raum nicht sprießen und wachsen.“

Die Bedeutung des Pfades ist ein in Paradoxa eingebettetes Paradoxon. Individuell sind wir der Pfad, der zum Herzen des Universums führt: „Du bist DU SELBST, das Objekt deiner Suche.“ Kollektiv als Menschen befinden wir uns allerdings alle gemeinsam auf dem Pfad und lernen hier die Lektionen, die zu unserem Stadium des Selbstbewusstseins gehören. Selbstbewusst zu sein ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, sich unserer spirituellen Hoffnung bewusst zu sein. Die Herausforderungen und Gelegenheiten sind für jeden von uns gemäß der „karmischen Früchte all unserer früheren Gedanken und Handlungen“ verschieden. „Der Lehrer kann nur den Weg weisen. Für alle gibt es nur einen Pfad; die Mittel, das Ziel zu erreichen, müssen für jeden Pilger verschieden sein.“ Wir leiten bereits unsere eigene Evolution, aber mit jeder weiteren Stufe des Willens und der Verpflichtung, die wir innerlich eingehen, übernehmen wir wachsende Verantwortung für alle unsere Gedanken und Handlungen. Sobald wir einen Schritt mit edler Absicht vorwärtsgehen, sagt das Leben „beweise es“, und die Herausforderungen nehmen zu. Es ist ein langer und immer wieder abwechslungsreicher Weg, da wir im Verlauf unserer Reise durch Versuch und Irrtum oft in Sackgassen und auf Umwege geraten. Dennoch gibt es immer wieder Ermutigungen. „Erinnere dich, … jeder Fehlschlag ist ein Erfolg, und jeder aufrichtige Versuch bringt mit der Zeit seinen Lohn.“ „Wenn du die Sonne nicht sein kannst, sei der bescheidene Planet … Weise den ‘Weg’ … gleichwie der Abendstern jenen leuchtet, die ihrem Pfad im Dunkeln folgen.“

Die Dualität des Denkvermögens ist ein wichtiges Paradoxon, denn das Denken ist die Nabe unseres Menschseins und kann entweder als „Spielplatz der Sinne“ oder als ein Instrument der Seelenweisheit benützt werden. Wir schwanken zwischen dem „Ich bin ich“-Bewusstsein und der „Ich bin ein Teil aller Dinge“-Erkenntnis. Nicht vom Spirituellen erhellte Kopfgelehrsamkeit fällt dem trügerischen Licht der Illusion zum Opfer, welche die Sinne betört und „das Denken blendet“. Sie führt zu Egoismus, Selbstsucht, Grausamkeit und Ehrgeiz, während Bescheidenheit und Unpersönlichkeit die Tore zu Selbsterkenntnis öffnen. Auf der allerersten Seite wird uns gesagt: „Der niedere Gehirnverstand ist der Schlächter des Wirklichen. Der Schüler muss daher den Schlächter erschlagen.“ Das ist eine Anweisung dazu, die negativen Aspekte des Denkvermögens zu überwinden und die Führung zu übernehmen. Der folgende Abschnitt erläutert die wahre Funktion des Denkvermögens:

Der Verstand gleicht einem Spiegel; während er reflektiert, sammelt er Staub an. Er braucht der Seelenweisheit sanfte Brisen, um den Staub unserer Illusionen hinwegzuwischen. Suche, o Anfänger, deinen Verstand und deine Seele in eines zu verschmelzen. … Suche im Unpersönlichen nach dem „ewigen Menschen“, und wenn du ihn gefunden hast, dann schaue nach innen: Du bist Buddha.

– S. 42-43

Durch Erfahrung lernen wir, die Urteilskraft zu üben. Unser größter Lehrer ist das Leben und die Wechselwirkung mit anderen. Das vertraute Paradoxon „gib das Leben auf, wenn du leben möchtest“ bedeutet offensichtlich nicht, die eigene Verantwortung aufzugeben, die Familie zu verlassen und sich in die Berge zurückzuziehen, um spirituell zu werden. „Der Mensch, der seine vorgeschriebene Arbeit im Leben nicht erfüllt – hat umsonst gelebt“:

Folge dem Rad des Lebens, folge dem Rad der Pflicht gegenüber der Rasse, der Verwandtschaft, dem Freund und Feind und verschließe dein Gemüt gegen Freude und Schmerz. Schöpfe das Gesetz karmischer Vergeltung aus.

– S. 53-4

Indem man den Brennpunkt der Aufmerksamkeit auf sinnvollere Prioritäten verlagert und Bindungen an das Persönliche und Selbstsüchtige aufgibt, werden wir „die Hochburg der Seele“ finden, die beständig ist; dabei verwandeln wir die passive Annahme des Lebens in ein aktiveres Wissen und Handeln.

Poetische Bildersprache und Natursymbolik eignen sich für mystisches Denken; und da sich Aspekte des menschlichen Bewusstseins in den Handlungsweisen der Natur spiegeln, haben Symbole, wie zum Beispiel die Lotusblume, Macht zur Inspiration:

Lasse deine Seele jedem Schmerzensschrei ihr Ohr leihen, so wie der Lotus sein Inneres enthüllt, um die Morgensonne aufzunehmen.

Lasse die feurige Sonne keine einzige Schmerzensträne wegtrocknen, bevor du selbst sie nicht vom Auge des Leidenden hinweggewischt hast.

Doch lasse jede heiße Menschenträne auf dein Herz tropfen und dort verweilen. Wische sie erst weg, wenn der Schmerz, der sie gebar, beseitigt ist.

Oh du, dessen Herz erfüllt von Mitleid ist, diese Tränen sind die Ströme, die die Gefilde der unsterblichen Barmherzigkeit tränken. Auf solchem Boden wächst die mitternächtige Blüte Buddhas. …

– S. 28

Könnten die Schmerzenstränen der Menschheit nicht der Ruf sein, der den Buddha des Mitleids dazu führt, seine letzte Wahl zu treffen und Nirvana zu entsagen? „Das Mitleid spricht und sagt: ‘Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?’“

Das ist die Qualität der Verpflichtung, der Grad des Selbstopfers eines Bodhisattvas oder eines Buddhas des Mitleids, der sich selbst völlig hingibt, um sich „ohne Dank und von den Menschen unbemerkt“ denjenigen anzuschließen, welche den die Menschheit beschützenden Schutzwall aufbauen und erhalten, um uns und diesen Planeten „unsichtbar vor noch größerem Übel“ abzuschirmen.

Wir treffen täglich Entscheidungen, und diese wirken sich in zunehmendem Maß aus – entweder sind sie immer universaler mitleidsvoll oder spirituell selbstsüchtig, wofür der Pratyeka Buddha ein Beispiel ist, der – obwohl völlig rein – dennoch von seinem Ziel Nirvana ohne Rücksicht auf andere geblendet ist. Die edelsten Dinge, die man erwerben kann, stammen aus einfachen Anfängen. Am Beginn der „Stimme“ ist die Maxime zu lesen: „Tritt aus dem Sonnenlicht in den Schatten, um mehr Platz für andere zu schaffen.“ Das ist so klar, dass ein Kind es verstehen kann, und ein wunderbarer Weg, um das Prinzip der Rücksichtnahme lieber auf andere als auf sich selbst anzuwenden. In diesem Büchlein kommen auch Gedanken zum Ausdruck, die so tief sind, dass es viele Leben dauern kann, sie zu verstehen. Wie wenig sehen wir von der großen Wirklichkeit, die wir im Innern sind. Wir alle sind das, wozu wir uns bis jetzt selbst gemacht haben; und unsere Anwesenheit spiegelt sowohl das Unsichtbare als auch das Sichtbare. Das, was Leben um Leben fortdauert, ist tief im Innern verborgen, ungesehen und unbemerkt:

Richte den Blick deiner Seele fest auf den Stern, dessen Strahl du bist, auf den flammenden Stern, der in den dunklen Tiefen des Immerseienden, den grenzenlosen Gefilden des Unerkennbaren, leuchtet.

– S. 48

Die Schönheit dieser Worte führt Gedanken und Gefühle hinweg von dem irdischen Pfad zu jenen grenzenlosen Gefilden des Unerkennbaren, in denen das innerste Selbst zu Hause ist. Diese Art der Nachdenklichkeit verleiht dem täglichen Leben tiefere Obertöne und macht es möglich, ein oder zwei Zeilen aus diesen Vorschriften zu entnehmen und sie tagelang fest im Gedächtnis zu behalten. Das ist eine natürliche Form der Meditation, die immer weiter andauern kann, ohne die gewöhnlichen Tätigkeiten zu unterbrechen, denen man volle Aufmerksamkeit schenken sollte. Und man weiß nie, wann eine plötzliche Intuition durch das Denkvermögen blitzt und wertvolle Erkenntnisse auslöst. Denn diese Worte haben eine Kraft – die lebendige Kraft der zeitlosen Wahrheit, der Weisheit des Göttlichen und der Stimme der Stille.

***

Deshalb übe, übe ständig deinen Willen. Öffne dein Herz mehr und mehr. Gedenke der Göttlichkeit in deinem Innersten, der innersten Göttlichkeit in dir – dein Herz, dein Kern. Liebe andere, denn diese anderen bist du selbst. Vergib ihnen, denn dabei vergibst du dir selbst. Hilf ihnen, denn dabei stärkst du dich selbst.