Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
- Theosophische Perspektiven
Eine neue Psychologie auf der Grundlage einer sehr alten Lehre
Der Wert einer jeden Idee zeigt sich in ihrer praktischen Anwendbarkeit bei Schwierigkeiten im menschlichen Leben. Kann sie uns helfen, den Charakter zu entwickeln und zu stärken? Liefert sie einen Beitrag zu befriedigenderen menschlichen Verhältnissen, indem sie das Verständnis für unseren Mitmenschen erweitert und es dadurch ermöglicht, ihm zu helfen? Ermöglicht sie es uns, eine Situation besser zu beherrschen und unser Schicksal zu lenken? Für eine gesunde und brauchbare Psychologie ist das Wissen von und die Einsicht in die zusammengesetzte Natur eines Menschen die erste Voraussetzung.
Die Psychologie ist eine der populärsten Themen unserer Zeit. Nicht nur für Fachleute, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen ist es offensichtlich, wie groß ihre Bedeutung und ihr Einfluss in der Praxis des täglichen Lebens ist. Ausdrücke wie ‘Verkaufspsychologie’, ‘Massenpsychologie’ usw. sind klare Hinweise darauf, welche Bedeutung den Kenntnissen von den Grundprinzipien der menschlichen Natur zugemessen wird, um auf einem bestimmten Gebiet Erfolge zu erzielen. Der Gebrauch von kommerziellen und politischen Wahlparolen vielerlei Art, mit der Absicht, damit einen Kunden- oder Konsumentenkreis zu schaffen, kann hier als Beispiel dienen.
Würde ein Mensch sich nur einen Tag lang gut beobachten, dann würde er über die Vielfalt von Stimmungen, Trieben und Charakterneigungen staunen, die in all seinen Gedanken und Handlungen ans Licht kommen. Und es würde ihn gleichfalls wundern, dass er so furchtbar wenig von dem weiß, was in seinem Innersten vorgeht. Er würde sich bewusst werden, dass er fast ganz und gar der Willkür des sich fortwährend ändernden Bewusstseinsstroms ausgeliefert ist, auf dem er sich in mehr oder weniger heikler Weise treiben lässt – heikel, weil er in Unkenntnis über die Ursache oder die Bedeutung dieser Widersprüchlichkeiten in ihm selbst ist.
Dass wir zusammengesetzte Wesen sind, wird aus der beinahe vollständigen Diskontinuität der menschlichen Natur ersichtlich. Damit ist gemeint, dass der Durchschnittsmensch nicht imstande ist, über einen längeren Zeitraum eine Linie des Denkens, Fühlens und Wollens anhaltend zu verfolgen. Das deutet darauf hin, dass in seiner Konstitution mehrere widersprüchliche Elemente vorhanden sind. Diese Elemente hindern ihn daran, denselben Gedankengang oder die gleiche Gemütsverfassung über einen längeren Zeitraum beizubehalten. Es ist also verständlich, dass, wenn wir diese widersprüchlichen Elemente nicht kontrollieren können – sie nicht miteinander in Harmonie zu bringen und nicht zu lenken lernen – sie in unserem Leben immer eine wilde und ungestüme Rolle spielen werden. Aber müssen wir, um sie bezwingen zu können, nicht erst wissen, welcher Art sie sind und woher sie kommen?
Wie können wir Einblick in unsere psychische Natur gewinnen und den wirkenden Kräften Richtung geben? Hier, in dieser zweifältigen Persönlichkeit, wird der Kampf um die Evolution des menschlichen Wesens zu etwas Höherem ausgetragen. Es ist der Kampf zwischen dem Persönlichen und dem Göttlichen. Er wogt hin und her, und einmal wird die Persönlichkeit durch ihre Verbundenheit mit Kāma herabgezogen, aber dann wieder durch ihre Vereinigung mit dem höheren Manas angehoben und geläutert.
H. P. Blavatsky liefert in The Key to Theosophy [Der Schlüssel zur Theosophie] eine sehr klare und vollständige Analyse dieser dualistischen Psychologie der menschlichen Natur. Sie spricht von den Strahlen des göttlichen Denkens, die, wenn sie begrenzt werden oder inkarniert sind, als individualisierte Wesenheiten duale Eigenschaften annehmen, und zwar:
(a) … die ihnen innewohnende, essentielle Charakteristik des nach dem Himmlischen strebenden Denkvermögens (dem höheren Manas), und b) die menschliche Eigenschaft des Denkens oder des von der Vernunft beherrschten tierhaften Überlegens mit der Überlegenheit des menschlichen Gehirns, das zu Kāma tendierende niedere Manas.
– S. 184
Wir müssen diese beiden Elemente anhand des täglichen Lebens in uns selbst kennenlernen. Wir müssen lernen, wie wir die beiden durch ihre Tätigkeit in der Praxis voneinander unterscheiden und das höhere Manas in uns entwickeln können und in welcher Weise wir seinen niederen kāma-manasischen Aspekt in ein Instrument oder Vehikel umwandeln können, das vom höheren Manas benutzt werden kann. Solange wir diese Kenntnis nicht besitzen und nicht selbstbewusst anwenden können, sind wir nicht nur der Willkür unserer Gemütsverfassungen und Schwächen ausgeliefert, sondern wir werden auch auf die Stimmungen und Schwächen anderer Leute falsch reagieren.
Selbstbewusstsein bedeutet Selbsterkenntnis. Manas als der Denker hat die Fähigkeit, sich seiner selbst als eines einzelnen individuellen Wesens bewusst zu sein, das sich durch Charakter und Eigenschaften von allen anderen Wesen unterscheidet. Daraus folgt wiederum, dass wir uns unserer Beziehung zu unserer Umgebung und zu den anderen bewusst sind – was uns die anderen bedeuten und wie wir reagieren sollten.
Mit dem Selbstbewusstsein taucht zum ersten Mal der freie Wille des Menschen auf. Durch das Erkennen seiner selbst wird er sich seiner Fähigkeit bewusst, sich entwickeln zu können und seine Umstände und Beziehungen zu nutzen, um seine eigenen Wünsche und Ziele zu verwirklichen. Hier, in diesem Bereich des Selbstbewusstseins, vollzieht sich der Kampf der Dualität unserer Natur. Wenn wir das einmal erkannt haben, können wir unseren Willen entweder für die egoistischen, persönlichen Zwecke unserer niederen Natur nutzen, oder ihn dem schweigenden, aber niemals verstummenden Ruf unseres höheren Manas unterordnen. Der Kampf der menschlichen Evolution konzentriert sich auf diesen Punkt.
In dem Maße, in dem der Mensch vorwärtsschreitet, lernt er, seine niedere kāmische Natur zu beherrschen und sie in den Dienst des höheren Manas zu stellen. Sollte ihm das nicht gelingen, bedeutet dies einen Rückschritt. Wenn er seinen selbstbewussten freien Willen dazu benutzt, andere zu schädigen oder lediglich sich selbst zu begünstigen, dann schafft er Karma, das Leiden und Misserfolg mit sich bringt. Dennoch bieten ihm gerade diese Leiden und diese Misserfolge die Chance, zu lernen und sich allmählich zu entwickeln. Schließlich erlangt die Persönlichkeit nach vielen Leben die Erkenntnis, dass sie nur Frieden und Glück erwerben kann, indem sie sich mit dem höheren Manas verbindet.
Erst wenn wir diesen Punkt erreichen, lernen wir wahre Freiheit kennen. Das Wissen um die von der Theosophie gelehrte spirituelle Psychologie bringt uns zu der Überzeugung, dass der Wille erst wirklich frei sein wird, wenn er dem Wohlergehen anderer untergeordnet wird. Ein Mensch, dessen Handlungen aus egoistischen, animalischen Instinkten resultieren, ist ausschließlich auf sich selbst fixiert. Er leidet, weil er sich der Furcht, dem Neid und mancherlei Formen der persönlichen Frustrationen aussetzt – und sich dabei lediglich einbildet, frei zu sein.
In dem Maße, wie wir unseren freien Willen bewusst ausüben und auf das Wohlbefinden anderer richten, erfahren wir eine Erweiterung unseres Horizontes. Denn diese Geisteshaltung bedeutet, dass wir die Persönlichkeit auf das Licht und die Kraft des höheren Manas richten, wodurch wir unsere ganze niedere Natur dem Göttlichen unterstellen. Der Grund dafür liegt in der Natur von Buddhi und Ātman. Wie bereits erklärt, ist Ātman der Strahl des kosmischen Universalen Selbstes, das im tiefsten Innern eines jeden von uns wohnt. Es ist in uns allen identisch und deshalb die Grundlage der Universalen Bruderschaft. Ātman ist reines, göttliches Bewusstsein, das eins ist mit der universalen Quelle, aus der es entspringt.
Buddhi ist das göttliche Vehikel des Universalen Bewusstseins. Es ist eine Emanation von Ātman und deshalb besitzt Buddhi etwas von der universalen Natur Ātmans. In dem buddhischen Prinzip liegen alle Universalkräfte Ātmans eingeschlossen – unpersönliche Liebe für alle Geschöpfe, Genialität in ihrer höchsten und göttlichsten Form und Intelligenz in ihrer glänzendsten und abstraktesten Kraft.
Wenn wir darüber nachdenken, verstehen wir, dass – wenn jemand sich stärker dem höheren Manas zuwendet und auf seine Gebote der Liebe, des Erbarmens und der Hingabe zum Universalen und Wirklichen hört – er sich selbst unter den Einfluss der beseelenden Kraft des buddhischen Glanzes stellt. Diese buddhische Herrlichkeit strahlt wie eine göttliche Gegenwärtigkeit über die Natur und Tätigkeiten des höheren Manas aus. Dieses Licht ist immer anwesend. Unsere Persönlichkeit ist jedoch so oft von einem dichten Nebel der Selbstsucht und kleinlichen Eigeninteressen verdunkelt, dass die reinen Strahlen dieses buddhischen Glanzes nicht bis in das Bewusstsein vordringen können.
Aber wenn diese Nebel durch freiwillige Selbstdisziplin vertrieben werden, kann Manas sich ungehindert Buddhi zuwenden. Es wird nicht länger völlig von dem Versuch in Anspruch genommen, die ablenkenden Kämpfe von Kāma-Manas zu kontrollieren. Wenn dieser glückliche Moment gekommen ist, wird die buddhische Kraft der unpersönlichen Liebe – die Anregung des göttlichen und schaffenden Intellekts – den ganzen niederen Menschen beseelen. Unvermutete Fähigkeiten und Kräfte werden in der bislang beschränkten Persönlichkeit zur Entfaltung kommen. Fast täglich werden Friede und Glück zunehmen, ebenso wie die Fähigkeit, den Mitmenschen zu helfen und eine Stütze zu sein. Das ist der Grund, weshalb Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit sich buchstäblich und wahrhaftig selbst belohnen. Aus demselben Grund kann die Ausübung von Bruderschaft und die spirituelle Disziplinierung des menschlichen Willens zu einer großartigen Erweiterung des Bewusstseins führen. Die Menschen, die in dem erhabenen Licht des buddhischen Glanzes leben, sind auf dem Wege, zu Göttern in Menschengestalt zu werden. Vergleicht man dieses System der wahren spirituellen Psychologie mit anderen Systemen, dann zeigt sich schnell, wieviel tiefer der Einblick ist, den wir durch die spirituelle Psychologie von uns selbst bekommen können und wieviel mehr Licht sie auf die uns umgebende komplizierte Welt der Menschen wirft.
Der nächste Abschnitt, den wir den Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 151) von G. de Purucker entnehmen, kann in diesem Zusammenhang aufschlussreich sein. Er sagt, dass das Wort Psychologie
… in unserer Zeit und in den Kreisen der westlichen Wissenschaft gewöhnlich benutzt wird, um ein mehr oder weniger dunkles, zum größten Teil von Zweifeln und Hypothesen getrübtes Studium anzudeuten, das auf Annahmen beruht, die wenig mehr sind als eine Art mentaler Physiologie, praktisch nicht mehr als das Wirken des Gehirn-Verstandes in dem niederen astral-psychischen Apparat des menschlichen Denkvermögens. Aber in unserer Philosophie wird, wie wir wissen, das Wort Psychologie als etwas ganz anderes und in edlerer Bedeutung angewandt: Wir könnten es Pneumatologie oder die Wissenschaft vom Studium des Geistes nennen, weil alle inneren Fähigkeiten und Kräfte des Menschen letzten Endes dem Geist entspringen. Doch da dieses Wort Pneumatologie ungebräuchlich ist und Verwirrung stiften könnte, bleiben wir bei dem Wort Psychologie. Wir meinen damit das Studium des inneren Menschen, das Untereinanderverbundensein seiner Prinzipien oder Energie- und Kraftzentren – das, was der Mensch in seinem Inneren in Wirklichkeit ist.
Die Theosophie bietet dieses psychologische System mit der Gewissheit und in dem Bewusstsein an, dass der Mensch – der es auf sich selbst und die Probleme des täglichen Lebens anwendet – seinen höchsten praktischen Wert entdecken wird. Es ist kein neues System. Es wurde vor vielen Jahrhunderten auf den immer existierenden und unveränderlichen Gesetzen des Universums gegründet, wovon wir Menschen – unsere Natur, Probleme und Evolution – ein untrennbarer Teil sind. Es ist ein System, das nicht auf Experimenten beruht. Es wurde von den ‘Sehern und Weisen der Jahrhunderte’ entwickelt, erprobt und so unfehlbar gemacht, wie es auf dieser Welt nur möglich ist. G. de Purucker sagt:
Die wahren Seher aber, die großen Lehrer der Menschheit, sind zuverlässige und relativ unfehlbare Führer, sofern ihre eigenen erwachten spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten und Eigenschaften ausreichen, denn sie sind auf zwei Wegen oder Weisen in die tiefsten Geheimnisse des Geistes und der Materie vorgedrungen. Danach haben sie für ihre weniger evolvierten Gefährten des Menschengeschlechts ihr relativ unfehlbares Wissen aufgezeichnet. Die eine Weise ihres Vordringens war die Untersuchung der unauslöschlichen Aufzeichnungen des Astrallichts, welche die Darstellung der gesamten Evolution vom ersten Aufdämmern der Zeiten an enthalten. Die zweite geschieht durch Einweihung, durch die man, zumindest in den höchsten Einweihungen, dem eigenen inneren Gott gegenübertritt. … Göttliche Weisheit und alles nur mögliche menschliche Wissen sind im Bewusstsein der inneren Göttlichkeit eingehüllt. …
Es gibt also zwei Quellen der großen Kraft und Weisheit der Seher und Weisen oder höheren Mahātmas: Erstere kommt aus dem Inneren, aus der inneren Kraft und Weisheit, die während vergangener Zeitalter in vielen früheren menschlichen Inkarnationen in verschiedenen Teilen der Welt gewonnen wurde, wodurch das menschliche Ego zur selbsterkennenden Einheit mit dem inneren Gott erweckt wird. Zweitens von ‘außen’ her, wenn man so sagen darf – obwohl das Wort ‘außen’ strenger Kritik ausgesetzt ist –, durch Einweihung, verbunden mit einem sich ständig erweiternden Grad der Empfänglichkeit als Mitglied der großen Bruderschaft hoher Eingeweihter. So kommt es, dass die geheimsten Mysterien der Natur jenen in zunehmendem Maße enthüllt werden, die einmal den Zustand und die spirituelle Stufe der Mahātmas erreicht haben.’
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1041-2
Das einzig Neue an diesem sehr alten System ist seine heutige Formulierung in menschlicher Sprache mit einigen notwendigen Anpassungen an die zeitgemäße Ausdrucksweise. Es gründet heute, wie schon seit jeher, auf der Existenz des kosmischen Gesetzes, das den Menschen, wie auch das ihn umgebende Universum, als ein siebenfältiges Wesen offenbart. Ferner zeigt dieses System uns den einzigen Weg zum Glück – Harmonie in Denken, Wort und Tat, mit dem universalen Herzen der unpersönlichen Liebe, in dem wir alle spirituell leben, uns bewegen und unser Dasein haben.