Die Götter warten
- Katherine Tingley
I – Dogma versus den Gott im Menschen
Menschen und Parteien, Sekten und Schulen sind ja nichts als Welten-Eintagsfliegen. Die Wahrheit, auf ihrem Fels von Diamant, ist allein ewig und vollkommen.
– H. P. BLAVATSKY, Isis entschleiert, Vorwort
Helena Petrovna Blavatsky
Menschen haben selbstlose Stimmungen, aber dennoch sind selbst ihre großen Vorsätze unbeständig und schwankend: heute sind ihre Bestrebungen vorhanden – und morgen schon wieder vorbei. Wie also könnte jemand wie Helena Petrovna Blavatsky zu ihrer Zeit verstanden worden sein? Sie wird für immer ein Mysterium bleiben – außer für diejenigen, die herausgefunden haben, daß das irdische Leben nicht die erfreuliche Angelegenheit ist, auf die es Anspruch erhebt, die an seine Grenze gestoßen sind und Ehrgeiz und Selbstsucht als Täuschungen erkannt haben. Diejenigen, die sie verstanden haben, müssen sich schon in einem früheren Leben der Unwirklichkeit und Unbeständigkeit der Dinge bewußt gewesen sein, die den Menschen am meisten am Herzen liegen; und dann müssen sie sich der Realität bewußt geworden sein, die dahintersteht und die von uns den Willen zu wachsen und den Willen zu dienen erfordert.
Obwohl HPB in mancher Hinsicht ein Mysterium bleibt, ist es eine bestimmte Größe an ihr, die uns zur Suche nach der inneren Bedeutung der Dinge und zu dem Bemühen drängt, den innersten Teil unserer Natur zu erwecken, in dem die gesamte Wahrheit auf unsere Entdeckung wartet. Für diese Bedürfnisse war sie gekommen und hat ihr Leben auf dem Altar der Wahrheit geopfert. Sie sah, wie sich die Menschheit durch die Jahrhunderte treiben ließ, in Unkenntnis ihres Geburtsrechtes und ohne sich ihrer Würde bewußt zu sein: wie die Unbestimmtheit moderner Ideen den Verstand der Menschen verwirrt hatte und überall Unsicherheit und hilflosen Zweifel hervorgerufen hatte; wie die essentiellen Wahrheiten der Religion von den unaufrichtigen Kräften der Falschheit durchsetzt worden waren, die den Fortschritt der Menschheit verzögern. Sie hinterließ der Nachwelt eine Sammlung von Lehren, die die Kraft in sich haben, die ganze Welt zu verändern und gleichsam den unsterblichen Teil des Menschen vom Tode zu erwecken. Sie war der Bote und Fürsprecher der Seele, des lebenden Gottes im Menschen, und sie war gegen totes Dogma und konventionelle Meinung, gegen jegliche Art von verdummender Irrealität und gegen alles Böse, das die Menschheit zerstören würde.
Der Fluch des Dogmas
Die von der Mehrheit akzeptierte Lebensphilosophie hat die Menschen unaufhörlich von ihren erhabensten Möglichkeiten hinweggeführt. Wir essen, schlafen, leiden und sterben in unserem Gehirnverstand und in dem niedrigeren und unwirklichen Teil von uns selbst und verschließen die Kammern der Seele durch Türen gegen unser eigenes Eintreten.
Betrachtet die Gesichter auf der Straße, und ganz allgemein das Aussehen der Menschen in der Öffentlichkeit: sie fangen bereits an, den Tod zu fürchten; der Gedanke an den Tod ist ihr ständiger Begleiter. Angst liegt uns im Blut und wird im Blut unserer Nachkommen liegen. Unsere jungen Männer werden alt, bevor sie jung waren, und unsere Frauen sind niedergedrückt und freudlos. Wir sind in unserem Intellekt, in unserem Herzensleben und physisch begrenzt; und dort, wo viele von ihnen Riesen sein sollten, sind sie nur ein armseliges Abbild eines Menschen – und all das nur deshalb, weil uns über Jahrhunderte hinweg nur Halbwahrheiten übermittelt wurden. Die großen und universalen Wahrheiten über das Leben wurden hinter Formen und Zeremonien, hinter Beweisführung, Argumenten, Hoffnungen und Glauben verborgen, bis wir nicht mehr wußten, wo wir stehen.
Die meisten Männer und Frauen denken überhaupt nicht wirklich darüber nach – sie bilden sich nur ein, es zu tun, aber sie tun es nicht – und das ist eine der großen Schwierigkeiten von heute. Sie entlehnen ihre Meinungen von äußeren Quellen und ignorieren die in ihrem Inneren schlafende Göttlichkeit. Der äußere Anschein gilt als Wahrheit, der Buchstabe wird dem Geist vorgezogen, und während wir die Gedanken des einen oder anderen übernehmen und versuchen, ihnen zu folgen, sind die größeren und hilfreicheren Gedanken in uns selbst unerweckt und warten darauf, erkannt zu werden.
Wir hungern und dürsten nach der Oberfläche der Dinge und wollen nie lange genug in den Kammern des unsterblichen Menschen verweilen. Oft kommen wir in spirituellen Dingen keinen Schritt vorwärts, weil unser Verstand derartig in Bücher vertieft ist, meist überladen mit einer Art Gelehrsamkeit, die das Herz der Menschheit zerstört, und das Universum und alles, was darin existiert, nur vom Standpunkt der Materie und des Verstandesdenkens ausgehend erklärt. Selbst wenn wir Millionen von Büchern lesen und studieren würden und die größten Lehrer zu unserer Unterweisung hätten, würden wir keine Wahrheit finden, solange wir nicht an unser eigenes inneres Selbst glauben; und auch daran, daß Mensch zu sein mehr bedeutet als menschlich zu sein –, größer, als es sich die Welt vorstellt, oder als Dogmen und Glaubensbekenntnisse es erlauben würden – denn in unserem Inneren ist etwas, das zu absolutem Wissen fähig ist und nicht ohne Selbsterniedrigung aufhören kann, zu glauben.
Viele, die sich nach Wahrheit sehnen, sind dennoch nicht bereit, um ihretwillen auch nur eines ihrer mentalen Hindernisse aufzugeben, denen es an jeglicher Beziehung zur Wahrheit mangelt: vorgefaßte Meinungen, die in den Hallen ihres Gedächtnisses lauern, Meinungen, die aus ihren eigenen Launen heraus geboren wurden oder aus dem psychologischen Einfluß ihrer Nachbarn oder aus Büchern, die sie gelesen haben, oder aus ihrer Umgebung, aus den konventionellen Ansichten, die sie aufgrund ihrer Erziehung übernommen haben, als ihnen gelehrt wurde, scheinheiliges Gerede als Ersatz für vitale Realitäten zu akzeptieren.
Denkt über das Gebot nach, daß wir unsere Nachbarn lieben sollen wie uns selbst. Wir lesen es gewöhnlich oberflächlich in der Kirche an Sonntagen und erneuern es mit einer gewissen Selbstgefälligkeit bei der Wiederholung; aber was haben wir davon in unserem täglichen Leben? Konventionelle Phrasen, die Höflichkeit ausdrücken, und eine konventionelle Haltung des guten Willens; abgedroschene Lippenbekenntnisse, nach denen jeder, der gegen gewöhnliche Gepflogenheiten verstößt, für unfreundlich und unhöflich gehalten wird. Es kommt uns nie oder nur selten in den Sinn, daß es sich, wenn wir sagen „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, nur um eine leere Wiederholung handelt – Lippenbekenntnis, scheinheiliges Gerede, ja sogar Heuchelei –, wenn nicht wirkliches Fühlen hinter den Worten liegt, das unser Leben und Handeln beherrscht.
Wir sind unseres Bruders Hüter: wie können wir unsere Pflicht irgend jemandem gegenüber erfüllen, solange der Inhalt unserer Meinungen weder Denken noch Wahrheit ist, sondern Schlagworte, banale Phrasen und konventionelle Begriffe? Welchen Platz in dem System der Dinge können wir in passender Weise einnehmen, solange wir die Gezeiten unserer Gedankenströme als Substanz für unsere mentale Aktivität annehmen? Wir dürfen nicht an unser unbedeutendes Selbst denken, an unsere einengende Umwelt und die kleinen Götter, die wir in unseren Herzen und Heimen aufgestellt haben, so als ob die Zeit und das höhere Gesetz auf jeden Menschen warten würden. Wir müssen uns von der Oberflächlichkeit befreien, die alles moderne Leben durchdringt.
Viele Menschen, die sich danach sehnen, ehrlich zu sein, oder die es zu sein scheinen, sind unter den Leidtragenden. Nehmen Sie zum Beispiel einen Anwalt, einen typischen Vertreter der menschlichen Gesellschaft. Er geht täglich in sein Büro und repräsentiert für die Gesellschaft einen hervorragenden Vertreter des Gesetzes. Zu Hause, im Kreise seiner Familie, die er liebt, nimmt er regelmäßig am Gottesdienst teil und spendet großzügig für die Kollekte. Er gibt seine Bankette, er ist ein hoher Beamter des Staates, er befriedigt die Launen des einen und des anderen, gehört der einen oder anderen politischen Partei an – und weil die Welt auf den Fortschritt des Einzelnen gerichtet ist, wird er als ein hervorragender Mann bezeichnet. Jedermann sucht seine Gesellschaft, besucht ihn in seinem Heim und ist bestrebt, ihn zum Freund zu haben. Er ist durch die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Welt geschmeichelt und fühlt, daß er seinen Platz im Leben erlangt hat und hegt fortan nicht mehr den Willen oder Wunsch zu wachsen.
Dann stirbt sein Körper; ihm werden große Ehren erwiesen, und er bekommt ein öffentliches Begräbnis; die Zeitungen loben seine Größe – und das alles ist Unsinn. Das alles ist inhaltslos: nichts Reales, nichts Dauerhaftes. Unter all dem Streß von Ehrgeiz, Zurschaustellung und Publizität konnte nichts heranwachsen. Es war nur ein bestimmter Aspekt des Menschen, der aktiv war – seine materielle Seite –, und er wußte nie, wie er zu den wirklichen, tiefen Hilfsquellen seiner Natur, die in seiner Seele liegen, zurückkehren konnte; und zuletzt verschied er blind und ohne etwas gelernt zu haben.
Niemand kann im Licht wandeln, ohne sich selbst von dieser Oberflächlichkeit befreit zu haben. Der menschliche Verstand muß seine Unabhängigkeit erreichen, weitergehen und für Größeres als bloße gesellschaftliche Statussymbole einstehen. Welchen Wert hat es, mit weniger als der Wahrheit zufrieden zu sein? Solange wir verwirrt sind und unser Denken durch die Ideen der alten religiösen Systeme völlig fehlgeleitet ist, solange wird es für uns unmöglich sein, die wahre Natur des Menschen zu verstehen, denn das Wesentliche für ein solches Verstehen liegt zur Gänze im göttlichen, Höheren Selbst des Menschen, im innersten Heiligtum des Lebens.
Wir wissen, daß in jedem Menschen diese beiden Wesen existieren: die niedere Natur, die danach trachtet, ihren eigenen Neigungen zu folgen; und der unsterbliche Teil unserer Natur, eingekerkert in das Fleisch, der sich nur durch die Erhabenheit des Charakters manifestieren kann. In dem einen Teil werden die Schätze von Begierde und Eigendünkel festgehalten und gehortet, von dort stammt diese wütende, knurrende und immer unzufriedene Selbstsucht, die sich wie eine Schlange in das Leben stiehlt. Von dem anderen rühren alle unsere goldenen Momente her, erfüllt mit heiligem Sinn: die Freude des Dienens und die Freude daran, das Beste zu geben, das man hat und kann; und nur das ist es, was im Leben von Wert ist, der kostbare Schatz, den Geld nicht kaufen und Zeit nicht verwüsten kann: Imagination, der Künstler in uns, der wie ein Engel des Lichtes aus den Kammern der Seele kommt, und das Leben zu vollkommener Schönheit entfaltet. Um erfolgreich zu leben, müssen wir lernen, sicher zwischen diesen beiden zu unterscheiden. Wir müssen lernen, durch Wissen zu überwinden, oder es wird uns beigebracht werden, durch Leiden zu überwinden. Wie kann ein Mensch jedoch lernen, wenn seine mentale Vorstellungskraft so ungeschult ist, daß er nicht zwischen Konvention und Tatsache unterscheiden kann, zwischen lebendiger Wahrheit und totem Dogma?
Errette Dich selbst
Einer der größten Stolpersteine auf dem Pfad der Menschheit von heute ist die Leichtigkeit, mit der sich Irrtum und Wahrheit vermischen; sonst hätten wir nicht überall auf der Welt diese sich widersprechenden Gedankensysteme. Für den begrenzten menschlichen Verstand ist es absurd, die Endgültigkeit irgendeiner Glaubensrichtung zu proklamieren. Derjenige, der auf blinden Glauben baut, baut sein Haus auf Sand. Würde immer noch der Geist der Wahrheit die Religionen der Welt leiten und heiligen, dann gäbe es keine dieser tief verwurzelten Uneinigkeiten unter den Menschen, denn wir alle sind in Wahrheit Glieder des universalen Systems, Brüder in Hinblick auf alles, was in unserem Leben wahrhaftig ist.
Das Himmelreich ist in uns; es ist nicht weit weg. Göttlichkeit durchdringt das ganze Universum. Sie ist unpersönlich und unerkennbar, ganz gleich, wie weit wir uns ihrem Licht nähern. Sie ist das Absolute, das Ziel, zu dem wir emporsteigen, und das wir niemals erreichen; zu dem wir unaufhörlich emporsteigen, indem wir ständig lernen und wachsen, in dem Wunsch und der Kraft zu dienen, indem wir unaufhörlich neue und größere Ideale erwerben von jenem, zu dem wir emporsteigen. Wer das erkennt, weiß, was die Würde des Menschen ist, und daß die einzige zu unserer angeborenen religösen Natur passende Religion ein universales System menschlicher Bruderschaft sein wird, das auf dem Wissen beruht, daß wir essentiell göttlich sind – ein System, das unsere Herzen durch die Erkenntnis erwärmen wird, daß es nichts außerhalb von uns gibt, das uns retten oder verdammen kann, daß wir selbst es sind, die alleinig unsere eigene Erettung erarbeiten müssen und können.
Es war Emerson, der sagte: durch das Leben zu gehen und dabei von irgendeiner äußeren Kraft abzuhängen, um die eigenen Seele zu retten, wäre so, als würde man Rechnungen unbeglichen lassen in der Absicht, daß jemand anderer sie bezahlen wird, ohne daran zu denken, sie je selbst zu bezahlen. Es ist völlig sicher, daß derjenige, der auf eine so dumme Errettung hofft, gegenüber den Tatsachen und der Vernunft blind ist. Diese Einstellung hat uns unseren höheren Interessen gegenüber ziemlich gleichgültig werden lassen: sie hat den inneren Glanz verdunkelt und uns lediglich den Gehirnverstand und den unfruchtbaren Glauben als unsere Führer gelassen. Auf das drängende Rufen des Herzens hat sie keine Antworten gegeben, sondern Formen, Riten und Halbwahrheiten, die oft gänzlich verfälscht werden, so daß die Furcht vor Strafe, entstanden aus dem Lehrsatz der Erbsünde, uns über Jahrhunderte hin gefangenhielt und unterdrückt hat; wir wurden hin- und hergerissen, ausgelaugt und durch den psychologischen Einfluß der Angst in die Ecke gedrängt. Unser Leben und unsere Kräfte wurden dadurch in der Entfaltung behindert und entartet – Angst vor dem Tod, Angst vor der öffentlichen Meinung, Angst vor einem eingebildeten, rachsüchtigen Gott.
Es hätte keinen Grund für eine Lehre von der Erlösung gegeben, wenn die Lehre von der Verdammung niemals gepredigt worden wäre, um unser Verständnis für spirituelle Dinge abzutöten, um einen Schleier zwischen uns und unsere erhabeneren Möglichkeiten zu legen, und uns von dem Pfad des Forschens abzubringen, dem zu folgen die Seele von uns fordert, und uns mit der Ungewißheit und der Verzweiflung um unsere Mitbrüder an kahlen Küsten gestrandet zurückzulassen, verfolgt von Enttäuschung und bedrängt von Fragen, die wir nicht beantworten können.
Ich würde das Wort Sünder abschaffen. Ich würde Sünde aus den Wörterbüchern, aus der Sprache und dem Gedächtnis der Menschen streichen. Solange die Menschheit von religiöser Furcht hypnotisiert ist, können wir nicht in den Reichtum des wahren Lebens eintreten. Wir können nicht unser wahres Selbst sein, solange diese pessimistischen und unedlen Ideen die mentale Atmosphäre vergiften. Söhne Gottes, die wir sind, erarbeiten wir hier unser herrliches Schicksal für uns selbst und für die Welt, in der wir leben, um dem Göttlichen für einen Augenblick den Zutritt zu unserem Verstand zu gewähren. Ist das Lästerung gegen das ewige Gesetz? Anstatt der blindmachenden und lähmenden Tyrannei von Glaubensbekenntnissen und Dogmen sollten wir Freiheit haben, um die weite, süße Luft des Lebens einzuatmen und die Unendlichkeit in uns selbst zu finden; wir sollten zu der Überzeugung stehen, daß wir unsterblich sind, Erben von allem Guten im Universum. Es gibt keine Bestrafung – es gibt nichts zu fürchten außer dem, was wir in uns selbst erzeugen.
Wie ist doch die spirituelle Natur des Menschen vernachlässigt worden – wie ausgehungert, wie übersehen und vergessen! Der Gott im Menschen wurde für viele Zeitalter begraben, und das äußere Leben wurde die alles beherrschende Kraft. Alles Böse im Leben ist das Resultat von Ignoranz und falschen Lehren, die das Licht außerhalb von uns selbst suchen und jene innere Quelle ignorieren, von der alles spirituelle Licht ausstrahlt. Und nun sitzen wir hier, völlig verstummt, und warten darauf, daß sich die Zeiten ändern, oder auf Offenbarungen, die vom Himmel fallen; und die ganze Zeit über sind wir es selbst, die die Schlüssel zu all unseren Möglichkeiten in der Hand halten. Wenn wir es wollen, können wir in einer Stunde oder in einem Moment das Tor im Inneren finden, das den Zugang zu Regionen eröffnet, von denen wir niemals geträumt haben, wo Glückseligkeit weilt, denn dort werden alle unsere Probleme gelöst. Dort wird wahrhaftig ein Selbstvertrauen angeboten und erreichbar sein, das jegliches Verstehen übersteigt. Es ist die Essenz der theosophischen Lehre, daß wir Angst ausmerzen und an ihre Stelle Liebe pflanzen sollen.
Jeder von uns kann und muß schließlich auch sein eigenes Gesetz werden: denn jeder hat diese göttliche Kraft latent in sich und ist grundlegend mit der großen Ursache, der Quelle und dem Zentrum des Lebens verbunden – bewußt damit verbunden, wenn er die Angst und alle anderen pessimistischen Gedanken und Gefühle ausschaltet. In uns liegt immer eine große Inspiration, ein Hauch und eine Kraft aus dem Innersten, die von keiner Begrenzung, von keinen gängigen Vorstellungen oder von intellektueller Kritik berührt werden kann. Man kann es die Liebe des Allerhöchsten nennen, denn es ist königliches Mitleid, welches das Herz und die Essenz aller Existenz ist. Um das Wissen zu erlangen, das den Menschen erretten kann, braucht er kein Buch aufzuschlagen oder auch nur ein einziges Mal seine Stimme im Gebet zu erheben, oder auf seine Wiedergeburt oder die Vergebung von einem persönlichen Gott oder auf irgendeine Hilfe von außerhalb zu warten.
Er selbst ist es, der sich verzeihen muß, indem er sich auf das Gesetz verläßt, das alles Leben kontrolliert; indem er Hilfe sucht und auf seine stärkere, seine ewige Seite vertraut; indem er durch Imagination in den göttlichen Reichen der Gedankenwelt verweilt und sich als Teil der immerwährenden Schönheit empfindet. Denn in den Kammern der Seele gibt es keine dunklen Stellen: dort ist nur lebendiges Licht und Wissen. Wir müssen nicht außerhalb von uns nach der Größe und der Hilfe suchen, nach der sich unsere Herzen sehnen. Das Geheimnis und der Schlüssel für alle Situationen ist in unserem Herzen. Alle Wahrheit ist im Inneren. Seit Zeitaltern war sie in diesen Bereichen und liegt noch immer schlafend im spirituellen Teil des Menschen.
Niemand kann es in Worten ausdrücken, niemand kann es in Sprache oder Schrift übermitteln – niemand kann uns das Geheimnis des Lebens enthüllen. Schlüssel und Hinweise können gegeben werden, Enthusiasmus kann geweckt werden, Herzen können entflammt und der Verstand zur Tätigkeit angeregt werden, aber die Wirklichkeit ist etwas, das jeder für sich selbst finden muß. Größer als alle Bücher, die jemals geschrieben wurden, größer als alle Weisheit, die die Lehrer der Alten den Menschen brachten, sind die Bücher der Offenbarung, in denen ein Mensch in seinem Inneren lesen kann.
Zieht hinaus in die Bereiche der Gedanken, wo Wirklichkeit ist, und ihr werdet eure theologischen Bücher zurücklassen, und ihr werdet aufhören, eurer eigenen Seele gegenüber ungerecht zu sein. Euer persönlicher Gott wird in eurem Verstand eines natürlichen Todes gestorben sein. Er wird nicht länger abseits in den Weiten des Raumes sitzen und seine Gefühle der Liebe oder Rache nähren oder euch nach einem einzigen Leben jeder Möglichkeit berauben, Erfahrungen zu sammeln oder zu dienen, und den Glanz der unendlichen und ewigen Existenz von euch fernhalten – diese gesamte phantastische Schöpfung des menschlichen Gehirnverstandes wird entschwinden. Das göttliche Bewußtsein im Inneren wird jedoch wachsen wie die Blumen wachsen. Es wird euch möglich sein zu erkennen, wie die Harmonie und die schützende, universale Freude, die wir die Liebe Gottes nennen können, durch alle Welten und Geschehnisse und Völker strömt; und ihr werdet erkennen können, wie ihr, die ihr Bewohner der Ewigkeit seid, von der Zeit abhängig geworden seid. Wir gehören zur Ewigkeit. Sie ist die Bühne zur Entfaltung unseres Lebens: die Schule, die Arena und die ursprüngliche Wohnstätte der Seele.
Bewohner der Ewigkeit
Der Mensch ist, wie wir wissen, von Natur aus religiös. Jedes menschliche Wesen, auch das niedrigste, neigt zur Religiosität, denn sie alle stammen aus einer göttlichen Quelle. Wie auch immer der Verstand oder sogar das Leben eines Menschen sein mag, der Gott ruht dennoch im Inneren. Dieses grundlegende Wissen, daß der Mensch essentiell göttlich ist, kann alle Probleme lösen, die uns oder unsere Vorväter vor uns gequält haben; durch dieses Wissen könnte die Menschheit aus all ihrer Verzweiflung und Begrenzung emporgehoben werden. Der unmittelbar daraus entspringende Gedanke ist, daß wir unsere Evolution mit unseren eigenen Händen erschaffen und lenken, daß unsere Rettung nur aus uns selbst und durch unsere eigenen Anstrengungen kommen kann. Man muß nur seine eigene höhere Natur erwecken und dabei die Reichtümer des Göttlichen in seinem eigenen Wesen wahrnehmen und erkennen; und die Antwort darauf wird so sicher folgen wie der Sonnenaufgang am nächsten Morgen. Wurde nicht gesagt, daß das Himmelreich in uns gefunden werden sollte?
Wir suchen nach Wundern: der Verstand ist neugierig und neigt dazu, nach dem Unbekannten und weit Entfernten zu greifen; dabei setzen wir unsere Gedanken und Hoffnungen auf ferne Bereiche, auf einen Punkt im Raum jenseits der Sterne. Die Menschen werden jedoch von dem, was in ihnen diese Liebe für das Wunderbare erweckt, nicht zu ihrer höchsten Pflicht geführt. War es nicht im Herzen, in den Kammern des Herzens – hier und nur hier – wo das Reich des Himmels entdeckt werden kann?
Formen, Glaubensrichtungen und Dogmen können das Licht im Inneren nur verdunkeln. Solange der Verstand durch sie geleitet wird – ganz gleich wie hoch die Prinzipien eingeprägt zu sein scheinen –, kann er nicht anders, als zumindest die Hälfte des Sinns des Lebens verfehlen, kann er nur mit Halbwahrheiten abgespeist werden und taub sein für die innere Stimme. Da kann es weder Glanz noch Inspiration im Leben geben: die Seele wird wie ein einsamer Wanderer weitersuchen, um den Verstand zum Wachstum anzuregen und dem Leben einen edleren Charakter zu geben. Sie wird danach trachten, das bewußte Selbst, die ganze Persönlichkeit, mit der Fülle und der Größe ihrer Kraft zu überfluten – und es vergebens versuchen. Deshalb treibt die Menschheit nun hinaus in diese Ozeane der Unruhe, und deshalb werden wir von Schatten überwältigt, die wir nicht durchdringen können: wir verstehen uns selbst nicht.
Und nun werden alle alten Theorien umgestoßen, Sitten und Glaubensbekenntnisse werden aufgegeben. In der Welt ist jetzt eine Kraft am Werk, die uns dazu zwingt, die Armseligkeit unseres religiösen Lebens und Denkens zu erkennen. Vor dem Weltkrieg (1914-1918) lag ein großer Teil der Menschheit im Halbschlaf. Gläubige dogmatischer Glaubensrichtungen waren selbstzufrieden mit ihren Religionen; jetzt aber sind die Menschen überall durch eine neue Unruhe aufgewühlt: der Glaube, der vorher so beständig schien, behält nun keinen solchen absoluten Einfluß mehr bei. Dogmen und Glaubensrichtungen sterben langsam, und so wenige Menschen nehmen an den Gottesdiensten teil, daß der Klerus überall alarmiert ist. Warum? Weil die Menschen nach dem Brot des Lebens hungern und nicht mehr die leeren Hüllen ertragen können, die ihnen über Jahrhunderte hinweg ausgeteilt worden waren.
Es ist ein Faktum, daß wir essentiell göttlich sind, geboren, um uns zu entwickeln. Dafür sind wir hier, und nicht um unter einer Last von Irrtümern zu verweilen. Die Möglichkeiten der menschlichen Natur sind nicht begrenzt, und es ist nicht schwer, die Wahrheit zu entdecken, wenn wir nur unvoreingenommen danach suchen. Aber wir müssen ohne vorgefaßte Meinungen sein, wir dürfen nicht an einen persönlichen Gott glauben oder daran, daß wir nur ein Leben auf Erden haben; denn Ideen wie diese lähmen den Verstand und führen zwangsläufig zu Angst und Unruhe. Um diese Unendlichkeit in uns zu finden, müssen wir mit der Suche richtig beginnen, indem wir unseren Verstand von all jenen Erinnerungen befreien, die für immer die Erkenntnis des Zieles verhindern würden.
Wahre Religion kann nur durch unsere innere Natur wirken: nur durch sie können wir die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, dem Menschen und dem Universum, dem Menschen und der Gottheit erkennen. Deshalb wird der Weise seinen Verstand von Dogmen befreien und die Seele in sich einströmen lassen wie die Gezeiten die Küste umspülen: denn die Dinge sind, wie sie sind, und mit dem auf das innere Leben konzentrierten Blick, kann er die innere Schönheit erschauen; er kann die Seele erblicken, die so natürlich wächst und evolviert, wie es die Blumen tun; das gesamte Leben der Menschheit, von dem alle unsere Hoffnungen, Sehnsüchte und Ideale kommen, kann sich durch den Weisen ausdrücken, so einfach und perfekt, wie die Schönheit einer Rose durch ihre Form, Farbe und ihren Duft ausgedrückt wird.
Denn wir sind hier als Krieger des universalen Gesetzes, um auf herrliche Weise für die spirituelle Manifestation des Menschen zu kämpfen, damit diese trüben Dinge, die unseren Verstand verschleiern, von der Sonne vertrieben werden, die alles erhellt: vom Licht der Seele, der Erleuchtung des höheren Selbst, dem ewigen, spirituellen Widerschein der inneren Göttlichkeit des Menschen. Was wir von der Menschheit sehen, sogar in ihrer besten Verfassung, ist nichts als ein Schatten des Realen, das unmanifestiert ist und für immer nach Manifestation strebt; und das ist der höhere, unsterbliche Teil des Menschen.
Das Leben ist ein wissenschaftliches Problem und muß wissenschaftlich angegangen werden. Wir können nicht falsche und unnötige Vorstellungen mit uns herumtragen und dabei unser Leben zu einem Erfolg führen, denn irgendwo auf dem Weg werden wir darüber stolpern und zu Fall gebracht werden; dann müssen wir wieder von neuem beginnen. Wir alle werden an den Punkt gelangen, an dem das Gesetz und das Leben Verzicht von uns fordern werden; und das kann nicht länger hinausgeschoben werden. Dann werden wir ein riesiges Grab für die dummen und viel zu sehr geliebten Irrtümer brauchen, die unseren Weg blockiert haben. Das war es, was Jesus meinte, als er sagte, daß ein Mensch nicht in das Reich Gottes eintreten kann, bevor er nicht wie ein kleines Kind geworden ist. Es ist eine Reinigung des eigenen mentalen Hauses – eine Vorbereitung des Verstandes auf eine größere Vision und Ausstattung.
Wo Vorurteile und Mißverständnisse, die uns über Jahre hinweg eine Last waren, abgelegt werden, kann neues Leben in den Verstand einströmen, wie Musik aus der Welt des Himmels. Die universale Harmonie kann in unser Leben eindringen: wir werden hellere Reiche des Denkens und Strebens betreten und vor uns ein Ziel erblicken, das herrlicher ist als alles, was wir erträumt haben; und das Wissen darüber bestärkt uns und ist ein sicheres Fundament, auf dem wir unser Leben und Denken aufbauen können.
Ein neues Gefühl für Verantwortung beginnt, denn die Größe des Lebens wurde verstanden, und der Wille ist auf Selbstevolution gerichtet; und wir wissen, daß das Leben ewig ist und gestaltet werden kann, wie man es möchte. Es kann gestaltet werden, wie man es möchte – und das trifft nicht nur für unser eigenes Leben zu. Auf diesem Weg nimmt der Mensch seine Gefährten mit; er kann ihn nicht allein beschreiten. Er ist ruhelos und unglücklich, bis er schließlich erkennt, daß er der gesamten menschlichen Rasse dient. Er weiß, daß das Leben und das Universum nicht für das Individuum existieren, nicht für ihn selbst, sondern für die Menschheit; daß es in Wirklichkeit kein Getrenntsein gibt; daß er im Innersten nicht im geringsten von der Menschheit getrennt ist; daß es nur für die äußeren Aspekte des Lebens zutrifft, bei denen dieses getrennte Wesen und diese vielen Unterschiede des Denkens, des Wachstums und des Fühlens gefunden werden können. Er hat eine innere Erkenntnis von der Einheit gewonnen: er ist in dieses tiefe Wissen darüber eingedrungen, das den höheren Bewußtseinszuständen innewohnt. Er hat die Natur von einem neuen Standpunkt aus gesehen. Die Bedeutung ihres Lebens, die Kombination und das Zusammenspiel ihrer Kräfte, die er sieht, sind alle auf eine große Einheit hin ausgerichtet, wenngleich äußerlich Uneinigkeit herrschn mag und er vieles nicht versteht; die Tendenz ist gänzlich auf eine mächtige Musik und Harmonie gerichtet. Denn das Universum strömt, so wie die menschliche Seele, aus der zentralen Quelle aller Existenz hervor.
Unentwegt werden ihm neue und größere Erkenntnisse des Lebens und der Pflicht bewußt. Er überläßt es dem Sektierer, sich einzubilden, er hätte alles ihm mögliche getan. Für seinen Teil fühlt er, daß alles, was auch immer er getan hat, weniger als gut gemacht war, weil es nicht völlig verstanden wurde. Er fühlt, daß er immer gefehlt und viel weniger als genug getan hat, weil er nicht verstanden hat. Er überläßt es dem Sektierer, sich einen Lohn vorzustellen, der ihn im Himmel erwartet, und Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit, denen er in einer Welt jenseits des Todes teilhaftig wird. Er könnte nicht mit sich selbst zufrieden oder selig sein – obwohl er nichts anderes als Glück gesehen hat, niemals Leid oder Tod, niemals könnte er mit sich selbst zufrieden sein, solange ein Mensch leidend oder ohne Licht zurückbleibt.
Denn in diesem inneren Bewußtsein, an dem wir alle teilhaben, fordert uns eine nicht zum Schweigen zu bringende Stimme auf, Hilfe zu leisten. Und obwohl sie sich in unserem Verstand und unseren Herzen kein Gehör verschaffen kann, weil uns die Schatten umnebeln, und obwohl wir glauben können, daß wir zufrieden sind, weil unsere Augen auf die objektive Welt gerichtet sind, ist es dennoch für jeden einzelnen Menschen in Wahrheit gänzlich unmöglich, sicher, in Frieden und unbesorgt zu sein, solange ein anderer Teil in Gefahr oder unterdrückt ist, denn im Inneren und in Wirklichkeit sind wir eins.
All das weiß er – daß das Leben heilig ist, die Verantwortung des Menschen grenzenlos und jeder Augenblick der Zeit unendlich wertvoll. Jeglicher Zweifel und Pessimismus sind von ihm gewichen; sich seiner Stellung bewußt, betritt er den edlen Pfad. Seine Zuneigung zur Menschheit – für das ganze lebende Universum – wächst mit dem Wachstum seines Pflichtgefühls: Er erkennt, daß es in Hinblick auf das Dienen Tag für Tag mehr und mehr zu tun und zu denken gibt. Er wird sich dieses höheren und universalen Selbst in seinem Inneren immer mehr bewußt, dem er zu allen Zeiten all seinen Dienst schuldet, seine höchste Pflicht für immer.
Sein Körper ist für ihn nun lediglich zu seiner äußeren Hülle geworden, in der er lebt. Er sieht sich auf dieser Ebene als einen Teil des großen Lebensplanes, um hier seine göttlichen Ziele zu verwirklichen, die ständig seinen Verstand antreiben und sein Wachstum zu dem Typ des vollkommenen Menschen hin fördern, der er werden soll. So hat er sein physisches Leben zu Vollkommenheit gebracht, hat sich sowohl physisch als auch mental gereinigt. Seine Art zu denken und zu empfinden haben seinen gesamten Organismus durchdrungen und die Erschaffung des neuen Typs begonnen, der auf keine andere Weise geboren werden kann. Die Seele hat die Herrschaft über den Körper und gestaltet für sich ein wunderbares und schönes Schicksal, jenseits unseres Vorstellungsvermögens.