Band 9: Theosophie und Christentum
- Theosophische Perspektiven
Historischer Überblick
- Der ‘heidnische’ Ursprung des Christentums
- Frühe Formen des Christentums
- Die Entfaltung des Christentums
Der ‘heidnische’ Ursprung des Christentums
In diesem Kapitel wollen wir zeigen, dass das Christentum nicht eine ganz neue Religion war, sondern aus etwas hervorging, was bereits vorher existierte. Seine Hauptlehren sind auch Bestandteil älterer Religionen, und viele Riten und Dogmen wurden vom sogenannten heidnischen Glauben übernommen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entstand in den Vereinigten Staaten eine Bewegung, die sich Fundamentalismus nannte, welcher die Unfehlbarkeit der Bibel lehrte, sich gegen den Liberalismus zur Wehr setzte und zum wahrhaftigen alten Evangelium zurückkehren wollte. Aber wie weit sollte man da zurückgehen und welchen Moment in der Geschichte könnte man als den Anfang betrachten? Einige Aussagen frühchristlicher Autoren sind hier angebracht. Augustinus, der von 354-430 n. Chr. lebte, schrieb:
Das, was jetzt als die christliche Religion bezeichnet wird, war tatsächlich den Alten bekannt, von Anfang an fehlte sie nie in der menschlichen Rasse – bis zu der Zeit, da Christus im Fleisch erschien; danach begann man, die wahre Religion, die voher existierte, christlich zu nennen. Das ist in unseren Tagen die christliche Religion – nicht weil sie in vergangenen Zeiten fehlte, sondern weil sie in späteren Zeiten diesen Namen bekam.
– Augustini Opera, I, 12
Eusebius von Caesarea, christlicher Theologe und Historiker, der kurz vor Augustinus lebte und ein feuriger Verteidiger der neuen Religion war, fühlte sich dennoch gezwungen zuzugestehen, dass die christliche Religion weder neu, noch fremd und den Alten bekannt war (Kirchengeschichte, Buch I, Kapitel iv).
Justin der Märtyrer (100-163? n. Chr.), Kirchenhistoriker und Philosoph, der Kaiser Hadrian gegenüber das Christentum verteidigte, gab sich viel Mühe, um dessen Identität mit dem Heidentum zu zeigen:
Indem wir erklären, dass das Wort (Logos), der erstgeborene Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus, von einer Jungfrau geboren wurde, ohne eine einzige menschliche Vermischung, gekreuzigt wurde und starb und später auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, sagen wir nicht mehr als Sie über jene sagen, die Sie die Söhne Jupiters nennen. …Was den Einwand anbelangt, dass unser Herr Jesus gekreuzigt wurde, sage ich, dass Leiden in den Leben aller erwähnten Söhne Jupiters vorkam, nur dass sie einen anderen Tod starben. … Was das Heilen der Lahmen, Gebrechlichen und Kranken anbelangt – das ist kaum mehr, als was Sie von Ihrem Äskulap erzählen.
– Apologia, I, Kapitel xxi, xxii
Ammonius Saccas, der große alexandrinische Lehrer und Sohn christlicher Eltern, der ungefähr 150 Jahre vor Augustinus lebte, sagte:
Das Christentum und das Heidentum – vorausgesetzt sie werden gut verstanden – unterscheiden sich nicht in wesentlichen Punkten, denn sie haben einen gemeinsamen Ursprung und sind tatsächliche ein und dieselbe Sache.
Das folgende Zitat betrifft die Kontroverse zwischen H. P. Blavatsky und dem Abbé Roca, die im April 1888 in der französischen Zeitschrift Le Lotus veröffentlicht wurde:
Jesus Christus – das heißt der Mensch-Gott der Christen, eine Kopie der Avatāras aller Länder, sowohl des hinduistischen Krishna wie des ägyptischen Horus – war für mich nie eine historische Person. Er ist die vergöttlichte Personifikation des verherrlichten Vorbilds der großen Hierophanten der Tempel, und seine Geschichte, so wie sie im Neuen Testament erzählt wird, ist eine Allegorie, die gewiss tiefe esoterische Wahrheiten enthält – aber eine Allegorie. … Die Legende, von der ich spreche, gründet sich … auf die Existenz einer Person Jehoshu genannt (woraus der Name ‘Jesus’ hervorging), der ungefähr 120 Jahre vor der modernen Zeitrechnung in Lud oder Lydda geboren wurde. … Wenn wir das Zeugnis der ‘Evangelisten’ – also unbekannter Männer, deren Identität nie festgestellt wurde –, der Kirchenväter und interessierter Fanatiker beiseite lassen, können wir sagen, dass trotz jahrhundertelanger, verzweifelter Untersuchungen weder die Geschichte, noch die allgemeine Überlieferung, noch offizielle Dokumente, noch die Zeitgenossen des sogenannten Dramas einen einzigen seriösen Beweis in den Jahren 1 bis 33 für die historische und tatsächliche Existenz liefern konnten – keinen für den Mensch-Gott und auch nicht für den Jesus von Nazareth genannten Menschen. Alles ist dunkel und still.
Philo Judaeus, der vor der christlichen Zeitrechnung geboren wurde, … machte mehrere Reisen nach Jerusalem. Er ging dorthin, um über die Geschichte der religiösen Sekten seiner Zeit in Palästina zu schreiben. Kein Geschichtsschreiber ist in seinen Beschreibungen gewissenhafter und mehr auf der Hut, nichts zu vergessen, keine Gemeinde, keine Bruderschaft, nicht einmal das Unbedeutendste entging ihm. Weshalb spricht er nicht von den Nazarenern? Weshalb macht er nicht die geringste Anspielung auf die Apostel, auf den göttlichen Galiläer, auf die Kreuzigung? Die Antwort ist einfach. Weil die Biografie von Jesus nach dem ersten Jahrhundert aufgeschrieben wurde und niemand in Jerusalem mehr wusste als Philo selbst.
Diese Passagen, die nur wenige Beispiele für das darstellen, was angeführt werden könnte, zeigen, dass das Christentum als eine Fortsetzung einer jahrhundertealten Lehre gesehen wurde. In Bezug auf die äußere Form wurden Änderungen vorgenommen, welche durch die sich ändernden Zeiten notwendig geworden waren.
Die Geschichte des Christentums beweist, dass es von einer gewaltigen Kraft inspiriert wurde – einer alles besiegenden Vitalität, die es ihm ermöglichte, sich über Jahrhunderte zu behaupten und so einen großen Teil der Welt zu beherrschen. Und trotzdem können wir, wenn wir nach dem Ursprung suchen, bis auf äußerst magere Nachweise nichts weiter finden.
Die Geschichte Jesu ist sehr zweifelhaft; seine Mission, so wie sie in den Evangelien wiedergegeben ist, beschränkt sich auf einige wenige Monate und wird von den heidnischen Historikern ignoriert. Das Christentum ist eine Wiederbelebung der Weisheitsreligion und verdankt seine Entstehung einem großen Boten der Loge, über den keine Aufzeichnungen vorliegen. Die Figur aus den Evangelien ist fiktiv; die Evangelien wurden lange nach der Zeit geschrieben, auf die sie sich angeblich beziehen. Und nach den Briefen des Paulus zu urteilen, scheinen sie ihm völlig unbekannt gewesen zu sein.
Es gibt eine jüdische Erzählung über einen gewissen Syrier mit Namen Jeshua oder Jehoshua ben Panthera, der ungefähr 100 Jahre vor Christus unter der Regierung des jüdischen Königs Alexander Jannaeus lebte; manche meinen, dass der Name Jesus daher kommt. Von diesem Mann stammen die Lehren zweier Sekten jüdischer Christen, die vor der christlichen Zeitrechnung lebten, die Ebioniten und die Nazarener. Sie vertreten die reinste Form des Christentums und lehrten, dass Christus in allen Menschen ist. Sie vertraten auch die Lehre von den Äonen oder göttlichen Emanationen, die zeigen, dass der Mensch selbst von den höchsten Gottheiten abstammt. Die Lehre der christlichen Gnostiker und Neuplatoniker war gleichlautend.
Ursprünglich war das Christentum offenbar eine Form der Weisheitsreligion. Es lehrte, dass der Mensch in seiner Essenz ein göttliches Wesen und Christus einfach der göttliche Geist im Menschen ist; dass der Mensch seine Erlösung selbst erarbeiten muss, indem er sich seiner eigenen göttlichen Natur bewusst wird und an sie appelliert. Später wurde diese erhabene und alte Wahrheit zu einem Glauben an einen persönlichen Gott – getrennt von Mensch und Natur – und zu der Lehre des stellvertretenden Sühneopfers umgewandelt. Dieser Prozess der Umwandlung ging jedoch allmählich vor sich.
Frühe Formen des Christentums
Das Gebiet um das Mittelmeer war zu Beginn der christlichen Ära das Zentrum der Zivilisation, die Bühne für eine erstaunliche Mischung miteinander wetteifernder Glaubensformen unter der allgemeinen Herrschaft des römischen Kaiserreichs. Es gab verschiedene Zentren, in welchen die alten Mysterien aufbewahrt, gelehrt und praktiziert wurden: Alexandria, Antiochia und in weiteren Städten Kleinasiens. Diese standen in Verbindung mit Indien und Persien. Das frühe Christentum nahm die Lehren dieser Schulen an, und es wurde üblich, diese Formen des Christentums als Ketzerei zu betrachten, weil sie angeblich von heidnischen Quellen beschmutzt waren, womit man die Angelegenheit ins genaue Gegenteil verkehrte. Das war das Urchristentum, während die späteren Formen das Christentum nur in sehr beschränktem Maß wiedergeben. Unsere Aufmerksamkeit beschränkte sich so stark auf die schließlich überlebende Art der Darstellung unserer Religion, dass wir viele andere Formen, die jahrhundertelang miteinander wetteiferten, ignorierten; das hatte zur Folge, dass wir dem fortschreitenden Materialismus jener Zeit verfielen.
Marcion, der ungefähr von 86 bis 165 nach Christus lebte, gründete die Kirche der Marcioniten, die bis zum fünften Jahrhundert existierte. Er versuchte, das Christentum von verderblichen Einflüssen zu reinigen. Er stimmte mit den Erzählungen über Christus in den Evangelien nicht überein und sagte, dass diese Geschichten ‘verweltlichte’ Darstellungen metaphysischer Allegorien und Entartungen der wahrhaft spirituellen Idee seien. Er beschuldigte die Kirchenväter, dass sie ihre Lehre dem Auffassungsvermögen ihrer Zuhörer anpassten – ‘blinde Dinge für die Blinden, ihrer Blindheit entsprechend, für die Dummen ihrer Dummheit entsprechend.’
Der Manichäismus war ein gefürchteter Konkurrent der Kirche. Fast alle römischen Kaiser versuchten ihn zu unterdrücken, während Päpste ihn mit dem Bann belegten. Trotzdem übte der Manichäismus ungefähr tausend Jahre lang seinen Einfluss aus, der bei den Albigensern in Südfrankreich, welche einigen seiner Lehren anhingen, sogar bis in das dreizehnte Jahrhundert spürbar war. Der Gründer des Manichäismus, Mani, war iranischer Herkunft und wurde in Babylonien geboren. Im Jahre 242 n. Chr. ernannte er sich selbst zum Boten einer neuen Religion, sandte Apostel aus und gründete Gemeinden in ganz Kleinasien.
Über ihn schreibt Dr. G. de Purucker in The Esoteric Tradition, Seite 1101:
Die Manichäer, eine Vereinigung von tief mystischen und in einigen Punkten sogar esoterischen Denkern, waren nicht nur weit über das Römische Reich, sondern auch im Nahen Osten verbreitet. Sie hielten an gewissen Glaubenssätzen fest, die sie mit den mehr mystischen Ideen des frühen Christentums verbanden. So sagten sie, dass die göttliche Sonne die Quelle des individuellen Christos-Geistes im Menschen und dieser letztere ein Strahl jenes kosmischen Christos sei. Die Kirchenväter Theodoret und Cyril von Jerusalem bezeugen diese Tatsache manichäischen Glaubens; und im 5. Jahrhundert sagt Papst Leo, der Große, in seinem Sermon Nr. IV über die Epiphania, dass die Manichäer den Christos der Menschen in die leuchtende Substanz der unsichtbaren Sonne versetzten – mit anderen Worten in ihre göttliche, beseelende Energie. Solche bezeichnenden Ideen waren … zur Zeit der ersten Entstehung des christlichen Glaubens und des kirchlichen Systems in der Welt weit verbreitet.
Clemens von Alexandrien, kirchlicher Autor, wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. geboren – vermutlich in Athen. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch Italien, Palästina, Ägypten und Syrien und übernahm später in Alexandrien die Leitung der sogenannten Katechetenschule von Pantanaeus. Er strebte danach, das Christentum ‘durch die tiefe Spiritualität des Platonismus’ zu bereichern und ‘befürwortete ein Christentum, das auf freiem Forschen basiert’ – und nicht allein auf Glauben.
In seiner ‘Ermahnung an die Heiden’ sagt er:
… der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen aus Körper und Seele, ein Kosmos im Kleinen.
Das ist eine typisch theosophische Lehre, hier von jemandem geäußert, der von der christlichen Kirche heilig gesprochen wurde.
Der Nachfolger von Clemens war Origines, der im Jahre 185 n. Chr. geboren wurde und den man den größten christlichen Fürsprecher der frühen theologischen Schule nennen kann. Er hatte einen Schüler mit Namen Celsus, dem er den Rat gab, sich als ein vorbereitendes Studium zur christlichen Philosophie der griechischen Philosophie zu widmen. Celsus schrieb sein Buch Das wahre Wort in den Jahren 177 bis 200. Was wir über dieses Buch und den Autor wissen, verdanken wir einem Werk von Origines, Contra Celsum, das sich dagegen wendet. Nach Celsus ist das Christentum orientalischen Ursprungs, seine ethischen Lehren nicht neu und viele seiner Zeremonien den heidnischen Religionen ähnlich. Er fragte sich, warum der eine Gott, den sowohl die Christen als auch die Heiden anerkennen, nicht unter verschiedenen Namen verehrt werden könne – wie Zeus, Serapis und so weiter. Warum sollte Jehova der einzige Name sein, an dem man die Gottheit erkennen kann? Warum kam Jesus so spät, um die Menschheit zu retten?
Im oben erwähnten Buch Contra Celsum schreibt Origines:
In Ägypten haben die Philosophen eine sehr edle und geheime Weisheit über die Art des Göttlichen. Und diese Weisheit wird dem Volk nur in der Form von Allegorien und Fabeln enthüllt. …
Alle orientalischen Völker – die Perser, die Indier, die Syrier – verbergen geheime Mysterien im Gewand religiöser Erzählungen und Allegorien; die wahren Weisen (Initiierten) aller Völker verstehen deren Bedeutung; aber die nicht unterrichteten Massen sehen nur die Symbole und das verhüllende Gewand.
Origines war Neuplatoniker und sowohl er als auch Plotin wurden in der Schule von Ammonius Saccas ausgebildet. Sein Erscheinen bedeutet einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Christentums – von seinem liberalen und erhabenen Ursprung zu seiner beschränkten und dogmatisch kirchlichen Form. Trotzdem hing er vielen Lehren an, die seitdem als Ketzerei verurteilt wurden, wie zum Beispiel der Gedanke, dass alle Seelen eine wirkliche Einheit mit Gott bilden und nicht nur die Seele Jesu. Weiter, dass das sichtbare Universum die Manifestation einer höher spirituellen ursächlichen Welt ist. Wie Paulus kannte er die Lehre von den Hierarchien göttlicher Wesen zwischen Gott und Mensch (‘Throne, Herrschaften, Obrigkeiten, Mächte’ und so weiter). Das Universum hat einen Anfang und muss also auch ein Ende haben; ihm aber werden andere Universen – seine Kinder – folgen, was eine rein theosophische Lehre ist.
Die Gnostiker der ersten drei Jahrhunderte lehrten die Gnosis oder Erkenntnis des Göttlichen. Zu ihnen gehörten unter anderem Valentinus, Basilides, Marcion und Simon Magus. Sie vertraten ihre Ansichten zu einer Zeit, als das Christentum noch Lehren über die Natur von Universum und Mensch enthielt; als jedoch die Religion zum Gemeingut wurde, wurden diese Lehren als Ketzerei verurteilt.
Obschon anerkannt wird, dass bereits vor Anfang unserer Zeitrechnung gnostische Gemeinden existierten, bezeichnete man den Gnostizismus manchmal dennoch als eine christliche Ketzerei. Der Gnostizismus war nicht ausschließlich mit einer bestimmten Religion verbunden, denn seine Gnosis beruhte auf esoterischer Weisheit, die das Herz aller Religionen war, so wie sie von den ursprünglichen Gründern und manchmal von ihren unmittelbaren Nachfolgern verkündigt wurde.
Ein wichtiger Fund wurde im Jahre 1945 in Nag-Hammadi in Ägypten gemacht: eine große Anzahl christlich-gnostischer Schriften. Diese Schriften enthüllen, dass von den Gnostikern ein bedeutender Beitrag zu jener Strömung geleistet worden war, die schließlich zum Christentum wurde.
Die wichtigsten Lehren der Gnostiker können wie folgt zusammengefasst werden:
1. Der Gegensatz zwischen Geist und Stoff.
2. Die allegorische Interpretation der Erzählungen des Alten Testaments.
3. Der erhabenste Gott war nicht jener Gott, der die Welt erschuf; die Welt wurde von einem niedrigeren Äon namens Demiurgos erschaffen.
4. Jesus war nicht der Sohn von Josef und Maria; aber er war herabgestiegen aus der Höhe; er war eigentlich der höchste der Äonen, der unmittelbar aus dem Göttlichen hervorging; er war der Erlöser – nicht nur der Menschen, sondern auch der Welt; und er erschien, um der ursprünglichen alten Gnosis wieder den ihr gebührenden Platz zu verleihen.
5. Der Glaube an Karma und Reinkarnation.
Dass im Allgemeinen so wenig über diese Dinge bekannt ist, ist einfach eine Folge der Tatsache, dass die Verurteilung durch die Kirchen den Menschen daran hinderte, diese Dinge zu studieren. Wenn wir einmal wissen, dass solche Informationen zur Verfügung stehen, können wir uns leicht selbst ein Bild davon machen. Es ist unser Ziel zu zeigen, dass das Christentum edleren Ursprungs war und uns in einer sehr geänderten und verarmten Form überliefert wurde.
Die Entfaltung des Christentums
Die Geschichte der ersten Christen, wie sie uns von den Chronisten der römischen Welt jener Tage überliefert wurde, ist dem Leser im Allgemeinen besser vertraut. Zu Anfang sehen wir eine Art kommunaler Sekte, deren Verhalten hohe Ideale aufweist. Da die Sekte wächst, wird sie umorganisiert und in Orden unterteilt, was wir als den Anfang einer kirchlichen Hierarchie betrachten können. Die kaiserlichen Behörden waren in Bezug auf den religiösen Glauben tolerant, aber äußerst eifersüchtig auf jede Organisation, die zu einer Bedrohung der kaiserlichen Macht werden könnte. Kaiser Trajan (53?-117 n. Chr.) erlaubte aus diesem Grund nicht einmal die Bildung einer bürgerlichen Feuerwehr, obschon er an sich ein verständnisvoller Mann war.
Dass die Christen mit der etablierten Macht in Konflikt gerieten, hatte folgende Gründe. Sie lehnten es ab, sich am alltäglichen Leben der Gemeinschaft zu beteiligen, an Opfern und den üblichen Zeremonien teilzunehmen oder als Soldaten zu dienen. Damit sonderten sie sich als eine mehr oder weniger gefährliche Sekte ab und setzten sich Verfolgungen aus. Wie wir wissen, wurden sie gerade durch diese Verfolgungen gestärkt, bis sich die weltlichen Autoritäten schließlich gezwungen sahen, mit den kirchlichen Autoritäten zu einem Kompromiss zu gelangen – Clovis im Westen, die römischen Kaiser weiter östlich. Zwei große Gruppen – die Anhänger des Athanasius und die Arianer – beherrschten jahrhundertelang die Arena, während verschiedene Kaiser der einen oder anderen Richtung anhingen, bis schließlich die Lehre des Athanasius im Westen und die arianische im Osten dominierte. Das Christentum wurde von den nördlichen Eroberern Roms angenommen und mit einigen Modifikationen zur Religion des nördlichen Europa.
Der Kirchenlehrer Athanasius, den man den ‘Vater der Orthodoxie’ nennt, hat seine Lehre in De Incarnatione verbi festgelegt. Kurz zusammengefasst besagt seine Lehre, dass der Logos (Sohn) im Wesen mit seinem Vater eins ist. Sein Gegner, Arius, lehrte, dass nur Gott unerschaffen und die Ursache von allem sei. Der Sohn wird nach Arius von Gott erschaffen; und obschon er ihm gleicht, ist er dem Wesen nach nicht eins mit ihm. Die jahrhundertelange Geschichte zu verfolgen ist überflüssig: Der lange und erbitterte Kampf der Reformation, als beide Parteien ihren Glauben sehr ernst nahmen und die weltliche Macht der damaligen Zeit sich von der geistigen nicht unterschied, ist hinreichend bekannt. Die eine Seite beruft sich auf die in gerader Linie von den Aposteln überlieferte Autorität, die andere auf die Bibel. Der Geist des römischen despotischen Kaiserreichs lebte noch und rang mit der Freiheit des Denkens um die Macht. Mittlerweile hat jedoch die Uneinigkeit abgenommen, denn die Menschheit sucht ihre Inspiration in der ewigen Quelle – dem göttlichen Funken im menschlichen Herzen.
Valentin war der berühmteste christliche Lehrer des zweiten Jahrhunderts. Er war der Lehrmeister der Kirchenväter Origines und Clemens. Nach den christlichen Apologeten hat er versucht, griechische, neugriechische, jüdische und christliche Elemente zusammenzuschmieden, wobei er eine bewundernswerte Tüchtigkeit und Originalität an den Tag legte. Aber ein Vergleich seiner Lehren mit denen aus anderen Systemen zeigt unmittelbar, dass es die Lehren der Alten Weisheit waren, die er den damals existerierenden esoterischen Schulen in Ägypten und anderen Teilen der Welt rund um das Mittelmeer entlehnt haben muss. Seine Schule, der Valentinianismus, war lange Zeit sehr einflussreich und weit verbreitet, mit wichtigen Zweigen in Italien, Kleinasien und verschiedenen kleineren Städten. Sein Einfluss auf das spätere Denken war sehr groß. Er behauptete, dass die Apostel nicht alles, was sie wussten, öffentlich bekannt gemacht hätten, sondern dass sie im Besitz esoterischer Lehren gewesen seien. Er lehrte, dass die Erste Ursache, die er Bythos (die Tiefe) nannte, sich als Pleroma (Fülle) manifestierte – als Gesamtheit des geoffenbarten Universums. Weiter lehrte er die Lehre der göttlichen Hierarchien. Dieser Lehre gemäß emanierte die erhabene Gottheit aus sich selbst heraus aufeinanderfolgende Ordnungen göttlicher Wesen, die teilweise als Erzengel, Engel, Obrigkeiten, Mächte und so weiter bezeichnet werden, bis wir beim Menschen selbst ankommen, der also unmittelbar von der höchsten Gottheit abstammt und deshalb alle göttlichen Fähigkeiten in sich trägt, die zum größten Teil latent sind, deren man sich jedoch bewusst werden kann. Die Welt, in der wir leben, war nicht von der höchsten Gottheit erschaffen, sondern von einzelnen der niedrigeren Emanationen, und dies erklärt ihre Unvollkommenheiten, die oft so schwierig mit unserem Glauben an göttliche Weisheit zu versöhnen sind. Valentin lehrte die wahre Bedeutung von Christus als der göttlichen Inkarnation in jedem Menschen und der Erlösung, sobald sich der Mensch seines Wissens über die eigene essenzielle Göttlichkeit wieder bewusst wird.
Das gibt ein ungefähres Bild darüber, was das Christentum in Wirklichkeit ist und dass die Menschen einmal wussten, wer sie in Wirklichkeit sind. Aber als das Christentum hauptsächlich zu einem politischen Faktor wurde und man es für nötig hielt, es den Bedürfnissen so vieler verschiedener Völker anzupassen – Römer, Griechen, Asiaten und Teutonen – hatte die Notwendigkeit der Uniformität und einer etablierten Kirche mit festen Lehrsätzen zur Folge, dass die erhabeneren Lehren abgeschafft wurden.