Band 5: Evolution
Die Entstehungsgeschichte des Menschen
In den vorigen Kapiteln haben wir über die Evolution als einen Prozess gesprochen, durch den der spirituelle Kern des Menschen oder jedes anderen Wesens sich in zunehmendem Maß manifestiert. Dazu benützt er ein äußeres Vehikel oder einen Körper, der dafür am geeignetsten ist. Daher ist Evolution nicht eine allmähliche Formveränderung durch die Vererbung von erworbenen Eigenschaften, sondern das Immer-mehr-zum-Ausdruck-Bringen von inhärenten Kräften und Fähigkeiten, was mit dem Gebrauch neuer, dafür geeigneter Körper verbunden ist. Wenn ein spiritueller Lebenskern oder eine Monade alle möglichen Erfahrungen gesammelt hat, die zu bestimmten Umständen und Körpern passen, und dadurch ihre inneren Kräfte entfaltet hat, so weit das unter diesen Bedingungen möglich ist, ist für die Monade die Zeit für neue Erfahrungen in Körpern anderer Art angebrochen. Diese Körper ermöglichen eine Weiterentwicklung.
Ein interessantes, engstens mit diesem Prozess der Verkörperung zusammenhängendes Phänomen ist das der Rekapitulation oder das biogenetische Gesetz. Die Entstehungsgeschichte des Menschen in einer neuen Inkarnation ist ein sehr allmählicher Prozess. Auf das Wachstum von der Empfängnis bis zur Geburt, das neun Monate erfordert, folgt das Heranwachsen des neugeborenen Babys zum Erwachsenen, der über alle intellektuellen und geistigen Fähigkeiten verfügt. Dieser Wachstumsprozess vom allerersten Beginn an bis zur vollständigen Entfaltung des Menschen ist in verkürzter Form eine Wiederholung der sehr langen Entwicklungsgeschichte der Menschheit; und das bezeichnet man als Rekapitulation. Je früher im Wachstum eines Embryos ein bestimmtes Kennzeichen auftritt, um so weiter müssen wir zurückgehen, um diese Eigenschaft in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit aufzuspüren. Später auftretende Eigenschaften und Kennzeichen wurden auch erst in einem späteren Stadium der Evolution entwickelt.
Das macht deutlich, dass aus dieser Tatsache bestimmte Schlussfolgerungen bezüglich der Abstammung des Menschen zu ziehen sind. Wir werden jetzt nicht näher darauf eingehen. Als ein erklärendes Beispiel mag hier ein Zitat aus Man in Evolution (S. 88) von G. de Purucker dienen:
… Eine Untersuchung des im Mutterschoße heranwachsenden Kindes zeigt, dass von der allerersten Periode an, da sein Fuß im embryonalen Wachstum gerade angedeutet wird, dieser genau die gleiche, einzigartige Gestalt erkennen lässt, die der Fuß des erwachsenen Menschen aufweist; und beachten Sie bitte ferner, dass sich diese Tatsache schon früh in der embryonalen Entwicklung zeigt. Daher muss er schon früh in der menschlichen Stammesentwicklung aufgetreten sein.
Ferner ist der Fuß des menschlichen Embryos niemals, zu keiner Zeit seines Wachstums, der Fuß eines Menschenaffen oder eines gewöhnlichen Affen; er ist ein typischer Menschenfuß von der Zeit seines ersten Erscheinens an – eine äußerst bedeutsame Tatsache, die zeigt, dass der menschliche Fuß ein spezifisch menschliches Merkmal darstellt und schon früh, vielleicht sogar sehr früh, in der menschlichen Stammesentwicklung erworben worden sein muss.
In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das Kapitel Die Evolution des Menschen. Darin wird die theosophische Auffassung erläutert, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, sondern dass der Ursprung des Affen im menschlichen Stamm liegt; daher ist der Mensch viel älter. In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch ein Zitat aus Man in Evolution (S. 97) interessant. Dort ist von einem Gorilla-Embryo die Rede, der – obschon er deutliche Züge eines Affen trägt – trotzdem menschlicher aussieht als seine Eltern. So ähnelt der Fuß zum Beispiel viel eher dem Fuß eines Menschen.
Es ist wohlbekannt, dass das kleine Affenkind im Allgemeinen und im Detail menschenähnlicher ist, als der erwachsene Menschenaffe. Mit fortschreitendem Wachstum weicht die Stirn zurück, das Maul wird noch tierischer, der Fuß wird immer mehr zur typischen Fuß-Hand des anthropoiden Stammes; und auch in vielerlei anderer Hinsicht, wie zum Beispiel bei dem vorspringenden Kieferknochen, bildet sich die typische Menschenaffenform heraus. …
Die Theosophie sagt, dass es sich beim menschenähnlichen Aussehen des Menschenaffen-Embryos um eine Umkehr zu einem früheren Typus einer längst vergangenen geologischen Epoche handelt, in Richtung auf die menschlichen Halbeltern der Vorfahren des gegenwärtigen Menschenaffen-Stammes. Und da der besondere anthropoide Erbstrom, der dem Keimplasma der Zelle innewohnt, aus welcher der Menschenaffe hervorgeht und sich zum erwachsenen Tier entwickelt – da dieser Erbstrom oder diese Erbanlage der Keimzelle sich Ausdruck zu verschaffen sucht –, so folgt er dabei notwendigerweise der einzigen für ihn offenen Richtung – seiner eigenen Richtung. Er erklimmt seinen eigenen vorväterlichen Stammbaum.
Es dauert viele Jahre, bis das Kind nach der Geburt seine Denkfähigkeiten entwickelt und sie vollständig benutzen kann. Daraus können wir schließen, dass dieser Prozess des Erwachens sich auch in der Menschheitsentwicklung in einem späteren Stadium vollzog. Die Menschheit hat deshalb lange Perioden durchgemacht, die man mit dem Zustand eines Kindes vergleichen kann – ein Zustand, in dem der Mensch zwar über einen hochentwickelten Instinkt und ein gewisses Bewusstsein verfügt, aber noch nicht die Fähigkeit eines Erwachsenen zu bewusstem Denken besitzt. Wie bereits früher erwähnt, wird dieses Erwachen des Selbstbewusstseins durch das Herabsteigen der Mānasaputras dargestellt, was auf eine andere Weise mit dem Inkarnieren unseres eigenen intellektuellen Selbstes in uns umschrieben werden kann.
In dem vorhergehenden Zitat kommt der Ausdruck ‘Umkehr’ oder ‘Atavismus’ vor, was im Allgemeinen bedeutet, dass in einer bestimmten Generation Kennzeichen zutage treten, die eine weit zurückliegende Generation aufwies, die in dazwischenliegenden Generationen jedoch nicht auftraten. Die Ursache liegt in der Tatsache, dass der Mensch alle niedrigeren Formen von Organismen in seiner Evolution durchschritt – tierische, pflanzliche und andere. Deshalb bewahrt er in sich Rudimente all dieser verschiedenen Arten in sich. Eine rein mechanische Erklärung diesbezüglich ist vollkommen unbefriedigend, denn dieses sehr umfangreiche Potential müsste in einem mikroskopisch kleinen, materiellen Teilchen enthalten sein. Dieses Teilchen ist jedoch nur auf der materiellen Ebene mikroskopisch erkennbar. Auf anderen Ebenen der Materie – nicht weniger real, auch wenn für die materiellen Sinne nicht wahrnehmbar – ist es kein mikroskopisch kleines Pünktchen. Wir müssen den Gedanken akzeptieren, dass es andere Zustände von Materie gibt, die feinere Strukturen als die physische Materie aufweisen. Die feinstoffliche Materie kann als Vorratskammer dieser latenten Eindrücke dienen und sie zu bestimmten Zeiten zum Vorschein bringen.
Man könnte Atavismus als eine Art von Gedächtnis umschreiben; irgendwo in seinem Organismus führt der Mensch alle Erfahrungen aus der Vergangenheit in Form von gespeicherten Erinnerungen mit sich, die unter geeigneten Bedingungen reproduziert werden können. Ist das merkwürdiger als die Tatsache, dass die Stimme eines Menschen auf einer Schallplatte oder einem Tonband für unbestimmte Zeit gespeichert und Zuhörern gewissenhaft reproduziert werden kann, die heute vielleicht noch nicht einmal geboren sind? Wir wiederholen zum Schluss dieses Kapitels, dass jede Monade – sei es in der Pflanze, im Tier oder sogar im Atom eines Minerals – ihren Ursprung in der menschlichen Art hat und dazu neigt, dorthin zurückzukehren.
„Jede Form auf der Erde und jedes Stäubchen (Atom) im Raum strebt in seinen Bemühungen nach Selbst-Bildung danach, dem Vorbild zu folgen, das ihm im ‘HIMMLISCHEN MENSCHEN’ vorliegt. … Seine (des Atoms) Involution und Evolution, sein äußeres und inneres Wachstum und seine Entwicklung haben alle ein und dasselbe Ziel – den Menschen. …“
– H. P. BLAVATSKY: The Secret Doctrine, I, S. 183