Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente 1888–1891

Vorwort

„Handelt wie die Götter, wenn sie verkörpert sind. Empfindet euch als Vertreter der ganzen Menschheit als einen Teil von euch und handelt entsprechend.“ Das sind aufrüttelnde Worte. Sie bilden den Grundton einer Reihe von Briefen, die H. P. Blavatsky im Laufe der vier letzten Jahre ihres Lebens an die amerikanischen Theosophen richtete. Während diese Briefe außerhalb der theosophischen Kreise kaum bekannt sind, sind sie aus sich selbst heraus klassisch; erstens wegen ihres historischen Wertes, da sie während einer Zeit intensiver Aktivitat geschrieben wurden, als sich die Theosophische Gesellschaft aus einer kleinen Schar im Jahre 1875 von Amerika aus nach Europa und Asien ausgebreitet hatte; und zweitens – nicht weniger wichtig – wegen ihrer außerordentlichen Bedeutung für den gegenwärtigen Zyklus. Wenn man ihre Worte liest, hat man das Gefühl, sie wären im Hinblick auf dieses [20.] Jahrhundert geschrieben worden, so zwingend befassen sie sich mit der Notwenigkeit einer sicheren Führung im spirituellen und psychischen Umbruch unserer Tage.

H. P. Blavatsky ist die Sphinx des 19. Jahrhunderts genannt worden, und sie ist auch heute noch ein Rätsel. Dass sie viel mehr war, als sie selbst ihren nahen Gefährten zu sein schien, ist offensichtlich. Das ist Grund genug, ihre Schriften mit dem Auge der Intuition zu studieren. Ihr Lebensweg und der Aufbau ihres Werkes verliefen keineswegs glatt. Während bemerkenswerte Fortschritte gemacht wurden, mussten sowohl von HPB wie auch von der Gesellschaft schwere äußere und innere Krisen überwunden werden. Die Theosophie hatte jedoch tiefe Wurzeln in den Boden des menschlichen Bewusstseins gesenkt, so dass keine Verleumdung und kein Verrat die Kraft hatten, das zu zerstören, was zu leben bestimmt war.

Es war eine geistige Bewegung, zu der die Lehrer H. P. Blavatskys als Freunde der Menschheit in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den Anstoß gegeben hatten. Ihr Hauptanliegen war es, in der modernen Welt ein lebensfähiges Gebilde zu gründen, das widerstandsfähig genug sein würde, um in den nachfolgenden Jahrhunderten fortzuwirken. Dafür benötigten sie ein Instrument, einen Gehilfen, der bereit und fähig war, die Weisheitslehren der Zeitalter in einer vollständigeren und umfassenderen Weise zu übermitteln, als es seit Jahrtausenden möglich gewesen war. Darüber hinaus mussten sie jemanden finden und schulen, der erfüllt war mit allesverzehrender Liebe für die seelisch, körperlich und geistig Enterbten.

Diese Briefe zeigen H. P. Blavatsky in ihrem wahren Licht – als die Stimme ihrer Lehrer, die Trägerin einer Botschaft von höchstem spirituellem Wert: dass Göttlichkeit kein isoliertes, nur auf einen Christus begrenztes Phänomen ist, sondern das innere Wesen in jedem Lebensfunke im ganzen Kosmos; dass die Menschen und die ganze Natur im Wesen, im Ursprung und im Ziel eine Einheit sind; dass folglich alle Wesen durch zyklischen Wechsel und Erneuerung der Form die gleiche Möglichkeit des Wachsens und Entfaltens haben und – als Wichtigstes – dass Bruderschaft universal ist und dass alle Nationen und Rassen sie im Leben ausüben müssen, wenn die gegenwärtige Zivilisation ihre Verheißung erfüllen soll.

Als sie den ersten Brief schrieb, waren wenig mehr als ein Dutzend Jahre seit 1875 vergangen, doch schon wurden die theosophischen Ideen von Schriftstellern und Denkern aufgegriffen und bewirkten einen deutlichen Wechsel im Zeitgeist. Nichtsdestoweniger hatte die Theosophie in ihrer einfachen Reinheit noch einen „Bergauf-Kampf“ vor sich, und die amerikanischen Mitglieder wurden daran erinnert, dass die Theosophische Gesellschaft, deren erstes Prinzip universale Bruderschaft ist, gegründet wurde, um die Menscheit zu spirituellem Erwachen anzuregen, und nicht „als eine Schule, um unbedingt Nachschub an Okkultisten zu erhalten“. H. P. Blavatsky und ihre Lehrer hatten die wachsende Kraft des Transzendentalismus vorhergesehen, welcher der Welle des bloßen Phänomenalismus folgen, die kommenden Dekaden erfassen und eine spirituelle Wiederbelebung beschleunigen würde. Sie hatten erkannt, dass es für den Fortschritt eine Gefahr bedeuten würde, wenn man den sich jetzt in Amerika schnell entwickelnden Psychismus ausarten ließe und ihn nicht unter der Kontrolle der edleren Fähigkeiten des Menschen hielte. Sie erklärte, dass ethische Grundsätze, die großen moralischen Wahrheiten der Thesophie, „für die Menschheit noch notwendiger sind, als die wissenschaftlichen Aspekte der psychischen Fakten über die Natur und den Menschen“, da ihre Ausübung zu den inneren Bereichen der Seele dringt und in der ewigen Essenz verbleibt, während die alleinige Kultivierung des Psychischen von vergänglichem Wert ist.

Wie prophetisch sind ihre Worte angesichts der Auswüchse astraler und psychischer Ausschweifungen, die heute von einem begierigen Publikum gesucht werden. Sie verleiten dazu, einen Schatten des Misstrauens auf die „echten Erforscher der psychischen Wissenschaften“ zu werfen, unter denen heute eine Anzahl gut motivierter, schöpferischer Menschen zu finden sind, welche die inneren Ebenen des menschlichen Bewusstseins erforschen. Immer und immer wieder ermahnt H. P. Blavatsky ihre amerikanischen Mitarbeiter, ihre Gelegenheiten zu ergreifen und zusammenzuarbeiten, um die aufkommende Flut psychischer Sensibilität lenken zu helfen, die in dieser Entwicklungsperiode unserer Menschheit erwartet wird: damit „es schließlich gut und nicht übel ausgehen möge“.

Wenn man diese Briefe, einen nach dem anderen liest – die beiden letzten wurden genau dreieinhalb Wochen vor ihrem Tod geschrieben –, empfindet man etwas von der Dringlichkeit, welche die Mahatmas fühlten, diese erhebenden Wahrheiten in den Jahren nach 1875 wieder einmal unter Menschen aller Gesellschaftsschichten in Umlauf zu bringen. Sie wussten, dass die Ideale des Mitleids und der Einheit aller Lebewesen Zeit benötigen würden, um das Bewusstsein des 20. Jahrhunderts zu durchdringen, noch bevor die Flutwelle psychischen Interessen und psychischer Entwicklung die Menschheit überwältigen würde.Wir fühlen auch intuitiv, warum sie nach fast einhundertjähriger Suche H. P. Blavatsky als ihren Beauftragten auserwählten zur Gründung einer Bewegung, deren heilige Pflicht es sein würde, „die selbstsüchtige Grundlage des menschlichen Lebens in eine selbstlose zu verandern“.

In ihre anfängliche Wahl schlossen sie Henry S. Olcott als ersten Präsidenten ein. Ohne sein Organisationstalent und ohne seine tiefe menschenfreundliche Gesinnung bei der Schaffung eines Trägers für den dynamischen Genius H. P. Blavatskys hätte die theosophische Bemühung vermutlich nicht den Erfolg gehabt, während ihrer Lebenszeit zu einer Organisation zu erblühen, die ihren Einfluss in allen Erdteilen des Globus ausdehnen konnte. Bis zum Ende seines Lebens blieb er „der gemeinsamen Sache, der Menschheit zu helfen“, treu ergeben.

Als jedoch im Jahr 1888, als Antwort auf einen Ruf der Mitglieder und als ein Mittel, den Kern der Theosophischen Gesellschaft zu stärken, die Esoterische Abteilung gegründet werden sollte, wandte sich H. P. Blavatsky an ihren amerikanischen Bruder und Mitgründer William Q. Judge. Um diese Maßnahme und weitere Maßnahmen in Zusammenhang mit den Ereignissen ihrer letzten Lebensjahre verständlich zu machen und auch, um den Hintergrund für die Briefe selbst zu liefern, hat der Archivar der Theosophischen Gesellschaft (Pasadena), Kirby Van Mater, einen historischen Überblick erstellt. Um bestimmte herausragende Elemente der Geschehnisse während des Aufbaustadiums der Gesellschaft zuverlässig aufzuzeigen, hat er die Dokumente mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Damit enthüllen die Tatsachen selbst den kraftvollen Fluss der Inspiration, der die Anstöße für die theosophischen Anstrengungen durch HPB gab.

Es war nicht einfach, die Wahrheiten, für die andere in vergangenen Zeiten gestorben waren, in eine von Dogmen besessene Welt zu bringen. Eben das hat H. P. Blavatsky jedoch erreicht. Seit ihren Tagen haben Generationen von Theosophen aus dem Heroismus und Opfer H. P. Blavatskys Mut geschöpft und es freiwillig auf sich genommen, einen Teil der Verantwortung des Zeitalters zu übernehmen: das mentale und spirituelle Klima des Bewusstseins der Welt zu verändern und zu verbessern. Durch ihre Treue und Wahrnehmungsfähigkeit lebt die von den Adepten im Jahr 1875 eingeleitete Bemühung weiter. Und die lebenspendenden Wahrheiten, die sie erneut ausgaben, werden heute von einer wachsenden Zahl von Suchern begehrt, die nach einer Philosophie fragen, die inspiriert und ständig herausfordert.

GRACE F. KNOCHE

15. Juni 1979
Pasadena, Kalifornien