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Tausend Lichter entzünden

tausend_lichterIn Worten großer Klarheit und Wärme vermittelt Tausend Lichter entzünden eine universale Perspektive der zentralen Fragen der menschlichen Existenz, indem das Werk praktische Einsichten über das tägliche Leben und spirituelles Wachstum zur Verfügung stellt. Die Autorin präsentiert die grundlegenden Ideen des spirituellen Erbes der Menschheit, indem sie eine gedankenvolle Kritik religiöser und -wissenschaftlicher Sichtweisen und gegenwärtiger Praktiken im Licht der Theosophie darbietet und appelliert damit an unsere Verantwortlichkeit als Partner in einer Einheit, die bis in den Kern jeder einzelnen Wesenheit hinein reicht. Dadurch stellt die Autorin dar, wie wir mit Würde, Sinn und Mitleid leben können, in welchen Umständen auch immer wir leben mögen.

„Wenn eine ausreichende Anzahl von Männern und Frauen nicht nur an ihre -Intuition glauben, sondern ihr auch folgen und ihr Schicksal mit der Sache des Mitleids verbinden, gibt es allen Grund darauf zu vertrauen, dass unserer Zivilisation eines Tages der Sprung aus der Selbstzentriertheit gelingen wird – in aufrichtige Brüderlichkeit in jeder Phase der menschlichen Unternehmung.“

Grace F. Knoche ware von 1971 bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 Leiterin der Theosophischen Gesellschaft -Pasadena und Herausgeberin der Zeitschrift Sunrise –Theosophische Perspektiven.

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Grace F. Knoche
Tausend Lichter entzünden
Eine theosophische Vision

Originalausgabe:
To Light A Thousand Lamps
Theosophical University Press Copyright © 2001
Post Office Box C, Pasadena, Kalifornien 91109-7107, USA
www.theosociety.org

Alle Rechte vorbehalten
© Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, 2011
www.theosophie.de

ISBN 978-3-940866-70-7

Den Spuren der Weisen aus hundert vergangenen Generationen folgend, säe ich die wundervolle Saat Tausender künftiger Jahre.

– I-TSING, buddhistischer Gelehrter aus China, 7. Jahrhundert


Vorwort

Legenden und schriftlich überlieferte Traditionen zeugen von einer durch alle Zeiten bestehenden Bruderschaft über den gesamten Globus verstreuter Männer und Frauen. Sie schwingen mit den spiritualisierenden Impulsen, welche die Erde aus höheren Regionen erreichen. Dass sie sich untereinander erkennen, hängt nicht von äußeren Zeichen ab, sondern von innerer Gemeinschaft. Das traf auch auf I-tsing zu, der hunderte buddhistische Sanskrit-Texte ins Chinesische übersetzte, und auf seinen Mitarbeiter Chēng-ku. Als sie sich begegneten, erschien es ihnen, als würden sie sich ‘aus früheren Tagen’ kennen, und nachdem sie mit der Größe ihrer Mission vertraut waren, sagte Chēng-ku zu I-tsing:

Wenn Tugend der Tugend begegnen möchte, vereinigen sie sich selbst ohne jeden Vermittler, und wenn die Zeit reif ist, kann niemand das verhindern, selbst wenn er es wollte.

Soll ich also ernsthaft vorschlagen, unsere Tripitaka1 gemeinsam mit dir zu verbreiten und dir dabei zu helfen, tausend Lichter zu entzünden?2

Wenn Tugend der Tugend begegnet – wie könnte man die Erfahrung intuitiven Erkennens besser beschreiben? Vielleicht kann das zumindest teilweise das globale Erwachen erklären, das jetzt dort geschieht, wo Tausende Männer und Frauen mit unterschiedlichen Interessen und aus unterschiedlichen Verhältnissen wissentlich oder unwissentlich auf der gleichen Wellenlänge sind: Sie sind von dem Drang entfacht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Menschheit von sinnloser Selbstzerstörung zu wohlüberlegter Selbsterneuerung zu führen. Sie arbeiten für den Schutz der Menschenwürde und des Selbstwertes, für den Schutz unseres Planeten und für den Aufbau einer neuen Art von Zivilisation, die auf der Bruderschaft allen Lebens und der freudigen Zusammenarbeit alle Völker und Rassen zum Wohl der gesamten Menschheit beruht.

Gleichzeitig befinden wir uns in einer Periode großer Unsicherheit, in der alles, was die Menschen am meisten schätzen, auf die Waagschale gelegt wird. Werden wir individuell und kollektiv die Einsicht und den Mut aufbringen, die Umwandlung von Egozentrik zu einer Perspektive planetarischer und solarer Dimension zu bewerkstelligen? Tatsächlich geschieht dies bereits im Stillen – gleich dem unter der winterlichen Schneedecke keimenden Samen. So wollen wir – statt uns auf das Hässliche und Vergiftende in menschlichen Beziehungen zu konzentrieren – die Freude des Lebens feiern. Vom Wunder der Geburt zur stillen Schönheit des Todes – beides Phasen des Lebens – ist alles Veränderung, Wechsel, Fließen, Ebbe und Flut. Das Ausatmen des Göttlichen bringt Welten, Menschen, Atome und Sonnen aus dem Unbekannten ins Sichtbare, was jedem Einzelnen ermöglicht, ein wenig von seinem Potenzial zum Ausdruck zu bringen. Sobald der Zyklus vollendet ist, folgt das Einatmen, Einrollen oder Zurückziehen der Lebensenergie, und das Abwerfen der Formen entlässt das Bewusstsein wieder in die weiten etherischen Reiche.

Es gibt kein Gift, gegen das die Natur nicht ein Gegengift bereithält. So wie uns wissenschaftlicher Einfallsreichtum mit den Mitteln zur Auslöschung unserer eigenen Rasse ausgestattet hat, so bieten uns heutige Bemühungen, die wissenschaftliche Intuition des Westens mit dem mystischen Denken des Ostens zu vereinen, Werkzeuge für unsere Emanzipation – wenn wir das Herz und den Willen besitzen, sie für wohltätige Zwecke zu benutzen. Nehmen Sie zum Beispiel die Vorstellung, dass das physische Universum einem Hologramm gleicht, bei dem das dreidimensionale Bild aus jedem beliebigen Teil des Negativs projiziert werden kann: Das ist äußerst suggestiv, besonders wenn es auf den Menschen als eine spirituelle Intelligenz angewendet wird. Darüber hinaus stellt es eine auffallende Parallele zu der einst weltweiten Weisheitslehre dar, dass jeder Lebensfunke das Ganze umfasst.

Durch verschiedene Metaphern führt ein altes buddhistisches Sutra vor Augen, dass jedes Wesen und Ding an der Buddha-Essenz teilhat. In einem Beispiel stellt es ein Bild des Ur-Buddha (Ādi-Buddha) auf einem tausendblättrigen Thron dar – jedes Blütenblatt ein Universum, das einhundert Millionen Welten umfasst, von denen jede ihrerseits ihre eigenen Sonnen und Monde und kleineren Buddhas von der Entwicklungsstufe des Gautama hat, der selbst „ein winziger Teil“ der ursprünglichen Buddha-Essenz ist. Somit enthält jedes Sandkörnchen auf gleiche Weise „zahllose Buddhas“.3

Es verwundert nicht, dass die Menschen die Zeitalter hindurch Götter als Rassen von Wesen verehrt haben, deren Verpflichtungen gegenüber ihren Erdenkindern – den unreifen Göttern – sie dazu zwangen, so lange unter den jungen Menschheiten zu verweilen, bis diese auf eigenen Beinen stehen konnten. Ihr Schutz wird niemals enden: Karmische Verbindungen des Mitleids und der Verantwortung wurden in lange vergangenen Evolutionszyklen geschmiedet. Auch wir sind durch unzerreißbare Bande mit Naturreichen verbunden, welche jünger sind als unser eigenes, und werden ihnen auf ähnliche Weise durch karmische Notwendigkeit in zukünftigen Zyklen durch Ansporn und Liebe helfen.

Wenn wir den Gedanken weiterverfolgen, erahnen wir etwas davon, was das Opfer eines Gautama oder Jesus für uns heute bedeutet. Das christliche Dogma des stellvertretenden Sühneopfers verbirgt eine tiefe esoterische Tatsache: Die göttliche Sorge, die einen Bodhisattva oder Christos veranlasst, sich auf Erden zu verkörpern, ist wahrlich eine stetige Segnung. Das bedeutet, dass die Menschheit jetzt wie eh und je der Begünstigte der andauernden altruistischen Arbeit ist – nicht nur der Erleuchteten, die sich periodisch unter uns verkörpern, sondern auch der Liebestaten von unzähligen Menschen, die bewusst oder unbewusst andere dazu inspirieren, ihre eigene Flamme des Mitleids zu entzünden.

In jedem Zeitalter und unter jedem Volk werden jene geboren, für welche die Angelegenheiten des Denkens und des Geistes von höchster Wichtigkeit sind. Beinahe von Geburt an scheinen sie von einem inneren Kompass geführt zu werden, um die verborgenen ursächlichen Quellen der menschlichen Existenz aufzuspüren und zu lernen, wie sie wirksam helfen können, die Last der menschlichen Sorgen zu erleichtern. Vielleicht werden sie erneut von einer Suche belebt, die sie in alten Zeiten in früheren Leben begannen. Sicherlich gibt es ein mystisches Wissen, das zur Seele spricht – eine Wohltat, die jenen gewährt wird, die sich durch ein Leben der Hingabe an die Wahrheit und die Bedürfnisse der Menschheit qualifiziert haben. Unter vielen Namen in verschiedenen Zeiten bekannt, wurde diese göttliche Weisheit durch die Jahrtausende treuhänderisch von Generationen von Weisen weitergegeben, die durch Initiations-Erfahrung die Tatsachen des Daseins geprüft hatten. Eine Schlüsselfigur im gegenwärtigen Erwachen war Helena Petrovna Blavatsky, die all jene inspirierte, welche empfänglich dafür waren, ‘die schöne Saat’ der theosophischen Weisheit weithin für künftige Generationen auszubringen.

Am Beginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends wird dieses Studium dargeboten – in tiefer Dankbarkeit für HPB und für das, was ihr Opfer und die wunderbare Philosophie für die Welt und die Autorin bedeuten.

– G. F. K.

The Theosophical Society
International Headquarters
Pasadena, Kalifornien, USA
11. Juli 2001

Danksagungen

Jedes Buch stellt die Bemühungen vieler Menschen dar, und ich möchte meine Dankbarkeit jedem einzelnen Mitglied des Stabs in der Redaktion und Druckerei zum Ausdruck bringen. Ganz besonders danke ich Eloise Hart für das erste Zusammentragen des Materials, von dem vieles ursprünglich in Sunrise erschienen ist, Sarah Belle Dougherty für ihre redaktionelle Unterstützung und für den Index, Jean B. Crabbendam für die Korrektur des Index, Elsa-Brita Titchenell für unschätzbare Hilfe beim Durchsehen, Jim und Ina Belderis für die Prüfung der Zitate, Randell Grubb für seine ständige Hilfe und für das Heraussuchen der Referenzen und Will Thackara für seine geschätzte Kritik und die Überwachung der Herstellung des Buches.

– G. F. K.


1 – Was ist Theosophie?

Es gibt eine Weisheitstradition, die einst universal jedem Volk auf dem Angesicht des Globus bekannt war – ein gemeinsamer Schatz der Inspiration und Wahrheit, aus dem die Erlöser und Wohltäter der Menschheit schöpfen. In verschiedenen Epochen unterschiedlich bekannt als immerwährende Philosophie, als die Gnosis des griechischen und des frühen christlichen Denkens, als esoterische Tradition oder die Mysterienlehren des Heiligtums, ist es diese Gottes-Weisheit, die Jesus mit dem Fischervolk Galiäas teilte, Gautama mit dem Fährmann und dem Prinzen, die Plato in Briefen und Dialogen, in Fabeln und Mythen unsterblich machte. Heute wird die moderne Darstellung dieser Weisheit Theosophie genannt.

Was ist Theosophie? Das Wort ist griechischen Ursprungs, von theos, „Gott“, und sophia, „Weisheit“, mit der Bedeutung: „Weisheit, die göttlichen Dinge betreffend“. Als Begriff hat es eine ehrwürdige Geschichte und wurde von den neuplatonischen und christlichen Schriftstellern vom 3. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. ebenso wie von den Kabbalisten und Gnostikern benutzt in ihrem Versuch zu beschreiben, wie das Eine zu den Vielen wird, wie das Göttliche oder Gott sich in einer Reihe von Emanationen durch alle Naturreiche manifestiert. Es wurde während des Mittelalters und der Renaissance verwendet, und Jakob Böhme wurde aufgrund seiner Vision des Menschen als Mikrotheos und Mikrokosmos der teutonische Theosoph genannt.

Das Wort theosophia wird auch mit Ammonius Sakkas von Alexandria in Verbindung gebracht, der im 3. Jahrhundert n. Chr. seinen Schülern ein theosophisches System oder eine Schule des Denkens enthüllt haben soll in dem Versuch, die scheinbar voneinander abweichenden Elemente der archaischen, damals gängigen Weisheit in dieser von Menschen wimmelnden Metropole zu einer universalen Synthese zu verschmelzen. Er hatte einen vorbildlichen Charakter und wurde aufgrund seiner göttlichen Inspirationen, die er erhielt, theodidaktos, „von Gott unterwiesen“, genannt. Ammonius forderte strengste Moralität, und obwohl von seinen Lehren und Praktiken keine Aufzeichnungen angefertigt wurden, zeichnete sein Schüler Plotin, in weiser Voraussicht für die Nachwelt, die herausragenden Lehren seines Meisters später auf. So haben wir die Enneaden oder „Neun“ Bücher des Neuplatonismus, welche in den folgenden Jahrhunderten einen tiefen Einfluss ausübten.

Später verfolgten in Europa die Kabbalisten, Alchimisten, die frühen Rosenkreuzer und Freimaurer, die Feuerphilosophen, Theosophen und andere das gleiche Ziel. Einzeln und in Geheimbünden erklärten sie, dass das Eine, das Göttliche, das undefinierbare Prinzip aus sich selbst das gesamte Universum emaniert und dass alle Wesen und in ihm enthaltenen Dinge schließlich zu jener Quelle zurückkehren. Im Besonderen versuchten sie in ihrer Zeit, der Christenheit die spirituelle Wahrheit einzuflößen, dass die mystische Einheit mit dem Göttlichen das Geburtsrecht aller ist, weil in jedem Menschen ein göttlicher Kern existiert.

Somit ist klar, dass theosophisches Streben, seine Lehre und Ausübung, keine neue Bewegung darstellt. Theosophie ist zeitlos, sie wurzelt in der Unendlichkeit der Vergangenheit genauso fest, wie sie in der Unendlichkeit künftiger Äonen verwurzelt sein wird.

Was ist diese Theosophie, die von einem Weisen zum nächsten durch unzählige Zeitalter weitergegeben wurde – von Vivasvat, der Sonne, der sie Manu erzählte, der sie seinerseits den Rishis und Sehern überlieferte, bis „die erhabene Kunst verloren war“?4 Sie ist die Kern-Inspiration der heiligen Schriften und die Weisheit, die wir aus der täglichen Erfahrung destillieren. Die Theosophie hat kein Glaubensbekenntnis, kein Dogma, keine Glaubenssätze, die akzeptiert werden müssen, weil die Wahrheit nicht etwas jenseits oder außerhalb von uns ist, sondern tatsächlich in uns ist. Nichtsdestoweniger umfasst sie eine zusammenhängende Gruppe von Lehren über den Menschen und die Natur, die auf verschiedene Arten in den heiligen Traditionen der Welt zum Ausdruck gebracht wurden.

Die moderne theosophische Bewegung nahm im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts ihren Ursprung – eine zeitgerechte Intervention, denn die vorhergehenden Jahrzehnte wurden Zeuge eines radikalen Umbruchs im spirituellen und intellektuellen Denken. Theologen und Wissenschaftler befanden sich in Verwirrung und oft in bitterem Konflikt nach der Veröffentlichung von Charles Lyells Principles of Geology 1830-33 [Grundlagen der Geologie]. Dort fand sich ein unwiderlegbarer Beweis für das immense Alter der Erde. Darauf folgte im Jahr 1859 Charles Darwins The Origin of Species by Means of Natural Selection [Der Ursprung der Arten durch natürliche Selektion] und The Descent of Man [Die Abstammung des Menschen] im Jahr 1871, in denen behauptet wird, dass der Ursprung des Menschen auf eine alte Form zurückgehe, welche sich von der Teilordnung der Catarrhini [Altwelt- oder Schmalnasenaffen, d. Ü.] getrennt habe – das rief eine Kontroverse hervor, die noch heute sehr lebendig ist. Die Archäologie revolutionierte darüber hinaus die westliche Perspektive der spirituellen Geschichte des Menschen, indem sie eine glanzvolle ägyptische Zivilisation und die babylonische Geschichte von Noah und der Sintflut, die der biblischen vorausgeht, entdeckte; außerdem begann der Orient, der für den Okzident bis 1780 ein verschlossenes Buch war, westliches Denken mit seinen reichhaltigen philosophischen Schätzen zu befreien.

Das Weltbewusstsein war reif für eine Veränderung: Auf der einen Seite hatte der zügellose Materialismus sowohl in der Theologie als auch in der Wissenschaft unabhängiges Forschen im Würgegriff, auf der anderen Seite wurden viele Menschen, die danach hungerten, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, von der Schimäre spiritualistischer Phänomene in die Irre geführt. Eine kosmische Vision des Menschen und seiner Rolle im Universum war dringend notwendig – eine Vision, die das Vertrauen in das göttliche Gesetz wiederherstellen und eine sinnvolle Erklärung der scheinbar grausamen Ungerechtigkeiten der irdischen Existenz bieten würde.

H. P. Blavatsky, eine Frau mit außerordentlichen Gaben, die durch furchtlose Hingabe an die Wahrheit und an die Ausrottung der Ursachen menschlichen Leids angetrieben war, wurde die führende Vertreterin der modernen theosophischen Bewegung. Als Vertreterin einer langen Reihe von ‘Botschaftern’ der universalen Gottesweisheit streute sie elektrifizierende Ideen in die Gedankenatmosphäre der Welt, innovative Ideen – Ideen, die das Denken der Menschheit revolutionieren sollten. Die Hauptidee war, dass wir eine Einheit sind. Sie förderte die Untersuchung und das Studium des spirituellen Erbes aller Völker, um den Irrglauben auszurotten, irgendeine Rasse oder ein Volk sei das ‘auserwählte’, welches die wahre Religion und den einen und einzigen Gott habe. Sogar eine flüchtige Prüfung anderer Glaubenssysteme erweitert unseren Horizont. Es ist eine spannende Erfahrung, den gleichen goldenen Faden zu erkennen, der jede Tradition durchzieht – ob eine religiöse, philosophische oder sogenannte primitive; wir empfinden sofort Sympathie, Empathie mit allen, die diese Wahrheiten besitzen und hegen. Allein das führt zu einer Einheit, zu einem Gefühl des Verständnisses, zu einer Verknüpfung des Schicksals.

Unter der Leitung und Inspiration und mit Hilfe ihrer Lehrer schrieb HPB 1888 The Secret Doctrine (Die Geheimlehre). Unter Verwendung einer Anzahl alter Strophen aus dem Buch des Dzyan, die „einem sehr alten Buch“ entstammen, das in keiner modernen Bibliothek zu finden ist, entfaltet sie ein wunderbares Panorama, das die Genesis und das evolutionäre Schicksal unseres Sonnensystems, der Erde und ihrer Lebensformen umfasst. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht nur Körper sind, dem eine Seele und ein Geist hinzugefügt sind. Im Gegenteil, wir sind nach demselben Muster aufgebaut wie der Kosmos – eine Wesenheit mit sieben Prinzipien, deren Qualitäten von den physischen bis zu den hoch etherischen und göttlichen Eigenschaften reicht.

Jeder Mensch ist eine Miniatur-Kopie dessen, was die Sonnen und Sterne sind – in Tempeln aus Materie wohnende, lebendige Gottheiten. Wir haben eine ebenso lange Pilgerfahrt hinter uns wie vor uns: eine mit langen Erfahrungszyklen erfüllte Vergangenheit, welche die Seele für ihren gegenwärtigen Status reifen ließ, und eine Zukunft unbegrenzter Möglichkeiten, in deren Verlauf wir aus unserem Menschsein zum vollkommenen Glanz der Göttlichkeit evolvieren werden. HPB erhebt keinen Anspruch darauf, die Urheberin dieser Lehren zu sein; sie übermittelte vielmehr in einer gegenwärtigen Sprache eine „ausgewählte Anzahl von Fragmenten“ aus den esoterischen Aufzeichnungen.

Bevor sie ihre Kommentare zu den Strophen des Dzyan beginnt, lädt HPB uns zur Betrachtung einiger „fundamentaler Grundsätze ein, welche dem gesamten Gedankensystem zugrunde liegen“ (SD, 1:13; GL 1:42), auf welchen die heilige Wissenschaft des Altertums und der religiösen und philosophischen Schulen der Welt gründen. Auf das Essenzielle reduziert, sind das folgende:

1) Dass es ein ewiges, allgegenwärtiges, unveränderliches Prinzip gibt, das nicht definiert werden kann, da es „jenseits von Raum und Reichweite des Gedankens“ ist – und doch emaniert oder fließt aus ihm alles Leben hervor. Die Theosophie hat für dieses Prinzip keinen Namen, außer es als JENES zu bezeichnen – das Unendliche, Unerschaffene, die wurzellose Wurzel, die ursachlose Ursache. Diese Formulierungen sind lediglich eine Bemühung, das Unbeschreibbare zu beschreiben – die Unendlichkeit der Unendlichkeiten, die grenzenlose Essenz des Göttlichen, die wir nicht definieren können. Kurz gesagt: jene wunderbare ursprüngliche Essenz, welche die Genesis die Finsternis über der Urflut bezeichnet – jene Finsternis, die zu Licht entfacht wurde, als die Elohim auf die Wasser des Raumes atmeten.

2) Dass Universen wie „manifestierende Sterne“ erscheinen und verschwinden in Gezeiten von Ebbe und Flut – ein rhythmisches Pulsieren von Geist und Materie, wobei jeder Lebensfunke im Kosmos von den Sternen zu den Atomen dem gleichen zyklischen Muster folgt. Es gibt eine ständige Geburt und einen ständigen Tod, ein Erscheinen und Verschwinden dieser „Funken der Ewigkeit“, da der Rhythmus des Lebens stets neue Lebensformen für zurückkehrende Welten hervorbringt: Galaxien und Sonnen, Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralien. Alle Wesen und Dinge haben ihre Geburts- und Todeszyklen, weil Geburt und Tod die Tore des Lebens sind.

3) Dass es für alle Seelen, da sie in ihrem Herzen von gleicher Essenz sind wie die „Universale Oberseele“, erforderlich ist, den vollständigen Zyklus von Verkörperungen in den materiellen Welten zu durchlaufen, um aktiv, durch Selbstanstrengung, ihr göttliches Potenzial zum Ausdruck zu bringen.

Weshalb manifestiert sich die Göttlichkeit so viele Male und in so verschiedenen Formen? Jeder göttliche Samen, jeder Gottesfunke, jede Einheit des Lebens muss die großen Zyklen der Erfahrung durchlaufen – von den spirituellsten Reichen zu den materiellsten –, um aus erster Hand Wissen über jeden Seinszustand zu gewinnen. Er muss es lernen, indem er zu jeder Form wird, das heißt, indem er sich in ihnen verkörpert, während er seinen Lauf durch den materiellen Bogen nimmt.

Hier eine Vision, die das Herz erhebt: Die Empfindung, dass jeder Mensch ein notwendiger Teil des kosmischen Zwecks ist, bedeutet, unseren Bestrebungen, unserem Drang nach Evolution Würde zu verleihen. Der Grund für diesen großartigen „Zyklus der Notwendigkeit“ ist zweifältig: Während wir als nicht selbstbewusste Gottesfunken beginnen, werden wir, wenn wir alles erfahren haben, was in jeder Lebensform zu lernen ist, nicht nur zu einem volleren Bewusstsein der Vielzahl von atomaren Lebensformen erwacht sein, die als unsere Körper auf den verschiedenen Ebenen dienen, sondern wir selbst werden aus eigenem Recht gottgleich geworden sein.

Wenn wir die enge Beziehung dieser drei Grundsätze für uns selbst erfassen, werden wir sehen, wie alle anderen Lehren daraus hervorfließen; sie sind wie Schlüssel zu einem größeren Verständnis über Wiederverkörperung, Zyklen und Karma, darüber, was nach dem Tod geschieht, über die Ursache und die Linderung von Leid, über die Natur von Mensch und Kosmos, über das Zusammenspiel von Involution und Evolution und vieles mehr – unentwegt verfolgt die erwachende Seele die ewige Suche.

Die theosophische Philosophie ist riesig wie das Meer: „Unergründlich in seinen Tiefen, gibt es den größten Denkern weitesten Raum und ist an seinen Küsten dennoch flach genug für das Verständnis eines Kindes.“5 Obwohl ihre Wahrheiten tief in kosmologische Feinheiten reichen, durchzieht das Ganze eine schöne Einfachheit: Einssein ist der goldene Schlüssel. Wir sind unsere Brüder, ungeachtet welchen rassischen, sozialen, erzieherischen oder religiösen Hintergrund wir haben. Und diese Affinität ist nicht auf das Menschenreich beschränkt: Sie schließt jedes atomare Leben, das so wie wir evolviert, mit ein – alles innerhalb des Netzwerks von Hierarchien, die diesen pulsierenden Organismus, den wir unser Universum nennen, zusammensetzen. Sicherlich war unser großer Fehler, uns selbst als eigenständige, einem feindlichen Universum preisgegebene Teilchen zu betrachten, statt als Gottesfunken, die in der zentralen Feuerstelle des Göttlichen entzündet wurden – als im Wesentlichen eins in der Essenz, wie die Kerzenflamme eins ist mit den Sternenfeuern im Kern unserer Sonne.

Der alte Mahāyāna-Buddhist mit seiner Vorliebe für Metaphern bringt es vielleicht am besten zum Ausdruck: In Indras Himmel gibt es ein Netzwerk von Perlen, die auf eine solche Weise angeordnet sind, dass man, wenn man eine Perle betrachtet, alle anderen Perlen sich in ihr spiegelnd findet; genauso ist in der Welt alles mit allem anderen verbunden und daran beteiligt, es „ist tatsächlich alles andere“.6 Wie kommt es, dass wir Menschen, angeblich die fortgeschrittensten Bewohner der Erde, für so lange Zeit diese schöne Tatsache ignoriert haben, besonders wenn es kaum eine Rasse oder ein Volk, einen Klan oder einen Stamm gibt, von der entferntesten Vergangenheit bis zur Gegenwart, die dieses Wissen nicht gehegt haben?

Natürlich ist die Anerkennung des Prinzips der universalen Bruderschaft verhältnismäßig einfach im Vergleich damit, sie zu leben. Jeder von uns hat mitunter Schwierigkeiten, harmonisch mit sich selbst zu leben, ganz zu schweigen mit anderen. Vielleicht wäre ein erster Schritt, uns selbst zu akzeptieren, Freundschaft mit allem in unserer Natur zu schließen und zu erkennen, dass wir so unsere niederen Neigungen gemeinsam mit unseren höheren Fähigkeiten annehmen. In dieser Akzeptanz anerkennen wir automatisch die anderen – ihre Unzulänglichkeiten ebenso wie ihre Größe. Das ist tätige Bruderschaft, denn es verscheucht jene feinen Blockaden, die uns davon abhalten zu empfinden, dass wir alle Einheiten der einen menschlichen Lebenswoge sind.

Bereits das Thema unseres Einsseins mit der Natur hat das heutige Denken und den modernen Lebensstil revolutioniert. Wieder einmal beginnen wir, uns als Teilnehmer in einem Ökosystem kosmischer Dimension zu erkennen. Wir entdecken, dass wir, die Beobachter, nicht nur das Objekt, das wir beobachten, sondern die Gesamtheit der evolvierenden Wesenheiten maßgeblich beeinflussen. Vor allem erkennen wir – wenngleich bisher nicht ausreichend –, dass wir eine Menschheit sind und dass das, was Sie oder ich tun, um jemandem zu helfen, allen wohltut, womit wir eine widerhallende Saite der andauernden Symphonie anschlagen, die wir gemeinsam komponieren. Obwohl die Last unserer Unmenschlichkeit tatsächlich schwer wiegt, muss sich das Universum über die kleinste Regung von Mitleid in der Seele selbst eines einzigen Menschen freuen.


2 – Evolution

Wer ist der Mensch? Ein Gott im Prozess der Entstehung oder eine biologische Variante, ein Zufallsprodukt des Lebens in einem Kosmos, der ansonsten bar intelligenter, empfindender Wesen ist? Wie sonderbar, dass wir unsere Abstammung vergessen haben sollen, wenn wir aus dem Samen der Göttlichkeit entsprungen sind und unsere Seelen jeweils ihrem „Geburtsstern“ zugewiesen sind, wie uns Plato in seinem Timaios erzählt (§§ 41-2), und dass es kein einziges Atom in den Weiten des Raumes geben soll, das nicht ein mit Leben und dem Willen zu Wachstum begabter Bewusstseinspunkt ist. Haben wir vergessen, dass wir Götter sind, die momentan in menschlichen Tempeln beheimatet sind? Dass unser Schicksal mit dem jedes anderen Menschen verknüpft ist? Dass wir tatsächlich gemeinsam Teilnehmer in einem kosmischen Entfaltungsprozess sind, der uns gleichermaßen mit den Atomen unseres Körpers, mit den Bahnen der Sterne und ebenso mit dem Herzen der Unendlichkeit verbindet? Wie G. de Purucker schrieb:

Leben ist endlos, es hat weder Anfang noch Ende; und ein Universum unterscheidet sich im Wesentlichen keineswegs von einem Menschen … Betrachtet die Sterne und Planeten: Jeder von ihnen ist ein Lebensatom7 im kosmischen Körper, jeder von ihnen ist der organisierte Wohnort einer Vielzahl kleinerer Lebensatome, die die leuchtenden Körper, die wir sehen, aufbauen. Überdies, jede funkelnde Sonne, die den Himmel schmückt, war zu irgendeiner Zeit ein Mensch oder ein dem Menschen entsprechendes Wesen, das in gewissem Grade Selbstbewusstsein, intellektuelle Kraft, Bewusstsein, spirituelle Vision und einen Körper besaß. Die Planeten und die Myriaden von Wesenheiten auf diesen Planeten, die solch einen kosmischen Gott, einen Stern oder eine Sonne umkreisen, sind jetzt die gleichen Wesenheiten, die in längst vergangenen kosmischen Manvantaras [Manifestationszyklen] die Lebensatome dieser Wesenheiten waren.

Quelle des Okkultismus, 1: 132-133

So gibt es zwischen Galaxien und Menschen auf allen Ebenen eine intime und fest geschmiedete Beziehung: Wenn – gemäß der Astrophysik – die chemischen Atome unserer physischen Konstitution im Innern der Sterne gebildet werden, sind dann nicht die Lebensatome unseres Denkvermögens und Geistes jenen der Götter verwandt, welche die Sterne als ihre Körper benutzen? Aus der Finsternis des Chaos und der Leere kommen die Firmamente der Sterne, die Sonne, der Mond und die Planeten hervor – und auch der Mensch, dessen Körper aus dem Staub der Sterne geformt und dessen Geist aus den Gottheiten geboren wurde, die ihm Leben gaben. Worauf sonst sollte sich die Kabbala beziehen, wenn sie sagt, dass jene, die auf die göttlichen Dynastien folgten, gleich „Sternschnuppen herunterfielen“, um sich selbst „in die Schatten“ einzuschließen und unsere gegenwärtige Erde und ihre Menschheiten ihrer Bestimmung zu übergeben?8

Als das Universum ins Dasein trat, war das Menschenreich nur eines von verschiedenen Familien von Monaden (Gr. monas, eins, einzig), individuellen Lichtatomen oder göttlichen Funken, welche die Reiche der Materie zu einem großen Zweck betraten. Wir bestehen während des Manvantaras oder Weltzyklus – nicht unsere Körper, nicht unser Denkvermögen, sondern im monadischen Kern unseres Wesens, das von unserer einzigartigen Essenz geprägt ist. Es ist diese monadische Essenz, welche die Zyklen von Geburt und Tod umspannt, die unser reinkarnierendes Ego dazu drängt, sich wieder und wieder zu inkarnieren, um seine innewohnende Qualität immer weiter hervorzuevolvieren. Mit anderen Worten, weil unsere göttliche Monade Erfahrung aus erster Hand gewinnen muss, erweitert und vertieft sie periodisch ihre Wahrnehmungen, indem sie jede Lebensform ätherischer und materieller Substanz belebt, die ihr entlang ihrem evolutionären Weg begegnet; die ganze Zeit über entfacht sie die Lebensatome der vielfältigen Konstitution, die sie als Mittel zu ihrer Bereicherung zu immer vollständigerem Bewusstsein benutzt.

Als Monaden sind wir also bereits durch viele verschiedene Lebensphasen evolviert und haben vor Zeitaltern im Mineralreich Form angenommen. Als wir die Erfahrungen der mineralischen Welt ausgeschöpft hatten, verkörperten wir uns als Pflanzen, in einer Vielfalt von Bäumen und Blumen; und als wir im Pflanzenreich keine passenden Ausdrucksformen mehr fanden, wurden unsere Monaden Leben um Leben im Tierreich geboren, in allen Arten tierischer Körper. Schließlich war die göttliche Essenz in uns bereit, die Verantwortung des Menschseins auf sich zu nehmen und zu wissen, dass wir denkende Wesen sind. Von der Flamme des Denkvermögens entzündet, zogen wir als wahre Menschen hinaus, teils erleuchtet, teils durch materielles Verlangen geblendet.

Am Anfang trugen wir „Gewänder aus Licht“, wie es die Kabbala formuliert; aber als wir den materiellen Bogen hinabstiegen, kleideten wir uns in immer schwerere „Häute aus Fellen“, bis wir alle unsere Lichtquelle verdunkelten. Wir waren wie aus unserer göttlichen Heimat verbannt und hatten vergessen, wer wir sind und was unser Zweck ist. Wir waren (und wir sind) so in äußere Dinge verstrickt, dass wir uns und unsere Hoffnungen und Träume eher mit Äußerlichkeiten als mit dem inneren Leben identifizierten.

Nach dem Mahābhārata, dem großen Epos Indiens, haben wir gerade den Mittelpunkt des Lebens von Brahma oder – wie es die theosophischen Lehren ausdrücken – den niedersten Punkt des evolutionären Bogens durchlaufen und den Aufstieg zum Spirituellen begonnen. Das bedeutet, dass wir als ein Lebensstrom von Egos den Nadir überschritten und – wie langsam unser Fortschritt auch immer erscheinen mag – den Prozess begonnen haben, unsere Gewänder der Blindheit, der Materie abzulegen.

Als wir auf dem evolutionären Bogen herabstiegen („herab“ und „hinauf“ werden aus Mangel an besseren Wörtern gebraucht), zogen wir – weil es notwendig war – mehr und mehr materielle Atome an uns, um geeignete Körper für die immer materielleren Welten aufzubauen, in denen wir leben würden. In jedem Menschenleben erkennen wir dieses Ereignis in einem kleineren Maßstab. Ein werdendes Kind zieht instinktiv Atome des Lebens, der Energie, an sich, um seinen Körper aufzubauen. Wenn sein Denkvermögen zu erwachen beginnt, ergreift es begierig alles, was ihm in den Weg kommt – nicht selbstsüchtig, sondern weil es für sich selbst die Lebensatome sammeln muss, um zu wachsen. Der Drang, für sich etwas zu ergreifen, setzt sich fort, bis der Körper erwachsen ist – obwohl die Neigung oft länger bestehen bleibt, als sie sollte. Wenn das geschieht, kann die Wachstums-Strömung mental und psychologisch egozentrisch und selbstsüchtig werden. Die Zeit wird kommen – wenn die Zyklen ihren Lauf vollenden –, in der die Menschenfamilie gemeinsam mit der Erde und ihren Reichen ihre physischen Körper abstreifen und erneut die Gewänder des Lichts, in die sie ursprünglich gekleidet waren, enthüllen wird.

Es gibt nur ein Muster in der Natur, einen Zweck im Blickfeld: die Erweckung der Materie durch die Flamme des Geistes. Solange das Hauptaugenmerk auf das Hervorbringen materieller Vehikel gerichtet ist, bleibt das Spirituelle rezessiv, im Hintergrund. Sobald die Aufbauarbeit von Vehikeln abgeschlossen ist, übernimmt die explosive Energie des Spirituellen das Kommando, seine strahlende Kraft wird intensiviert. Wir alle sind radioaktiv: Atome, Felsen, Menschen und Sterne. Eine Supernova, die ihre Materieteilchen hinausschleudert, entlässt einen donnernden Lichtausbruch weithin in den Raum; geradeso bringen wir, jedes Mal wenn wir das Eisen unserer Natur in die strahlende Essenz des Spirituellen verwandeln, die Gedankenwelt weit und breit zum Leuchten. Es mag nur ein Schimmer sein, von uns selbst nicht wahrgenommen, aber Licht ist Licht, und wo es auch immer scheint – es erhellt die Finsternis. Wenn wir schließlich den Gipfel des Evolutionsbogens erreichen, werden wir unser vollständiges Potenzial aus dem Innern evolviert haben. Wir werden auf Erden wandelnden Göttern gleich sein, die alles gelernt haben, was dieser Planet uns lehren kann. Das Ende unserer irdischen Erfahrung wird gekommen sein und wir werden in eine lange Ruhe eintreten.

Aber nicht für immer – es gibt eine stetige Ebbe und Flut, Ende und Anfang, den Tod von alten Welten und alten Erfahrungen und das Zur-Geburt-Bringen von neuen Welten, neuen Erfahrungen. Während die Zyklen voranschreiten, wird unsere menschliche Lebenswoge oder Familie von Monaden eine Verkörperung auf anderen Planeten oder in anderen Sphären suchen, bis wir alles gemeistert haben, was es in unserem Sonnensystem zu wissen gibt. In der weit entfernten Zukunft werden wir Menschen zu Sonnen geworden sein, jede mit ihrer eigenen Familie von Wesen, während unsere gegenwärtige Sonne vielleicht der Tempel eines noch größeren solaren Wesens sein wird. Tatsächlich „beeinflussen wir ständig das Schicksal der zukünftigen Sonnen und Planeten“, und wenn wir unsererseits zu Sonnen geworden sein werden, „dann werden die Nebel und die Sonnen um uns herum die evolvierten Wesenheiten sein, die jetzt unsere Mitmenschen sind. Infolgedessen werden die karmischen Beziehungen, die wir miteinander auf Erden haben, … mit Sicherheit ihr Schicksal ebenso beeinflussen wie unser eigenes“.9 Ein überwältigendes Ineinandergreifen karmischer Bindeglieder unter allen Monaden-Familien – von atomaren zu sternenhaften und darüber hinaus!

Die Folgerungen sind tiefgreifend: Geradeso wie wir Menschen nach langen Verbindungen mit Tieren, Pflanzen und Mineralien eng in deren Lebenszyklus eingebunden sind (kein reiner Segen, denn ganz beiläufig beuten wir unsere jüngeren Brüder aus), geradeso sind die Götter, da sie während der gestaltenden Periode unter uns lebten und arbeiteten, für immer mit uns verbunden – ihr Einfluss und ihr Schicksal sind unwiderruflich mit unserem verknüpft. Gegenseitige Verantwortung und Unterstützung erscheint als dominierendes Motiv in der Ökonomie der Natur.

Eine solche Perspektive bietet eine sehr unterschiedliche Betrachtungsweise des Menschen und seiner Ursprünge im Gegensatz zu den Kreationisten, die eine wörtliche Interpretation der Genesis unterstützen, und auch im Gegensatz zu den Evolutionisten, deren Mehrheit den Homo sapiens als ein evolutionäres Produkt aus dem Stamm der Affen oder Menschenaffen betrachtet. Wie es oft der Fall ist, scheint die Wahrheit irgendwo in der Mitte zu liegen. Gemeinsam mit den meisten Religionen stimmt die Theosophie mit der Vorstellung überein, dass der Mensch und alle Naturreiche „nach dem Bild des Göttlichen“ geschaffen sind – ein Funke der Gottheit ist der Quell und Ursprung jeder Lebensform. Die Theosophie erkennt genauso die Gegenwart eines geordneten evolutionären Fortschritts, von geringerer zu größerer Evolution – nicht zufällig, sondern durch intelligente bewusste Vermittler geleitet.

Charles Darwin war ein bemerkenswert begabter Mann mit tiefem religiösem Empfinden, aber doch war er – bei allem Respekt für seine spekulativen Theorien, besonders jene über den Ursprung des Menschen – erstaunlich unwissenschaftlich bei der Darlegung seines Arguments, dass das menschliche Säugetier den Affen und Menschenaffen auf der Leiter der Abstammung folgte.10 Der Stammbaum vom Protozoon zum Menschen zeigt bei unvoreingenommener Betrachtung etliche Lücken auf der Stufenleiter der Lebewesen – zu viele fehlende Glieder. Es existiert kein fossiler Beweis für die Behauptung einer „geraden Abstammungslinie“ von den Amöben über die Affen zu Menschenaffen und zum Homo sapiens.11

Weitere scharfsinnige Fragen wurden gestellt. Der Kessel der Debatte treibt eine „wachsende Zahl von Evolutionsspezialisten an, zum Zeichenbrett zurückzukehren: zu den Grundmustern und -formen in der Natur“.12 Sie beginnen von Null und lassen die Mosaiksteinchen hinfallen, wo sie wollen, so dass sie vielleicht entschlüsseln können, was ist, und aufdecken, was nicht ist. Es ist nicht unser Ziel hier, über verschiedene neue Evolutions-Hypothesen zu berichten oder Interpretationen für Fossilien zu liefern, die zurzeit untersucht werden. Es genügt, eine provokative Behauptung des verstorbenen finnischen Paläontologen, Björn Kurtén, anzuführen:

Der Mensch stammt nicht von den Menschenaffen ab. Es wäre korrekter zu sagen, dass die Menschenaffen und Affen von den frühen Ahnen des Menschen abstammen. Der Unterschied ist real: Bei den in Betracht kommenden Merkmalen ist der Mensch primitiv, die Menschenaffen und Affen sind spezialisiert.

Not from the Apes, S. vii

Diese Behauptung stimmt – so weit sie reicht – mit dem theosophischen Modell überein, obwohl das von HPB und Purucker dargelegte ein gutes Stück weiter geht. Sie halten fest, dass Affen und Menschenaffen Sprösslinge oder Nachkommen des Menschen sind, die als Ergebnis einer Reihe von Rassenmischungen entstanden, das heißt der Paarung von Menschen mit Tieren; und dass dies in den sehr frühen Stadien der rassischen Erfahrung der Menschheit auftrat, bevor die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier scharf gezogen worden ist.

In Man in Evolution, einer Kritik der Evolutionstheorien, welche die Wissenschaftler seit Darwin bis zum Jahr 1930 vertreten hatten, analysiert Purucker die biologischen und anatomischen Beweise und zeigt, dass die physische Gestalt des Menschen zweifellos weitaus primitiver ist als jene der Affen oder anderer Primaten. Da die Wissenschaftler niemals irgendwelche anatomischen Charakteristika finden konnten, die sich zurückentwickelten, sondern immer nur vorwärts gerichtete, sind offensichtlich die primitivsten Gestalten die ältesten; und da die Körper der Affen und Menschenaffen anatomisch deutlich spezialisierter oder weiter evolviert sind als menschliche Körper, müssen sie nach dem Menschen gekommen sein.

Statt nach fossilen Verbindungsgliedern Ausschau zu halten, legt Purucker nahe, dass das wahre fehlende Bindeglied in der wissenschaftlichen Theorie jenes des Bewusstseins ist, das dynamische Element hinter der Evolution der Formen, menschlicher und anderer; außerdem dass der Mensch der Ursprung war, der Stammvater und die Quelle aller niedrigeren Arten als er selbst. Kurz gesagt, er führt den Menschen auf einen Prototypen oder ursprünglichen Stammvater zurück, der existierte, als die menschliche Rasse eine halb-ätherische oder astrale Form besaß, aus der im Laufe der Zeit viele Zellen abgeworfen wurden. Diese abgeworfenen Zellen entwickelten sich später entlang ihren individuellen Linien, um die niederen Arten zu bilden.

Es ist paradox, dass seit dem Erscheinen von The Descenct of Man die meisten Wissenschaftler und die Allgemeinheit Darwins Hypothesen als Tatsachen akzeptierten, statt sie – wie er gehofft hatte – als Theorien zu betrachten, die im Lichte weiterer Forschung getestet und bewiesen oder widerlegt werden müssen. Das Ergebnis ist, dass sich die materialistische Lebensbetrachtung verfestigte und uns einen sehr schlechten Dienst erwies, besonders durch die Vorstellung, dass wir bloß evolvierte Affen sind. Richtigerweise erheben die Kreationisten Einwände dagegen, aber ihre Vision des Menschen ist gleichermaßen beschränkt durch ihre dogmatische Haltung. Wir müssen uns selbst veranschaulichen, wie wir wirklich sind – Gottheiten, die seit vielen Äonen alle Arten von Körpern belebten. Sicherlich benutzten wir in früheren Verkörperungen – als Monaden – zweifellos Fisch-, Reptilien- und Vogelgestalten, bevor wir uns in der Form eines Säugetiers verkörperten. Und wenn wir tatsächlich in einer früheren Erfahrungsrunde eine affenähnliche Gestalt benutzten, so bedeutet das nicht, dass wir in diesem gegenwärtigen Zyklus von den Menschenaffen abstammen. Es ist wichtig, diesen – wenn auch subtilen – Unterschied zu betonen.

Einige Anthropologen und Paläontologen haben – in einem Versuch, die vielen Anomalien der momentanen Evolutionstheorien zu lösen – die Wahrscheinlichkeit intelligenter Agenten hinter der Evolution aller Arten nahegelegt. Sie argumentieren, dass es einen lenkenden Einfluss geben muss, welcher die verwickelten und hoch spezialisierten niederen Lebensformen schützt und leitet. Selbst so können sie die plötzlichen bemerkenswerten Veränderungen, die im menschlichen Stammbaum auftraten, nicht erklären. Welche mysteriöse Tatsache, fragen sie, brachte den außergewöhnlichen Bewusstseinssprung von jenem der Tiere zum kreativen, künstlerischen und originellen Denker zustande? Wie konnte das geschehen?


3 – Die Erweckung des Denkvermögens

Auf dem gesamten Globus beschreiben Überlieferungen ein Ereignis von titanischer Bedeutung, das sich vor Millionen von Jahren ereignete: die Erweckung des Denkvermögens in der kindlichen Menschheit. Als Rasse befanden wir uns in einem traumhaften Zustand und ohne Ziel, bis wir durch dieses Ereignis von der Kraft des selbstbewussten Denkens entfacht wurden, wählen konnten und den Willen besaßen zu evolvieren. Legende und Mythos, Schriften und Tempel bewahren den Bericht dieses wunderbaren Übergangs von Gemütlosigkeit zu Selbstbewusstsein, von der Unschuld Edens zu Wissen und Verantwortung – alles aufgrund des Eingreifens fortgeschrittener Wesen höherer Sphären, die in uns „ein lebendiges Denkvermögen … und eine neue Macht des Denkens“ bewirkten.13

In den indischen Puraṇas zum Beispiel, in der Bhagavad-Gītā und anderen Teilen des Mahābhārata gibt es eine Reihe von Hinweisen auf unsere göttlichen Ahnen, die von sieben oder zehn „aus dem Denken geborenen Söhnen Brahmās“ herabstiegen. Sie haben verschiedene Namen, aber alle sind aus dem Denken geboren, mānasa, „denkend“ (von Manas, „Denkvermögen“, aus dem Sanskrit-Verbum man, „denken, reflektieren“). Gelegentlich werden sie Mānasaputras, „Söhne des Denkens“, genannt; öfter jedoch Agnishvāttas, jene, die Agni, das „Feuer“, geschmeckt haben; auch Barhishads, die für meditative oder zeremonielle Zwecke auf Kuśa-Gras sitzen; oder man bezieht sich auf sie einfach als Pitṛis, „Väter“ – alles Begriffe, welche die Tradition bewahren, dass solare und lunare Väter, Vorfahren, der frühen Menschheit das Denkvermögen und die Kraft zu wählen brachten, so dass wir Menschen unserer weiteren Evolution mit bewusster Absicht nachgehen können.

Das Erwecken des Denkvermögens in einer Menschheit wäre nicht durch eine einzige heroische Tat zu schaffen gewesen; es muss Hunderte von Tausenden, wenn nicht einige Millionen Jahre gebraucht haben, um das zu erreichen. Und die Menschen jener Periode vor der Morgendämmerung waren zweifellos so unterschiedlich wie wir heute: Wahrscheinlich waren nur wenige erleuchtet, die große Mehrheit der Menschheit befand sich im mittleren Bereich der Verwirklichung, während einigen die Motivation zur Aktivierung ihres Potenzials fehlte. Das Kommen der Lichtbringer war in der Tat ein Akt des Mitleids, und doch war es auch auf Grund karmischer Verbindungen mit der Menschheit aus früheren Weltzyklen vorherbestimmt.

Verständlicherweise rief die Entfesselung dieser neuen Macht in einer Menschheit, die bislang im Gebrauch des Wissens ungeschult war, nach Leitern und Lehrern, die den Weg weisen. Legenden und Traditionen vieler Völker berichten, dass höhere Wesen zurückblieben, um zu lehren, zu inspirieren und sowohl die Aspiration als auch den Intellekt zu hegen. Sie vermittelten praktische Fertigkeiten: Navigation, Sternkunde, Metallurgie und Ackerbau, Kräutermedizin, Kardätschen und Spinnen sowie Hygiene und auch eine Liebe für die Schönheit durch die Künste. Aber wichtiger als alles andere war, was als innerer Talisman für die folgenden Zyklen diente – tief in das Seelengedächtnis jener frühen Menschen prägten sie bestimmte fundamentale Wahrheiten über sich selbst und über den Kosmos ein.

Im Westen feilten Poeten und Philosophen Jahrhunderte hindurch an Legenden rund um Prometheus, die der griechische Poet Hesiod (8. Jahrhundert v. Chr.) aus sehr alten Quellen aufgezeichnet hatte. Unter anderen machten Aeschylos, Plato, Vergil, Ovid und in jüngerer Zeit Milton, Shelley und andere verschiedene Facetten der Geschichte unsterblich. In seinen Dialogen weist Plato oft auf eine Weisheit jenseits seiner erzählten Mythen hin und in seinem Protagoras (§ 320 ff.) erzählt er von der Begegnung des Epimetheus (Nach-Denker) mit seinem älteren Bruder Prometheus (Vor-Denker). Als der Zyklus für die Gestaltung der „sterblichen Kreaturen“ gekommen war, bildeten sie die Götter aus den Elementen von Erde und Feuer „im Innern der Erde“, aber bevor sie ans Tageslicht gebracht wurden, beauftragten sie Epimetheus und Prometheus, jedem seine angemessenen Eigenschaften zuzuweisen. Epimetheus bot an, die Hauptarbeit zu leisten, und überließ Aufsicht und Zustimmung Prometheus.

Alles ging gut, was die Ausstattung der Tiere mit passenden Eigenschaften anlangte; aber, ach, Epimetheus entdeckte, dass er alle Eigenschaften aufgebraucht hatte, „und als er den Menschen erreichte, der noch nicht versorgt war, war er schrecklich verwirrt“. Prometheus hatte nur eine Zuflucht, und die bestand darin, sich heimlich aus dem gemeinsamen Arbeitsraum von Athene, der Göttin der Künste, und Hephaistos, dem Gott des Feuers und des Handwerks, das zu verschaffen, was nötig war, um „den Menschen seinerseits auszustatten, dass er ins Tageslicht hinausgehen konnte“. Prometheus eilte zur Schmiede der Götter, wo das immerwährende Feuer des Denkens brannte. Er stahl Glut aus dem heiligen Herd, stieg wieder zur Erde hinab und erweckte das latente Denkvermögen des Menschen mit dem Feuer des Himmels. Der denkende Mensch war geboren: Statt schlechter ausgestattet zu sein als die Tiere, die Epimetheus so gut versorgt hatte, stand er nun als potenzieller Gott da, sich seiner Macht bewusst und doch auf natürliche Weise wissend, dass er von jetzt an zwischen Gut und Böse wählen und sich der Gabe, welche Prometheus gebracht hatte, als würdig erweisen musste.

Zunächst lebten die jugendlichen Menschen (wir selbst) in Frieden, aber im Laufe der Zeit wendeten viele von uns ihre Gedankenkraft selbstsüchtigen Zielen zu und befanden sich in einem „Prozess der Zerstörung“. Zeus, der unsere verzweifelte Lage beobachtete, rief Hermes zu sich und ermächtigte ihn, sich schnell zur Erde zu begeben und jedem Mann und jeder Frau „Ehrfurcht und Gerechtigkeit“ einzuflößen, so dass alle und nicht nur wenige Begünstigte an den Tugenden teilhaben sollten. Kurz gesagt, wir Menschen sind – wie ungleich auch immer in Bezug auf Talent oder Möglichkeit – gleich an göttlichem Potenzial.

Plato überliefert die schöne Wahrheit in Form des Mythos, dass Zeus im Menschen nicht nur die Saat der Unsterblichkeit ausbrachte (siehe auch Timaios § 41), sondern zu gegebener Zeit auch die Glut des Feuers zur selbstbewussten Wahrnehmung seiner Göttlichkeit entfachte – das Werk des Prometheus, dessen Wagemut und Opfer um der Menschheit willen ihn zum edelsten Helden machen.

Richtig verstanden, erzählt das dritte Kapitel der Genesis dieselbe Geschichte. Gott warnt Adam und Eva, nicht von der Frucht des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, oder sie würden sterben. Aber die Schlange versichert Eva, dass sie „mitnichten des Todes sterben werden“, denn Gott – oder vielmehr die Götter, 'Elohīm, Plural – weiß (wissen), dass, sobald sie davon essen, „ihre Augen aufgehen; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“. Sie aßen und „starben“ – als eine Rasse unvernünftiger Kinder – und wurden wahrhaft menschlich, wurden wie Götter und kannten Gut und Böse. Und hier sind wir – Götter in unserem Innersten, obwohl wir uns zum größten Teil der Tatsache nicht bewusst sind, denn das Gedächtnis für diese bedeutungsvolle Wahrheit ist verblasst.

Wenn wir uns derselben Geschichte in den Stanzen des Dzyan der Geheimlehre zuwenden, entdecken wir:

Die großen Chohans riefen zu den Herren des Mondes, der luftigen Körper: „Bringet Menschen hervor, Menschen von eurer Natur. Gebt ihnen ihre Formen im Innern. Sie [Mutter Erde] wird Hüllen aufbauen außen. Männlich-weiblich werden sie sein. Herren der Flamme auch …“

Jeder Einzelne ging an seinen ihm zugeteilten Platz: Sieben von ihnen, jeder an seine Stelle. Die Herren der Flamme bleiben zurück. Sie wollten nicht gehen, sie wollten nicht schaffen.

– SD 2:16, GL 2:17-18

So geschah es, dass sieben mal sieben Geschöpfe gebildet wurden, schattenhaft und jedes nach seiner eigenen Art. Allerdings mussten die Wesen mit Denkvermögen erst noch geboren werden. Die Väter stellten jeder das, was sie besaßen, zur Verfügung, auch den Geist der Erde. Das war nicht genug: „Der Atem braucht ein Denkvermögen, um das Weltall zu umfassen; ‘Wir können es nicht geben’, sagten die Väter. ‘Ich hatte es nie!’, sagte der Geist der Erde.“ Der frühe Mensch blieb ein „leeres, unvernünftiges“ Wesen.

„Wie handelten die Mānasa, die Söhne der Weisheit?“ Sie wiesen die frühen Formen als ungeeignet zurück; aber als die dritte Rasse hervorgebracht wurde, „die Starken mit Knochen“, sagten sie: „Wir können wählen, wir haben Weisheit.“ Einige traten in die schattenhaften (astralen) Formen ein; andere „entsendeten Funken“; wieder andere „warteten bis zur vierten“ Rasse. Diejenigen, in die der Funke des Denkvermögens voll eintrat, wurden zu Erleuchteten, Weisen, Führern und Leitern der durchschnittlichen Menschheit, auf welche der Funke nur teilweise übertragen worden war. Diejenigen, auf die der Funke nicht übertragen worden war oder wo er nur schwach brannte, waren unverantwortlich; sie paarten sich mit Tieren und zeugten Monster. Die Söhne der Weisheit bereuten: „Das ist Karma“, sagten sie, weil sie sich geweigert hatten zu schaffen. „Lasst uns in den anderen wohnen. Lasst sie uns besser belehren, damit nicht Schlimmeres geschehe. Sie taten es … Da wurden alle Menschen mit Manas [Denkvermögen] begabt.“

So brachte die dritte Rasse die vierte hervor, deren Bewohner „voller Stolz in die Höhe wuchsen“. Als der Evolutionszyklus rasch auf seinen niedrigsten Punkt auf dem Bogen des materiellen Abstiegs zusteuerte, wurden die Versuchungen immer mehr. Es wird berichtet, dass eine schreckliche Schlacht zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis tobte. „Die ersten großen Wasser kamen. Sie verschlangen die sieben großen Inseln.“ Die Söhne des Lichts wurden in der aufkommenden fünften Rasse geboren – unserer eigenen –, um ihr die nötige spirituelle Triebkraft zu geben, und „lehrten und unterwiesen sie“.14

Das Entzünden unserer intellektuellen Fähigkeiten war ein Höhepunkt in der menschlichen Evolution. Es erweckte unser Bewusstsein für alles. Wir wurden uns bewusst, wer und was wir sind – selbstbewusst. Das Wissen verlieh uns Macht: Macht zu wählen, zu denken und zu handeln – weise und unweise. Es verlieh uns die Fähigkeit, andere zu lieben und zu verstehen. Es regte die Sehnsucht an, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und zu erweitern. Der Prozess stellte uns vor die größte aller Herausforderungen: das Erwachen unserer Kräfte sowohl zum Wohl als auch zum Verderben, was in einem Kampf zwischen dem Licht und den dunklen Kräften in uns seinen Höhepunkt fand. Wenn wir das mit mehreren Milliarden menschlicher Seelen multiplizieren, verstehen wir leicht, warum es einen andauernden Konflikt von Willenskräften gab und noch gibt.

Während des dritten großen Rassenzyklus oder der Wurzelrasse blieben die Mānasaputras, die ihre Denkessenz mit dem latenten Denkvermögen der frühen Menschen vereinten, als göttliche Unterweiser mitten unter uns. Aber unweigerlich kam eine Zeit, in der diese höheren Wesen sich zurückzogen, so dass die junge Menschheit sich selbstständig evolvieren und entwickeln konnte. Sie zogen sich aus unserer unmittelbaren Gegenwart zurück, aber niemals ihre Liebe und ihre schützende Fürsorge, genauso wie eine Mutter oder ein Vater niemals müde wird, die eigenen Kinder zu lieben. Die weisen Eltern lernen, dass die größte Gabe, die sie ihren Kindern geben können, ihr Vertrauen in sie ist, dass sie es alleine schaffen können. Das ist es, was die Mānasaputras für uns taten; und was unsere Gott-Essenz ununterbrochen für den menschlichen Teil von uns tut.

Tatsächlich sind wir Mānasaputras, obwohl das Denkvermögen in seinen höheren Bereichen noch nicht vollständig in uns manifestiert ist. Dennoch bleiben die Wahrheiten, welche die aus dem Denken geborenen Söhne in unser Seelengedächtnis eingepflanzt haben, ein wesentlicher Teil von uns. Damit wir mit diesem angeborenen Weisheits-Wissen unentwegt wieder in Kontakt treten, kommen wir wieder und wieder auf die Erde: um wiederzuentdecken, wer wir wirklich sind, Gefährten der Sterne, Galaxien und Mitmenschen ebenso gewiss wie Brüder von Feld, Ozean und Himmel – ein fließendes Bewusstsein von unserem Elternstern zu Kristall und Diamant und weiter bis zu den kleinsten Lebensformen, welche die Welt der Atome beleben. Auch die verschiedenen Klassen von elementalen oder ursprünglichen Wesen dürfen wir nicht übersehen, welche die Integrität der Elemente von Äther, Feuer, Luft, Wasser und Erde erhalten.

Es mag sonderbar erscheinen, sich uns als ein fließendes Bewusstsein vorzustellen, und doch sind wir genau das. Wir betrachten unser menschliches Selbst als eine getrennte Einheit, wenngleich es tatsächlich nur eine Zelle – so könnte man sagen – des erhabeneren Wesens ist, in dem die Menschheit lebt und ihre bewusste evolutionäre Erfahrung macht. Getrenntsein ist eine Illusion. Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen allen Familien in der Natur – in dem Sinn, dass alle Wesen einen kleinen Teil von sich selbst zum Wohle der Reiche über und unter sich opfern. Es gibt einen ständigen Austausch an Hilfestellung, den wir öfter erahnen könnten, könnten wir unser Einssein mit allen verspüren. Mit einem stetigen Austausch der Lebensatome und vielerlei Arten von Energien findet ein karmisches Ineinandergreifen zwischen allen Naturreichen statt. Tatsächlich tragen wir das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich in uns und ebenso die Elementalreiche; und wir haben auch die göttlichen Reiche in uns, weil wir Götter in Menschengestalt sind. Wir überbetonen allzu oft unser scheinbares Getrenntsein.

Heute bestätigt eine erstaunliche Reihe an Beweisen, dass das Bewusstsein eins ist und dass es – während es sich auf verschiedene Arten als Stein, Pflanze, Tier und Mensch manifestiert – ein fließender Lebensstrom ist. Experimente mit Pflanzen beispielsweise deuten auf die Empfänglichkeit der Pflanzen für menschliche Gedanken und Musik hin. Wenn es eine wechselseitige Beeinflussung der Schwingung – sowohl negativ als auch positiv – zwischen Menschen und Pflanzen gibt, existiert sie bestimmt ebenso unter unserer eigenen Art. Der fortwährende Austausch von Gedankenenergien, von Gedankenatomen, zwischen uns ist nicht auf das Menschenreich oder unseren Planeten begrenzt. Wenn wir über das lebendige Netzwerk der magnetischen und seelischen Kraft zwischen uns und jedem Aspekt des kosmischen Organismus, den wir als unser Universum bezeichnen, nachdenken, fühlen wir etwas von der Größe unserer Verantwortung. Wenn wir alles, was sich in unseren persönlichen Umständen, in unseren sozialen und gemeinschaftlichen Beziehungen ereignet, aus dieser Perspektive, mit dem Auge unseres unsterblichen Selbst betrachten könnten, würden wir jeden Aspekt des menschlichen Lebens verändern.


4 – Reinkarnation

Sie und ich befinden uns auf einer langen Entdeckungsreise des Kosmos. Wir traten sie vor Äonen an, angetrieben durch den göttlichen Funken in uns, um Erfahrung zu sammeln, Kenntnis über uns selbst und über die Naturwahrheiten zu gewinnen. Um zu wachsen, zu evolvieren, legten wir Körper von allmählich zunehmender Materialität an, so dass wir aus erster Hand lernen konnten, was es mit dieser gesamten irdischen Erfahrung auf sich habe. Auch wenn wir es nicht gänzlich realisieren – da wir uns selbst und unsere Umstände oft verkennen –, beginnen wir als Menschheit zu erwachen, unsere Gewänder aus Materie, aus Blindheit, abzuschütteln und flüchtig hinter die Schleier der Erscheinungen in die Realität der Gottheit, die uns hervorbrachte, zu blicken. Und diese Gottheit ist sowohl unser Selbst als auch unser Vater im Himmel.

Reinkarnation bietet eine umfassende und mitleidsvolle Perspektive auf die Gesamtheit unseres Lebens. Welche andere Theorie kann sich mit der erhebenden Vorstellung messen, dass die Menschen im Gleichklang mit allen Naturreichen evolvierende Teilnehmer eines zeitlosen kosmischen Vorgangs sind – eines Vorgangs, der eine Aufeinanderfolge von Geburten und Toden in und für jede Lebensform miteinschließt? Sie umfasst sowohl das unendlich Große als auch des unendlich Kleine. Wer sind wir? Woher kamen wir und warum? Und welche Art von Zukunft können wir erwarten – als Individuen und als Arten? Momentan herrscht in unserem Denken große Verwirrung, vor allem weil wir uns selbst von unserer Quelle, unserer Gott-Essenz, entfremdet haben. Wir müssen mit Sicherheit erkennen, dass unsere Wurzeln tiefer reichen als dieses eine Leben und dass ein Teil von uns den Tod überdauert. Wir müssen einen Sinn im Leiden und hinter den beängstigenden Ungerechtigkeiten finden, die Kinder, Tiere und Millionen zu unschuldigen Opfern rücksichtsloser Verbrechen und sinnloser Unfälle machen, wenn es keinen offensichtlichen Grund dafür in diesem Leben gibt.

Zuverlässiges Wissen über diese Angelegenheiten, um die wir uns am meisten kümmern sollten, ist heute erschreckend wenig verbreitet, nicht weil es nicht zur Verfügung steht – es gibt einen Schatz an Lehren und praktischer Weisheit in den Weltreligionen, in Mythen, Legenden, Eingeborenen-Traditionen und Märchen –, sondern weil wir vergessen haben, wie die universalen Schlüssel anzuwenden sind, die darauf warten, weise und aus altruistischem Motiv genutzt zu werden.

Das Konzept der Reinkarnation ist natürlich sehr alt, und die zyklische Wiederkehr der menschlichen Seele zum Zweck des Lernens und der Erweiterung des Bewusstseins wurde ebenso allgemein verstanden – überall in der alten heidnischen Welt, wie es immer noch in weiten Teilen des Orients der Fall ist. Einige frühe Kirchenväter, die in platonischem und pythagoreischem Denken versiert waren, teilten die Lehre, unter ihnen Origenes, der über die Vorexistenz der Seele und ihre Wiederaufnahme der Geburt in einem Körper entsprechend seinen Verdiensten und früheren Taten schrieb; und darüber hinaus, dass schließlich, wenn Körper und materielle Dinge zugrunde gehen und verschwinden, alle Geister wieder vereint sein werden.

Über Jahrhunderte hinweg betrachtete man diese und andere Lehrthesen von Origenes als durch das Fünfte Ökumenische Konzil, das von Kaiser Justinian einberufen und im Jahr 553 n. Chr. in Konstantinopel abgehalten wurde, offiziell verurteilt und verbannt. Eine sorgfältige Prüfung des Berichts zeigt allerdings, dass weder Origenes noch seine Überzeugungen bei irgendeiner Sitzung des Konzils öffentlich besprochen wurden. Es war ein außerhalb und vor dem Konzil abgehaltenes Treffen, bei dem fünfzehn Anathemata gegen Origenes und seine Lehren ausgesprochen wurden; das erste lautet wie folgt:

Wenn irgendjemand die sagenumwobende Vorexistenz der Seele bestätigt und diese ungeheuerliche Wiederherstellung bestätigen wird, die daraus folgt: Er soll ein Anathema sein.15

Heute erscheint es uns unfassbar, dass eine Lehre, die so weit anerkannt, logisch und spirituell überzeugend ist wie die Reinkarnation, dem öffentlichen Wissen entzogen und fast 1. 500 Jahre lang unter kirchlichem Verschluss gehalten wurde. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie die Geschichte des Okzidents verlaufen wäre, wäre das Konzept der Reinkarnation ein belebendes Element der christlichen Botschaft geblieben. Obwohl es tabu war, die Lehre der Wiedergeburt der Seele von der Kanzel zu predigen, konnte der unsterbliche Gesang der Barden und Poeten durch eine glückliche Fügung nicht zum Schweigen gebracht werden, und als die Renaissance kam, gesellten sich die Philosophen zu den Poeten und sprachen und schrieben öffentlich über Anzeichen von einem oder mehreren früheren Leben. Später beteuerten die Transzendentalisten auf beiden Seiten des Atlantiks eindringlich ihre Unterstützung dieser transformierenden Idee, dieser Lehre der Hoffnung und des Trostes.

Vor dem Hintergrund der kosmischen Zyklen, der Geburt und des Todes der Sterne und der jährlichen Erneuerung der Erde mit all ihren Reichen wird die Reinkarnation als die menschliche Weise betrachtet, wie sich in einem universalen Vorgang das Göttliche in irdischen Sphären manifestiert – ‘das Wort ist Fleisch geworden’ in der christlichen Tradition – und der Logos eine Verkörperung nach der anderen in zahllosen Formen zu dem Zweck sucht, den Samenlogos, der in der innersten Essenz jeder Wesenheit wohnt, zur Tätigkeit zu bringen. Ist es nicht dies, worum sich das menschliche Abenteuer dreht: das zu werden, was wir so tief im Innern als das empfinden, was wir wirklich sind?

Während ihr Leben so dahinzieht, haben viele das Gefühl, dass es noch so viel Unerledigtes gibt, so vieles, was zum Ausdruck gebracht werden könnte, wenn nur mehr Zeit dafür wäre. Unser Körper altert, wir aber nicht. Wie natürlich es also für das evolvierende Ego ist, nach einer Ruheperiode zur Erde zurückzukehren, um in seinem Buch des Lebens neue Seiten zu füllen. Alles arbeitet zusammen, kleinere Zyklen verschmelzen mit größeren, um jeder Wesenheit das größtmögliche Wachstum zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu gewähren. Für diesen Zweck stellt die Natur immer neue Formen bereit, so dass ihre Myriaden Kinder – jedes ein Lebewesen, ein Bewusstseinszentrum, eine Monade in ihrem Herzen – ihre evolutionären Ziele verfolgen können.

Die Zellen unseres Körpers werden geboren und sterben viele Male in unserer Lebensspanne, und doch bewahren wir unsere physische Integrität; Familie und Freunde erkennen uns, obwohl unsere gesamte Fülle an Molekülen, Zellen und Atomen ständig erneuert wird. Es ist ein Wunder: Die Jahre vergehen, unser Haar wird weiß, aber wir sind immer als wir selbst erkennbar. Und warum? Weil es ein Substrat der Form gibt, einen Astral- oder Modellkörper, nach welchem der physische gebaut ist; und dieses astrale Modell ist selbst nur eine Reflexion eines inneren Modells. Man kann weiter und weiter nach innen dringen, bis man zu dem Lebenssamen gelangt, zu dem Logos in jedem Menschen, zu dem Licht des Logos, der „jeden Menschen, der zur Erde kommt, erhellt“.

Manche buddhistische Texte sprechen von Swabhava, „Selbstwerdung“: Was der unsichtbaren Essenz der Wesenheit inhärent ist, wird „selbst werden“, das heißt, es wird diese Essenz in Übereinstimmung mit seinem charakteristischen Muster entfalten. In der Genesis befahl Gott ('Elohīm) der Erde, junges Grün, Pflanzen und fruchttragende Bäume mit ihren Samen darin hervorzubringen, jedes nach seiner Art (1:11-12). Auch Paulus spricht in seinem ersten Brief an die Korinther (15:38-41) von Gott (theos), der jedem Samen seine Gestalt gibt: „Der Glanz der Sonne ist anders als der Glanz des Mondes“, ein anderer als der der Sterne, „denn auch die Gestirne unterscheiden sich durch ihren Glanz“.

Die Grundidee von Svabhāva knüpft an die vedantische Vorstellung des Sūtrātman an: Sūtra, „Faden, Kordel“, und Ātman, „Selbst“. Dieses „Fadenselbst“ oder diese strahlende Essenz verbindet nicht nur jeden Teil unseres vielseitigen Wesens – vom Göttlichen zum Physischen –, sondern verbindet uns auch mit der Totalität unserer Vergangenheit. Wie viele Leben müssen wir gelebt haben? Wir wissen es nicht; aber wenn wir überhaupt an die Unsterblichkeit des Spirituellen glauben, haben wir ein Gespür für die Unendlichkeit der sowohl hinter als auch vor uns liegenden Erfahrung. Jeder Mensch hat deshalb eine reichhaltige Reserve an unverbrauchter Kraft in sich (zum Guten wie zum Bösen), die zu irgendeiner Zeit in diesem oder einem künftigen Leben nach einem Ventil suchen wird; die Gesamtheit unseres Karmas könnte nicht in dem kurzen Interval von siebzig oder achtzig – oder zwanzig – Jahren zum Ausdruck gebracht werden.

In jedem Augenblick sind wir die Gesamtheit unserer Vergangenheit und das Versprechen der werdenden Zukunft. Eine solche Perspektive bietet ein Gefühl von Kontinuität, eine Versicherung, dass alles, was wir waren, in der Essenz in der Gedächtnistafel der Ewigkeit, auf dem Samenlogos unseres Wesens – das auf die genauen karmischen Umstände wartet, um zu aktivem Ausdruck zu gelangen – eingraviert bleibt.

HPB bezeichnet Sūtrātman, den „Faden des strahlenden Glanzes“, als unvergänglich im großen Weltzyklus, der nur während Nirvana – der großen Ruheperiode – verschwindet oder sich auflöst, wieder daraus auftaucht „in seiner Unversehrtheit an dem Tage, an welchem das Große Gesetz alle Dinge zur Tätigkeit zurückruft“.16 Das eröffnet eine wunderbare Vision. So erzählte Jesus den Juden im Tempel: „Noch ehe Abraham wurde, war ich“ (Johannes 8:58), so war die Menschheit als eine Lebenswoge von Monaden als Essenz da, als Teilchen des Göttlichen, des Lebens, des Bewusstseins – auf den zyklischen Augenblick wartend, in dem das Universum in einer neuen Geburt, in einem neuen Erblühen hervorkommen sollte. Wenn es sich manifestiert, so manifestieren auch wir uns – zahllose Samenlogoi, Lebenssamen, jeder mit seinem besonderen Charakter oder Swabhāva. Und am Ende seines aktiven Zyklus, wenn eine neue Ruheperiode beginnt, tun wir dasselbe, denn wir sind ein Teil von und eins mit allem – es gibt kein Getrenntsein. Dennoch behält jeder Funke des Göttlichen – wenngleich reabsorbiert ins Nichtsein, wenn das Drama einer Lebensperiode endet – sein inhärentes Kennzeichen der Selbstheit. Das ist sein Kennzeichen und das niemandes anderen: Der ganze Zweck seiner Existenz besteht in der Entwicklung seiner charakteristischen Essenz zur Vollständigkeit.

In welcher Beziehung steht dieses gewaltige Bild der Wiederverkörperungen von Welten und Menschen und Lebensformen zu den wissenschaftlichen Auffassungen über Vererbung? Offensichtlich existieren physische Mechanismen für die Vererbung, aber könnte der Körper ohne Verbindung mit dem Teil in uns gebildet sein, der viele Tode überdauert? In seinen Schriften geht G. de Purucker gründlich auf das Thema der Reinkarnation ein und betont, dass der Vorgang der Wiedergeburt lange vor dem Augenblick der Empfängnis beginnt. Wenn ein Individuum den Drang verspürt, wieder auf Erden geboren zu werden, wird das reinkarnierende Element magnetisch zu dem künftigen Vater und der künftigen Mutter gezogen und beginnt, ein Laya-Zentrum17 oder einen Anziehungspunkt für seine früheren Lebensatome – physische und andere – zu bilden.

Sobald die Empfängnis stattfindet, leitet es die Gestaltung seines Körpers im Schoß der Mutter. Die Mutter ist die Beschützerin, der Kanal und die Ernährerin wie auch der Vater, denn beide Eltern sorgen für den Schutz des heranwachsenden Kindes, das sich in einem sehr realen Sinn über die physische Sphäre ausdehnt. Da die hereinkommende Wesenheit allmählich ihr neues physisches Vehikel durch das Aufsammeln von Lebensatomen, die früher zu ihm gehörten, gestaltet, wird der Körper unvermeidlich den Stempel des künftigen Kindes tragen. Zur richtigen Zeit wird ein Kind geboren.18

Unsere DNS enthält einen Bericht über unsere gesamte Vergangenheit. Es könnte nicht anders sein. Dass physisch jeder Mensch einen genetischen, besonders zu ihm gehörenden Code hat, bestätigt die theosophische Lehre, dass jeder von uns sein eigenes Karma ist; und außerdem, dass unser gegenwärtiger Charakter und unsere Verhältnisse in diesem Leben nicht das Produkt nur eines früheren Lebenskarmas sind, sondern des Karmas, das wir über Kalpas sonder Zahl erschaffen haben. Wir sind zeitalterlose Funken der Ewigkeit, mit einem anfang- und endlosen Schicksalsmuster, das seit Äonen im Entstehen ist. In jedem Atom unseres Wesen – von den physischen zu den göttlichen – sind uns Gedächtnis-Essenzen, was wir waren und was wir uns zu sein ersehnen, eingeprägt. Unsere individuelle DNS ist die physische Aufzeichnung unserer inneren Entdeckungen, Abenteuer und unseres Fortschritts – und auch unserer Zukunft, denn wir sind die Samen der Zukunft.

Eigentlich ist die Reinkarnation eines Menschen vor allem ein spirituelles Ereignis. Das Leben ist immer heilig. Es beginnt nicht mit der Empfängnis; seine Manifestation auf dieser Ebene mag dann beginnen, aber das Leben ist ein fortdauernder Prozess. Wir haben unsere Werte weitgehend durcheinandergebracht, weil wir so wenig darüber wissen, wer wir sind. Wir denken, dass wir als Eltern unsere Kinder besitzen und dass – weil Same und Ei sich begegnen und ein Embryo im Körper einer Mutter entsteht – die Mutter das Kind produziert. Das stimmt nicht. Die lebendige Wesenheit, die einen Fötus belebt, ist keine neue Schöpfung, frisch geprägt von Gott für nur dieses eine Leben; sie stellt vielmehr einen Wiedereintritt in das Erdenleben eines zurückkehrenden Egos oder einer Seele dar, die eine lange Reihe von Leben hatte, welche bis in die ewige Vergangenheit zurückreicht. Vor diesem Hintergrund ist Abtreibung tatsächlich sehr fragwürdig, außer um das Leben der Mutter zu retten. Wer sind wir, dass wir entscheiden wollen, die Erfahrung der Seele mittendrin abzuschneiden? Wir können sie nicht völlig abschneiden, aber wir können ihren Inkarnations-Prozess unterbrechen und tun das auch – glücklicherweise nur für eine Weile, weil es die zurückkehrende Seele, wenn nötig, immer wieder versuchen wird, bis sie ein Tor für ihre Wiedergeburt findet.

Zweifellos gibt es Augenblicke, in denen die Entscheidung extrem schwer fällt: Opfer von Vergewaltigung, von Misshandlung und Inzest erregen unsere tief empfundene Sympathie. Dennoch bleibt die Tatsache: Ein Kind, das begonnen hat, hat genauso viel Recht auf eine Chance auf dieser Erde wie jedes andere, wie schmerzlich auch immer die Umstände für es selbst und alle Betroffenen sein mögen. Niemand von uns kennt die Verknüpfungen des Karmas, die jenes Kind dazu bewegen, gerade jene Eltern und jene Umstände zu suchen, die – wenn sie intelligent und mit Liebe bewältigt werden – Kind und Eltern gleichermaßen zugutekommen.

Paradoxerweise wissen wir zu viel und zu wenig über das Mysterium der Geburt. Die moderne Technologie ermöglicht es Eltern, den heranwachsenden Embryo zu beobachten und womöglich zu entdecken, dass ihr Baby körperlich oder geistig schwer behindert sein wird. Der Gedanke entsteht instinktiv: Wäre es nicht liebevoller, das Leben des Babys vor seiner Geburt zu beenden, um ihm selbst und seinen Eltern unnötiges Leid zu ersparen? Es ist eine herzzerreißende Entscheidung; aber aus der weiteren Perspektive, die ein Wissen um Reinkarnation und Karma in sich birgt, stellt sich die Frage: Sollten wir nicht lieber dem Leben als dem Tod den Vorzug geben? Wir müssen zwischen dem unsterblichen Element und dem Körper wählen. Oftmals haben physische Behinderungen eine Signalwirkung für die Entwicklung der Seele; wir sind nicht geschult oder weise genug, den inneren Zweck der Wahl des hereinkommenden Egos für eine mentale oder physische Abnormalität zu begreifen. Ist es nicht denkbar, dass das reinkarnierende Ego das Karma eines mangelhaften Körpers für Zwecke jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit ‘wählen’ könnte?

Wenn wir darauf vertrauen, dass das Leben inhärent gerecht und mitleidsvoll ist – ungeachtet allen Anscheins und scheinbarer Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, welche die Menschen überall auf der Welt heimsuchen –, wissen wir, dass kein Kind in einer Familie oder unter Bedingungen geboren wird, zu denen es nicht gehört. Im Prinzip ist es recht einfach, dem zuzustimmen. Und doch – wenn unser höheres Selbst ein Kind in unser Heim einlädt, das schwer behindert ist, mental, physisch oder psychisch, ist es vielleicht zunächst schwierig, sich nicht betrogen zu fühlen. Es gibt Tausende, wahrscheinlich Millionen dieser ‘besonderen’ Kinder, aber das deutet keineswegs darauf hin, dass sie spirituell behindert sind. Wenn wir die weitreichende Sichtweise annehmen können, werden wir erkennen, dass dieses Kleine uns als Eltern gewählt hat, damit wir es in seiner momentanen Feuerprobe lieben und hegen. Liebe und Zärtlichkeit bedingungslos zu geben, verlangt eine Seelengröße, welche das gegenwärtige Karma als ein Geschenk akzeptiert. Das Wunder liegt darin, dass viele Eltern nach dem ersten Schock genau das tun und Reserven von Liebe und Gelassenheit anzapfen, die sie vorher selbst nicht erahnt haben.

Diese Lehren über den Tod, die Wiedergeburt und das Kontinuum des Bewusstseinszentrums finden Anklang, weil sie direkt auf viele Aspekte unseres Lebens und unserer Beziehungen zutreffen. Wir sind Wesen mit vielfältigem Glanz, mit einer karmischen Geschichte, die weit in die Vergangenheit reicht, und mit einem sich ständig erweiternden Horizont an Gelegenheiten vor uns. Wir können es wagen, an uns zu glauben und an die Zukunft der Menschheit. Im Innern besitzen wir – was auch immer das individuelle oder globale Karma sein mag – eine Ahnenreihe an Seelenerfahrung, die sich seit Äonen im Entstehen befindet und uns gewiss einen unvorstellbaren Reichtum an Qualität und Macht schenkt, der in künftigen Zyklen noch entfaltet werden muss.


5 – Der Tod: ein Tor zum Licht

Unsere Vorstellung über uns selbst – ob wir nur ein Leben haben, um zu erblühen, oder ob wir eine unbegrenzte Zukunft haben, in der wir unsere verborgenen Stärken und Talente hegen können – wird unsere Lebensanschauung tief beeinflussen. Die Menschen sehnen sich oft nach Bestätigung ihrer Intuition, dass es eine mitleidsvolle Ordnung gibt, einen harmonischen und gerechten Zweck hinter allem.

Jeder Mensch kennt den Tod in der Familie und unter Freunden, lange Krankheit oder schmerzlichen Kummer, der sich einstellt, wenn ein Kind oder ein Freund das Opfer einer psychischen oder mentalen Erkrankung wird. Eine Philosophie, welche die Reinkarnation miteinbezieht, die individuelle moralische Verantwortung und das Versprechen eines immerwährenden Wachstums an Liebe und Weisheit betont, hilft gewaltig. Denn wenn der Tod kommt, plötzlich oder nach langem Warten, trifft er uns nicht völlig unvorbereitet mit einem fast erschreckenden Gefühl, verraten worden zu sein, als ob das Schicksal uns einen schweren Schlag versetzt hätte. Wir wären nicht menschlich, würden wir den Verlust und die Einsamkeit nicht tief empfinden, aber in der Stille tritt eine innere Ruhe und tiefe Gewissheit ein, dass „alles gut ist“.

Der Tod ist nicht länger das tragische Ende eines Lebens; er ist wahrhaftig ein offenes Tor zum Licht – sowohl für diejenigen, die sich auf der Reise ans ‘andere Ufer’ befinden, als auch für jene von uns hier, die wir mit unserem Leben weitermachen müssen. Wie wenig wissen wir über jene mysteriösen Regionen, in die unser Bewusstsein in der Nacht während des Schlafs und für eine weit längere Zeitperiode nach dem Tod des Körpers eintritt. Und doch folgen wir diesen kreisförmigen Bahnen, als würden wir magnetisch zu ihnen hingezogen, geradeso wie Vögel Tausende Kilometer entlang magnetischen Strömungen zurücklegen. Auf ähnliche Weise finden wir Menschen selbst nach Wanderungen in den inneren Reichen der Natur, die vielleicht Hunderte oder sogar Tausende von Jahren dauern, mit untrüglicher Sicherheit unseren Rückweg zur Erde.

Den Schlaf nehmen wir bereitwillig an, dankbar für unsere nächtliche Ruhe; aber für den Tod empfinden wir anders. Intellektuell erkennen wir ihn vielleicht als den Weg der Natur zur Wiederherstellung ihrer Lebenskräfte, so dass die Befreiung der Seele von einem schmerzenden und gealterten Körper ein Segen ist und es ohne periodische Veränderungen der Form keine Kontinuität des inneren Wachstums geben könnte. Und doch ist das Eintreten des Todes immer ein Schock: Wir fühlen uns von einer Macht gefangen, die unser Fassungsvermögen übersteigt; wir fühlen seine Unumkehrbarkeit, fühlen, dass alle Hoffnung geschwunden ist in der Konfrontation mit dem unausgesprochenen Gedanken. Dennoch werden wir gnädig von einem tiefen Frieden aufrechterhalten, von einem Hereinfließen an Stärke, von einer Atmosphäre stiller Gewissheit, dass die uns mit dem Geliebten verbindenden Bande so unsterblich sind wie das Herz des Seins.

Wir neigen dazu, unserem Leben auf Erden eine absolute Bedeutung zu geben, wenngleich es in Wirklichkeit nur einen Teil unseres sich entfaltenden Schicksals darstellt. Wie der Aśvattha-Baum in Indien, der angeblich im Himmel wurzelt und dessen Zweige und Blätter abwärtswachsen, haben wir Menschen unsere Wurzeln in unserer göttlichen Monade, deren Licht sich in unserer spirituellen Intelligenz, unserer mental-emotionalen Natur und sogar in unserem physischen Körper widerspiegelt.

Um klarer zu erfassen, was mit uns nach dem Tod geschieht, müssen wir erst etwas über die uns zusammensetzenden Elemente und ihre Rolle in unserem Leben und nach dem Tod verstehen. Paulus’ Einteilung des Menschen in Geist, Seele und Körper ist grundlegend und nützlich in Bezug auf andere Denksysteme, welche den Menschen verschiedentlich als aus vier, fünf, sieben und sogar zehn Facetten oder Prinzipien zusammengesetzt klassifizieren. Diese Facetten in der Natur des Menschen sind nicht voneinander isoliert. In dem siebenfältigen System beispielsweise ist jede Facette selbst siebenfältig und enthält jeweils die Aspekte aller anderen. Wir könnten genauso leicht die fünffältige Einteilung annehmen – in Monaden absteigender Qualität mit ihren entsprechenden Hüllen oder Vehikeln des Ausdrucks; oder auch eine vierfältige Aufzählung wie in der Kabbala, drei ‘Atem’ von allmählich steigender materieller Qualität, die sich alle durch eine ‘Hülle’, unseren physischen Körper, manifestieren.

In theosophischen Schriften wird allgemein die siebenfältige Einteilung genutzt, die Prinzipien (mit ihren Sanskrit-Namen) sind hier aufgelistet, mit dem höchsten beginnend:

Göttlichkeit – Ātman, „Selbst“, oder unsterbliche Monade.

Geist – Buddhi, „erwachte Intelligenz“, der Schleier von Ātman: die Wahrnehmungsfähigkeit, die ein Buddha vollständig erlangt hat.

Denkvermögen – Manas, in seiner Funktion dual: das höhere Manas ist mit den beiden höchsten Prinzipien vereint und bildet die spirituelle Individualität (Ātman-Buddhi-Manas); das niedere Manas wird zu Kāma hingezogen, dem „Wunsch“-Prinzip, und manifestiert sich als die gewöhnliche Persönlichkeit (Manas-Kāma).

Wunsch – Kāma, „Liebe, Wunsch“, wenn es vom höheren Denkvermögen (Buddhi-Manas) beeinflusst wird, manifestiert es sich als Aspiration; wenn es von der Persönlichkeit (Manas-Kāma) ohne jeden Einfluss des höheren Elements benutzt wird, manifestiert es sich in aggressiver Selbstsucht oder unkontrolliertem Verlangen, oft von zerstörerischer Natur.

Lebenskraft – Prāṇa, die „vitalen Atem“ – aufgezählt als fünf, sieben oder mehr –, die durch unsere Konstitution zirkulieren und das physische Leben erhalten.

Astral- oder Modellkörper – Linga-Śarīra, der „Kennzeichen- oder Charakterkörper“; das Modell oder die astrale Matrix, nach welcher der physische Körper gebildet ist.

Physischer Körper – Sthula-Śarīra, der „feste oder grobe Körper“, das physische Vehikel oder Instrument, das der vollständigen siebenfältigen Wesenheit die Manifestation ermöglicht.

Um die Beziehung dieser sieben Facetten zu unseren Erfahrungen nach dem Tod zu verstehen, müssen wir zuerst erkennen, dass der Tod nicht bloß deshalb eintritt, weil der Körper müde oder erschöpft ist. Der Tod geschieht vor allem, weil der höhere Teil die Seele zu sich zieht und dieser Aufwärtszug so stark ist, dass der Körper nicht standhalten kann. Das Leben wird sozusagen für die höheren Zwecke der Seele eingezogen. Geburt und Tod sind die Tore des Lebens – Episoden in der Reife des reinkarnierenden Elements, und daher werden beide Vorgänge, Tod und Geburt, in der letzten Analyse von unserer göttlichen Quelle angetrieben.

Die zahlreichen Geschichten von Individuen, die beinahe ertrunken sind, sterbenskrank waren oder für ‘tot’ erklärt und dann wiederbelebt wurden, zeigen die vielfältige Beschaffenheit der menschlichen Konstitution und dass es für den Körper möglich ist, untätig zu bleiben, während Seele/Denkvermögen/Bewusstsein eine Zeitlang zurückgezogen werden. Manche hatten das Gefühl, lebendig zu sein, über dem Körper zu schweben und ihn unter sich liegen zu sehen. Einige wenige haben sich später genau erinnert, was die Ärzte und Schwestern während ihres scheinbaren Todes sagten und taten; die meisten von ihnen berichten, wie sie die Ereignisse ihres Lebens rasch in einer Rückschau vorbeiziehen sahen. Solche Nahtoderfahrungen sind eine anschauliche Bestätigung der theosophischen Lehre über die ‘panoramische Vision’, welche Denken und Seele als Folge des Loslösens zu der nachtodlichen Reise haben. Nicht alle, die eine Nahtoderfahrung machen, sind sich irgendeiner Sache abseits des Gewöhnlichen, das ihnen widerfahren ist, bewusst, aber diejenigen, die eine gewisse Erinnerung an das, was sie ‘gesehen’ haben, behalten, kehren gewöhnlich mit einer festen Entschlossenheit zurück, ihr durch diese zweite Chance gegebenes restliches Leben würdig zu gestalten.

Im Schlaf bleibt der goldene Faden zwischen allen Teilen unserer Konstitution intakt, während er beim Tod reißt. Bei einem Nahtoderlebnis wird der Faden nicht durchtrennt, so dass sogar – selbst bei einem mehr oder weniger langen Zurückziehen – das Bindeglied zwischen den Prinzipien nicht unterbrochen wird. Das bedeutet, dass das Individuum seinen Körper reanimieren kann und dies gewöhnlich auch tut, und dann geschieht scheinbar ein Wunder: Ein für tot gehaltener Mensch kehrt zum Leben zurück. Wäre der Faden gerissen, wäre der Tod eingetreten.

Theosophische Schriften sprechen von zwei, manchmal von drei panoramischen Visionen unterschiedlicher Intensität: Eine wird von dem Sterbenden in den letzten Momenten des physischen Lebens durchlaufen und setzt sich dann für eine Weile nach dem physischen Tod fort; eine zweite, weit verschwommenere tritt kurz vor dem Hinübergleiten in einen himmlischen Traumzustand (Devachan) auf; und eine dritte beim Verlassen des Traumzustands während der Rückreise zur Erde.19 Das ermöglicht es dem Individuum, die einfache Gerechtigkeit von allem, was während des gerade beendeten Lebens geschah, unverzerrt ‘zu erkennen’, in friedlicher Verfassung in ihren himmlischen Traumzustand einzutreten und bei ihrer Rückkehr zur Erde in groben Umrissen eine rasche Vorschau auf das, was geschehen wird, zu erleben, bevor der Vorhang des Vergessens fällt.

Wenn schließlich der Tod eintritt und die Seele von ihren physischen Ketten losgelöst ist, zieht sich der Strahl der göttlichen Monade zu seinem Elternstern zurück, während unsere spirituelle Monade entlang den planetarischen Sphären wandert. Was den Körper betrifft, so verteilen sich seine Atome und gehen in ihre entsprechenden Naturreiche, wo sie ihren eigenen Kreisläufen folgen. Das macht unseren ‘ersten’ Tod aus. Nach einer kurzen unbewussten Periode in der Wunschwelt (Kāma-Loka) tritt die menschliche Seele in eine temporäre Phase der Reinigung ein, währenddessen sie ohne Maske vor ihrem höheren Selbst steht und die Gerechtigkeit von allem erkennt, was sie erfahren hat. Ein Vorgang der Trennung von kürzerer oder längerer Dauer – abhängig von dem zuvor erzeugten Karma – führt zu einem ‘zweiten’ Tod, bei dem alles, was in dem Charakter schwer und materiell ist, abfällt und die feineren Essenzen des reinkarnierenden Egos frei werden, um von der spirituellen Monade absorbiert zu werden. Für die meisten von uns – Durchschnittsmenschen, die weder sehr gut noch sehr böse sind – wird unser Übergang in Kāma-Loka relativ leicht verlaufen.

Nach der zweiten panoramischen Vision während des ‘zweiten’ Todes geht das reinkarnierende Ego in Devachan ein – die elysischen Felder der Griechen –, wo es wieder und wieder in einem traumartigen Zustand die Erfüllung seiner edelsten Gedanken und Aspirationen erfährt. Die Wiederholung dieser idealisierten Träume hat den vorteilhaften Nebeneffekt, dass auf der Seele ein Eindruck des höheren Lebens haften bleibt, dessen Atmosphäre in das nächste Erdenleben hinübergetragen wird. Unterdessen reist die spirituelle Monade, in sich die träumende Ego-Seele tragend, entlang den planetarischen Sphären, um ihre eigenen höheren Abenteuer zu bestehen. Die alten Römer wendeten die Grabinschrift wirkungsvoll an, um das alte Wissen lebendig zu erhalten: dormit in astris, „er schläft unter den Sternen“; gaudeat in astris, „er frohlockt unter den Sternen“; und spiritus astra petit, „der Geist fliegt zu den Sternen“.

Wenn die das Devachan ermöglichenden Energien erschöpft sind, findet eine dritte panoramische Vision statt, eine rasche Vorschau in groben Zügen, nicht im Detail – ein flüchtiger Blick, so dass die hereinkommende Seele die Gerechtigkeit und das Mitleid der karmischen Bedingungen, welchen sie begegnen wird, erahnen kann. Während sie sich der Erde zuwendet, zieht sie aus dem großen Reservoir der Natur jene Lebensatome an, die sie in der Vergangenheit in sich selbst integrierte; mit ihnen gestaltet sie erneut die Seelen und Körper, die sie in dem kommenden Leben gebrauchen wird. Diese Lebensatome werden zu uns hingezogen, weil sie zu uns gehören; in früheren Leben hatten wir unser Siegel all den Leben aufgeprägt, die jede Facette unserer Konstitution zusammensetzen.

Diese Ideen erscheinen vielleicht abstrakt, wenn wir von schwerer Krankheit betroffen sind und wenig dagegen tun können. Es mag gewisse erleichternde Maßnahmen geben, die wir treffen können, aber wo es keine bekannte Heilmöglichkeit gibt, müssen wir versuchen, der Erfahrung mit größtmöglicher Würde und Tapferkeit, die wir aufbringen können, zu begegnen. Wenn wir ein Gespür für die umfassendere Sichtweise haben und überzeugt sind, dass jedem Leben ein göttlicher Zweck innewohnt, ist schon allein das eine riesige Hilfe in der Konfrontation mit einer solchen Krise. Es ist besonders dann eine Hilfe, wenn wir einem anderen, der seine private Hölle durchmacht, beistehen und erkennen müssen, dass wir wenig oder nichts tun können, um es ihm leichter zu machen. Dies ist noch schlimmer, wenn junge Menschen von lebensbedrohlicher Krankheit befallen werden und ihr Leben in ein Chaos stürzt. Natürlich muss der Mensch, der mit einem frühen Tod konfrontiert wird, sich in einem schmerzlichen Prozess darauf einstellen, und dasselbe gilt für jene, die ihn oder sie lieben.

Viele Menschen sind gerade mit solchen Herausforderungen konfrontiert, und ein Wissen um Reinkarnation verleiht den Lebenden und den Toten Würde. Wir erkennen, dass die Weise, wie wir mit zwanzig oder vierzig oder sechzig Jahren leben, die Qualität unseres Todes, unseres nachtodlichen Lebens und ebenso unsere künftigen Inkarnationen beeinflusst. Wenn wir etwas von diesem weiten Bild mit unseren Lieben teilen können, sind sie besser in der Lage, mit ihrem Karma zu arbeiten und das zu tun, wozu Mark Aurel ermahnte: „Nur klein noch ist der Rest deines Lebens. Lebe wie auf einem Berg.“20 Es liegt eine Würde in der menschlichen Seele, die in diesen Stunden der Prüfung das erlangt, was ihr zusteht. Sogar dort, wo sehr schwierige Phasen durchzumachen sind, ist es unermesslich hilfreich zu wissen, dass unsere Leben ein natürlicher Teil des Schicksals sind, welches wir alle seit der Morgendämmerung der Zeit, die uns genau für diesen Augenblick vorbereitet hat, weben. Es erweist sich als beiderseitig heilend, wenn wir dazu in der Lage sind, ruhig und offen oder still mit jenen in ein Zwiegespräch zu treten, die sterben; sie finden nicht nur großen Trost, sondern wir selbst haben auf eine sehr heilige Weise Anteil an diesem Vorgang.


6 – Vergangene Leben – sich erinnern und vergessen

Die meisten von uns erinnern sich nicht an ihre vergangenen Leben oder was zwischen den Erdenleben geschah. Die griechische Mythologie erzählt uns, dass wir von den Wassern Lethes – Achtlosigkeit, Vergesslichkeit – trinken, was die Erinnerung an unsere Vergangenheit in ausreichendem Maß auslöscht, so dass wir das Erdenleben mit einer sauberen Schiefertafel betreten, auf die wir unsere Gedanken, Emotionen und Taten schreiben, welche die Qualität des künftigen Lebens bestimmen werden. Jeder von uns hat die Zeitalter über sein individuelles Schicksalsbuch geschrieben, und in dieser Inkarnation schreiben wir eine neue Seite oder ein neues Kapitel. Hätten wir ein detailliertes Gedächtnis all dessen, was wir in der Vergangenheit niedergeschrieben haben, oder wüssten wir andererseits ganz genau Bescheid über die Reihe von Ereignissen, die in der Zukunft auftreten könnten, wären wir ernsthaft behindert. Die vollständige Erinnerung an uns – und an andere – wäre eine zu schwere Last.

Wir sind noch nicht weise oder stark genug, um hinauszugehen, ohne von den Wassern des Lethe getrunken zu haben. Wäre das möglich, würden drei Schwierigkeiten auftreten: Erstens wären wir durch vergangene Fehlschläge belastet, denn sie würden wie ein dicker Schal um unseren Hals hängen; zweitens wären wir durch vergangene Erfolge belastet, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach Stolz und Eitelkeit hervorrufen würden; und drittens würden wir uns, wenn wir nichts vergessen hätten, wahrscheinlich auch der Fehler und Erfolge anderer erinnern, und das könnte in der Tat schädlich sein.

Die Menschen haben immer versucht, in die Vergangenheit und Zukunft zu schauen – nach Rat und Einsicht suchend. In alten Tagen suchten die Griechen Rat bei den Orakeln von Delphi, Trophonius, am Olymp und bei anderen Heiligtümern. Wenn das Herz rein und der Verstand geschult war, erweckten die erhaltenen Antworten innere Weisheitsquellen. Welche Kommunikationswege gab es damals zwischen den Göttern und den Menschen? Heute suchen wir – wie damals – Rat, wir suchen nach klärendem Licht auf die drängenden Probleme von Angst und Verzweiflung, die sich in langen Zeiten der Torheit, der Unwissenheit und der Habgier in Form der heutigen Verwirrung über Ideale bei uns niedergeschlagen haben.

Ach, die Wälder sind voll von Scheinorakeln, von angeblichen Priestern und Priesterinnen, welche – die Vereinigung mit dem Göttlichen zur Schau stellend – ihre unheiligen Waren dem Narren und von Emotionen Geblendeten feilbieten. Und doch ist die Verbindung zwischen Gott und Mensch möglich und wird immer möglich sein, denn die Macht, von der geheimen Quelle der Wahrheit zu trinken, ruht im Innern der Seele. Die Kenntnis darüber ist jedoch den Gefährten des Nous, des Erkenners im Innern, vorbehalten – personifiziert durch Mnemosyne, die Göttin der Erinnerungsgabe. Wer ist diese Göttin und welche Funktion hat sie?

Mnemosyne, die Mutter der Musen, ist das Gegenstück von Nous. Ihre Pflicht ist es, Psyche, die Seele, aufzurütteln, um der Wahrheit zu gedenken, so dass sie aufgrund der Erinnerung an ihren göttlichen Ursprung schließlich die Vereinigung mit Nous fordert. Unter den Relikten der orphischen Mysterien, in Gräbern in Kreta und Süditalien entdeckt, finden sich acht kleine und sehr dünne Tafeln aus Blattgold mit fein eingravierten griechischen Buchstaben. Eine dieser in der Nähe von Petelia, in der Umgebung von Strongoli, gefundenen Tafeln erzählt von zwei Quellen nahe am Eingang zur Unterwelt: der Quelle des Lethe oder Vergessens (des Namenlosen) zur Linken, jener von Mnemosyne oder der Erinnerungsgabe zur Rechten:

Einen Urquell sollst du finden zur Linken von Hades' Haus,
Und daneben eine weiße Zypresse stehend.
Diesem Urquell nähere dich nicht.
Doch einen andern sollst du finden am See der Erinnerung,
Kaltes Wasser strömt hervor und Hüter stehen davor.
Sag: „Ein Kind der Erde und des Sternenhimmels bin ich;
Mein Geschlecht jedoch ist des Himmels (allein). Das wisst ihr selbst.
Und siehe, von Durst bin ich verdorrt und ich vergehe. Gebt mir rasch
Vom kalten Wasser, hervorfließend aus dem See der Erinnerung.“
Und von sich aus werden sie dir zu trinken reichen aus dem heiligen Urquell,
Und unter anderen Helden wirst danach du deine Herrschaft bekommen …21

In diesem Hymnus wird der orphische Kandidat davor gewarnt, die Wasser des Lethe zu trinken. In einer anderen Erzählung von Pausanias, einem griechischen Reisenden und Geographen aus dem 2. Jahrhundert, trinkt der Kandidat aus der Quelle des Lethe, um „alles zu vergessen, was er bisher gedacht hat“.22 Danach genießt er die Wasser von Mnemosyne, damit er sich an alles erinnert, was er gesehen und gehört hat, denn Mnemosyne ist die „heilige Quelle“, deren Wasser für die „innerlich und äußerlich Reinen und Gesunden im Handeln und im Herzen sind und die kein schlechtes Gewissen haben“.23

Lange Perioden, vielleicht mehrere Leben, sind nötig, bevor man der Verführung des Lethe vollständig widerstehen kann. Als Hilfe dafür ruft der Kandidat die liebliche Göttin der Erinnerungsgabe an – nicht durch ein leeres Ritual, sondern im unerschütterlichen Glauben, dass Nous schließlich Psyche zur Erinnerung bewegt. Thomas Taylor (1758-1835), ein unermüdlicher Übersetzer griechischer und neuplatonischer Klassiker, veröffentlichte 1787 eine kleine Sammlung orphischer Hymnen, aus denen wir folgende wiedergeben:

An Mnemosyne oder die Göttin der Erinnerungsgabe

Die Gefährtin des göttlichen Jupiter rufe ich an,
Quelle des Heiligen, süß sprechende Neun [Musen];
Befreit von Vergessen gefallenen Denkens,
Wodurch die Seele dem Intellekt ist vereint.
Einsicht wächst und Gedanken gehören zu dir,
Allmächtig, freundlich, wachsam und stark.
Es ist an dir, zu erwachen aus lethargischem Schlaf,
Alle Gedanken ruhend im Innern der Brust;
Nichts versäumend, kraftvoll hervorrufend
Aus nächtlich finst’rem Vergessen das wissende Auge.
Komme, gesegnete Kraft, erwecke mystische Erinnerung
An heilige Riten, und Lethes Fesseln sind gesprengt.
24

Es ist bemerkenswert, dass wir im Besitz dieser Zeugnisse einer Weisheit sind, die sich an das Unsterbliche und nicht bloß an das Flüchtige wenden. Mnemosynes Pflicht ist klar: uns mit Stärke und Genauigkeit zu unserem wahren Erbe zu erwecken, auf dass wir bewusst mit der Zeitalter dauernden Aufgabe beginnen, die Bande von selbstzentriertem und auf das Materielle bezogenem Denken zu lockern. Dann können wir – besonnen teilhabend an der Quelle des Vergessens und tief aus den kühlenden Wassern des Sees der Erinnerung trinkend – voller Recht die alte Losung aussprechen:

Ein Kind der Erde und des Sternenhimmels bin ich;
Mein Geschlecht jedoch ist des Himmels (allein).

Nach dem Abstieg in den Hades kehrte der erfolgreiche Kandidat ans Licht zurück, umkleidet von den Strahlen der Dinge, die er sah und in Erinnerung hatte. Damit die unabhängigen Erfahrungen jedes Einzelnen aufgezeichnet werden konnten, wenn sie zum Beispiel beim Aufstieg aus der Grotte des Trophonius noch frisch im Gedächtnis waren, wurde von dem Neu-Geborenen gefordert, „eine Tafel zu stiften, auf der alles aufgezeichnet steht, was jeder gehört oder gesehen hat“.25 So berichtet Pausanias, was er aus persönlicher Erfahrung und auch von anderen gelernt hatte, die sich den heiligen Riten unterzogen hatten.

So viel zu dem kühnen Schüler der alten oder modernen Mysterien. Aber wie steht es mit Ihnen und mir, die wir vielleicht aufrichtige Sehnsucht nach Wissen über ungesehene Dinge empfinden? Die meisten von uns bedürfen jedoch noch des süßen Vergessens von Schlaf und teilweisem Nicht-Bewusstsein, bis wir ausreichend in Selbsterkenntnis, Urteilsvermögen und Mitleid gewachsen sind. So sehr wir auch durch selbstgemachte Bande eingekerkert sein mögen – ein Teil von uns sehnt sich danach, unsere ‘mystische Erinnerung’ an heilige Dinge zu erwecken.

Warum erinnern wir uns nicht an unsere Vergangenheit? Plato gibt uns einen Hinweis darauf in Buch 10 seines Werks Der Staat (§§ 614-21), wo er die Vision des Er erzählt. Eigentlich hatte er keine Vision, sondern er folgte bewusst den Erfahrungen seiner Seele in der Zeit zwischen den Leben. Man glaubte, Er, der Sohn des Armenius, sei getötet worden. Er lag gemeinsam mit anderen Helden auf dem Schlachtfeld, aber nach zehn Tagen, als sein Körper nicht wie die anderen Körper Zeichen der Verwesung aufwies, wurde er zur Beerdigung heimgetragen. Zwei Tage später erwachte Er auf einem Scheiterhaufen, teilte seine Vision der inneren Welten mit und offenbarte, dass die Art der Reise nach dem Tod unter den planetarischen Sphären von der Qualität der Taten eines Menschen während des Lebens hier auf Erden abhängt.

Es gab Öffnungen an der linken Seite, die abwärtsführten, erzählte er, und Öffnungen an der rechten Seite, die aufwärtsführten. Diejenigen, die ‘ungerechte’ Taten begangen hatten, gingen hinunter in die niederen Welten, nicht um für immer Qualen zu erleiden, aber lange genug, um ihre Lektionen zu lernen. Nachdem sie gereinigt waren, stiegen sie aufwärts, um den Seelen der „Gerechten“ zu begegnen, die aus den himmlischen Welten zurückkehrten, wo sie Dinge von großer Schönheit erfahren hatten. Er folgte dem Durchgang der Seelen durch die planetarischen Sphären, und auf ihrer Rückreise zur Erde kamen sie zu den Spinnerinnen des Schicksals, zu den drei Moiren oder Schicksalsgöttinnen: Lachesis, Klotho und Atropos – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie spinnen das Schicksal jeder individuellen Seele, während sie durch ihr Reich zieht. Alle wählen das Los (ihr künftiges Leben) gemäß ihren vorherigen Erfahrungen. Schließlich kamen die Seelen zu der kargen Ebene des Vergessens (Lethe), wo sie verpflichtet waren, seine Wasser zu trinken; aber diejenigen, „die nicht von Weisheit gerettet wurden, tranken mehr als nötig“.

Erklärt das nicht unseren Zustand hier auf Erden? Manche von uns tranken vielleicht zu viel von den Wassern des Vergessens und haben deshalb Schwierigkeiten zu verstehen, was das Leben bedeutet. Und ein anderer Teil von uns mied die Wasser des Lethe, so dass alte Erinnerungen uns immer noch plagen. Fühlen wir nicht mitunter die Regung einer vergessenen Weisheit? Diese Erinnerungen – wie vage sie auch immer sein mögen – führen uns zu den eigentlichen Erfahrungen in diesem Leben, welche uns daran erinnern, wer wir sind, und uns mahnen, auf unser Erbe und unser künftiges Schicksal zu achten.

In welchem Zusammenhang steht das Vergessen vergangener Leben zu der populären Praxis, Menschen rückzuführen – sei es unter Hypnose, Drogen oder durch andere Mittel, so dass der Mensch Erfahrungen ‘wieder erlebt’, die er angeblich in der Kindheit, während des vorgeburtlichen Stadiums oder, wie viele glauben, in einem früheren Leben oder in früheren Leben gemacht hat? Dutzende Bücher, die von Berichten aus ‘früheren Leben’ der rückgeführten Menschen erzählen, wurden in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht.

Es soll hier nicht die Möglichkeit abgestritten werden, dass bestimmte ‘Erinnerungen’, die unter Hypnose aufgedeckt werden, zumindest teilweise wahr und hilfreich sein könnten, sofern sie richtig interpretiert werden. Wenn jedem Teil des physischen Gehirns Erinnerungsvermögen innewohnt, wie manche glauben, so ist anzunehmen, dass seine astralen und/oder physischen Zellen in sich den Stempel unserer langen Vergangenheit tragen müssen – wie tief verborgen auch immer. Das Gedächtnis ist flüchtig. Wie viele von uns können sich auch nur die Ereignisse einiger weniger vergangener Jahre im Detail ins Gedächtnis rufen? Und dennoch gibt eine scheinbar zufällige Begebenheit, ein Klang oder Geruch, plötzlich eine Flut von Erinnerungen in unserem Bewusstsein frei.

Die Weisheit der Eingeborenen vieler älterer Völker behauptet gleichermaßen wie die theosophische Lehre, dass unser Denkvermögen bzw. unsere Seele Zugang zu verborgenen Gedächtnis-Reserven aus unserer zeitalterlangen Vergangenheit hat; weiter wird behauptet – was besonders bedeutsam ist –, dass eine lebendige, bewusste Wesenheit das Wachstum ihres zukünftigen Körpers überwacht. Dauerhafter als die unserem physischen Gehirn innewohnende Erinnerung ist jene, die von den inneren Aspekten unseres Wesens bewahrt wird. Obwohl die Erinnerung in den Lebensatomen des astralen Gehirns, dem Modell des physischen Gehirns, beheimat sein kann, haftet sie den Gedächtnis-Zellen des Charakters, dem reinkarnierenden Ego, dauerhafter an.

Die laufende Forschung auf dem Gebiet des pränatalen und neonatalen Bewusstseins gibt Anlass zur Vermutung, dass das Bewusstsein des Fötus sogar während des ersten Drittels neuronale Reaktionen darüber aufzeichnet, was ihm gefällt und was nicht, und dass es auch augenblicklich darauf reagiert, was es hört und ebenso auf unausgesprochene Gedanken und Gefühle beider Elternteile. Obwohl der Fötus als eine lebendige Wesenheit noch nicht in einem Körper wie dem unsrigen beheimatet ist, wird alles, was er erfährt, sowohl im Astrallicht als auch in seinen Gedächtnis-Zellen registriert. Das Neugeborene hat keine offensichtliche Erinnerung daran, aber Studien bestätigen, dass das Bewusstsein des zurückkehrenden Egos sich auf einer weit höher befindet, als früher vermutet.26

Das Mysterium des Gedächtnisses ist tatsächlich groß, und wir wissen sehr wenig über seine Rolle während des Lebens und nach dem Tod. Sogar ohne Rückführung ist es für ein Individuum – wenn es völlig erwacht ist – möglich, die Astral-Atmosphäre der Erde, das Astrallicht, zu ‘schauen’ und Menschen oder Ereignisse flüchtig ‘wieder zu erleben’ oder ‘ins Gedächtnis zu rufen’, die aus seiner eigenen karmischen Vergangenheit herrühren können oder nicht. Was die Rückführung anlangt, ist es ebenso möglich, dass jemand die Gedanken oder Lebenserfahrungen eines anderen Menschen ‘schaut’ oder ‘liest’. Bei so wenig sicherem Wissen auf diesem Gebiet ist es nur richtig, klug zu sein und keine handfesten Behauptungen aufzustellen. Der Vorgang der Rückführung mit oder ohne Hypnose ist für die Reinkarnation weder ein Beweis noch eine Widerlegung.

Es ist bedauerlich, dass die Popularität der Rückführungs-Praktiken zu einer wirren Vorstellung über die Lehre der Reinkarnation geführt hat – hauptsächlich deshalb, weil die Rolle der Persönlichkeit überbetont wird, der Maske, die von der sich wiederverkörpernden Monade getragen wird, wenn sie sich Leben um Leben auf Erden inkarniert. Es ist natürlich, wissen zu wollen, wer wir in unserem letzten Leben waren, aber ein solches Wissen ist zweischneidig. Sich einer Rückführung unter Hypnose zu unterziehen, nur um seinen Wissenshunger darüber zu befriedigen, wer man in einem früheren Leben war, ist moralisch und psychisch fragwürdig. Für dieses Leben reichen dessen Herausforderungen.

Wir können sicher sein, dass – ob in den Astral-Atomen unseres Gehirns oder in den höheren Elementen unserer Konstitution und auch im Astrallicht der Erde – alles, was wir sind, seit wir zum ersten Mal zu denkenden, selbst wählenden Menschen wurden, aufgezeichnet wurde und wird. Das knüpft an Platos Vermutung an, dass die Seele ihr eigenes Gedächtnis hat. In seinen Dialogen, besonders in Meno (§ 81b), spricht er vom Vorgang der Wieder-Erinnerung – nicht ein Erinnern im Sinne von Auswendiglernen, sondern von Sich-Erinnern, von wieder Hervorbringen des Gedächtnisses der Weisheit, welche die Seele früher einmal erlangt hatte. Die Seele, so betont er, hat ein Reservoir an Erfahrungen aus der Vergangenheit, und „wenn jemand tatkräftig ist und nicht schwach wird“ in seinem Bemühen, diese Weisheit ins Gedächtnis zu rufen, sich daran zu erinnern, mag plötzlich, wie ein Blitz, eine Offenbarung kommen, ein Licht, das von innen ins Bewusstsein strömt.


7 – Karma

Heute wird viel über unsere Bruderschaft mit der gesamten Natur nachgedacht, darüber, dass wir mit der Sonne, dem Mond und den Sternen genauso eng verbunden sind wie mit den Naturreichen unter uns. Es besteht ein Einssein in der Essenz jedes göttlichen Funkens im gesamten Raum aufgrund der Identität der Quelle im Unergründlichen; und doch ist jeder göttliche Funke – da er die Frucht Äonen dauernder Evolution in sich trägt – von seinem einzigartigen Siegel der Göttlichkeit geprägt. Einssein, aber mit Unterschieden – und darin liegt das Geheimnis des unendlichen Mysteriums des Lebens. Das lässt darauf schließen, dass ein riesiger Reichtum an individueller karmischer Erfahrung im Kern eines jeden von uns eingeschlossen ist. Kurz gesagt, wir sind mit allen eins in unserem innersten Selbst, und doch hat jeder Mensch seine essenzielle Qualität oder seinen essenziellen Charakter, seine individuelle Maserung sozusagen, die seine gesamte Natur durchzieht.

Die stoischen Philosophen des alten Griechenlands und Roms erkannten, dass innerhalb des Kosmos und ebenso innerhalb eines jeden seiner Myriaden Lebewesen eine kreative Kraft existiert, welche den Plan oder den Zweck in sich birgt, den ‘Grund’ für sein Wesen, was sie als den Logos bezeichneten. Für sie ist der Logos spermatikos, „Samen tragend“, und aus ihm kommt eine Schar individueller „Samen-Logoi“ in die manifestierte Existenz, um schließlich zu ihrer Quelle zurückzukehren: „Unzerstörbare Saat-Kräfte, zahllos … überall im Universum verstreut, überall formend, bevölkernd, gestaltend, vermehrend …“.27

Während seines gesamten Erdenzyklus evolviert jeder dieser Samenlogoi und schafft dadurch Karma. Dabei beeinflusst er andere Samenlogoi, die ihrerseits das Schicksal jedes Einzelnen beeinflussen. Es sind diese Zusammenhänge und Vermischungen Karmas, die unser Leben mitunter schwer verständlich machen. Probleme treten hie und da auf, weil wir Karma für etwas halten, das uns von einer äußeren Kraft auferlegt wird, von einer Art Nemesis oder fürchterlichem Schicksal, das uns befällt, wenn wir am wenigsten darauf vorbereitet sind, und das irgendwelche unbekannte Taten rächt, die in diesem Leben oder in längst vergangenen Leben ausgeführt oder unterlassen wurden. In Wirklichkeit ist Karma ein Hervorfließen unseres eigenen Selbst. Selten betrachten wir das universale Gesetz von Ursache und Wirkung aufgrund seiner stärkenden Kraft als heilend, mitleidsvoll.

Bei den frühesten Griechen war Nemesis eine Göttin, die unser Gewissen personifizierte, unsere innewohnende Angst, etwas Falsches gegen die Götter zu tun; außerdem unsere Ehrfurcht für das moralische und spirituelle Gesetz von Harmonie, von Ausgewogenheit. Wir haben vergessen, dass die Götter nicht von uns getrennt sind und dass wir eine Ausdehnung ihrer Lebensessenz darstellen. Ihre Sorge für uns ist ein innewohnender Teil unseres Wachstums-Vorgangs, vergleichbar mit unserem Schutz der atomaren Lebensformen, die in der menschlichen Hierarchie evolvieren.

Natürlich fragen wir uns, welchen Nutzen es hat, in diesem Leben für die Konsequenzen der Handlungen zu leiden, an deren Ausführung in früheren Leben wir uns nicht erinnern. Wir hielten es für fairer, wenn wir uns erinnern könnten, denn wenn wir wüssten, wo wir fehlgingen, hätten wir nichts dagegen, den Konsequenzen jetzt zu begegnen. So wäre es für uns auch leichter zu erkennen, wo wir uns bessern könnten. Wenn jedoch alles gesagt und getan ist, erinnern wir uns sehr wohl an unsere Vergangenheit, denn wir selbst sind die Vergangenheit: Wir sind das Karma, die Frucht von äonenlanger Erfahrung, die sich in der Gegenwart entfaltet. Es stimmt: Unser physisches Gehirn, das für dieses Leben neu geformt wurde, hat kaum die Fähigkeit, sich zu erinnern, aber das ist nicht alles, was wir sind. Die Persönlichkeiten, die wir Leben auf Leben annehmen, sind an einem „Fadenselbst“ (Sūtrātman) wie Perlen auf einer Schnur aufgefädelt. Während sich die Perlen oder Persönlichkeiten nur teilweise des strahlenden Selbst bewusst sind, das sie zusammenhält und aus dem sie ihre Lebenskraft ziehen, erinnert sich unser atmanisches Selbst oder Sūtrātman sehr wohl. Etwas von dem Aroma des Bewusstseins, das in jede neue Persönlichkeit hinübergetragen wird, kann in Augenblicken innerer Ruhe intuitiv verspürt werden.

Buddhistische Texte erinnern uns daran, dass die Zeit kommen wird, in der von uns verlangt wird, Wissen zu gewinnen – nicht nur über unser unmittelbar vergangenes Leben, sondern über „die Folge von Geburten und Toden“.28 Bis dahin werden wir spirituell ausreichend reif sein, um mit solchem Wissen ohne Schaden für andere oder uns selbst umzugehen, und wir werden den Segen augenblicklicher Erinnerung an die Weisheit, die uns angeboren ist, verdient haben.

All das führt zu weitreichendem Nachdenken und trägt uns über die Unmittelbarkeit gegenwärtiger Umstände hinaus zu früheren Inkarnationen, vielleicht sogar zu früheren Weltzyklen. Wir können uns keinen Beginn vorstellen, vor dem keine Ursachen in Bewegung gesetzt wurden, denn jeder göttliche Funke ist ein Bewusstsein, ein Lebewesen, das seinen individuellen Evolutionslauf seit Äonen verfolgt. Innerhalb der Gezeiten von Ebbe und Flut des Wachstums-Musters unseres Planeten haben wir Menschen eine ebenso lange Geschichte von Geburten und Toden, von Erfolg und Versagen; wichtiger noch – unser Eintritt in das Erdenleben, wo und unter welchen Bedingungen auch immer, ist ein Ausströmen unseres Karmas, die unvermeidbare Konsequenz von Ursachen, die in früheren Inkarnationen gesät wurden.

Durch das Gesetz der magnetischen Anziehung müssen wir alles, was zu uns kommt, zu irgendeiner Zeit selbst in Bewegung gesetzt haben, wissentlich oder unwissentlich. In jedem Augenblick unseres Lebens prägen wir unserem gesamten Wesen die Qualität unseres Denkens und Fühlens – edel oder niedrig – ein. Wir sind es selbst, die ihren Lebensatomen dies aufprägen, und wenn die Seele wieder und wieder zur Erde zurückkehrt, kehren auch eben diese Lebensatome zu uns zurück, um erneut unsere verschiedenen Hüllen – physisch, mental und spirituell – zu bilden. Niemand bringt eine Ernte ein, die er oder sie nicht selbst geschaffen hat – in Vorteilen und Charakterstärke für die gute Saat, in Entbehrung und Willensschwäche für Unkraut. Karma ist nicht nur für die Menschen der strenge und doch immer wohltuende Aufzeichner jeder Bewusstseinsregung, sondern ebenso für alle Wesenheiten – von atomischen bis zu makrokosmischen. Karma als einen rächenden Dämon oder einen belohnenden Engel aufzufassen, bedeutet nach Äußerlichkeiten zu urteilen. Was immer der evolutionäre Stand ist – jede Wesenheit ist ihr eigener Lipika oder „Schreiber“, ihr eigener Aufzeichner, Erwecker und Freund. So wie wir unsere charakteristische Marke auf jedem Teilchen unserer zusammengesetzten Konstitution hinterlassen, so macht es jede andere Wesenheit auch.

Jeder von uns macht Prüfungen durch, die aus den engen Grenzen eines einzigen Lebens schwer zu rechtfertigen sind. Wir sind von Gesetzen und Einflüssen abhängig, die scheinbar wenig Beziehung zu unserem persönlichen Leben haben: in ihrer Reichweite national, rassisch, global, sogar solar und kosmisch. Wenn freundliche und gedankenvolle Menschen ein grausames Schicksal erleiden, ist es schwer zu verstehen, dass sie möglicherweise in der Vergangenheit etwas schrecklich Falsches getan haben. Und wie steht es mit dem unaussprechlichen Leid von Millionen Menschen durch Hunger, Krieg oder Naturkatastrophen?

Wenn tatsächlich das eine unantastbare Gesetz im Universum Karma ist, dessen Gesicht Mitleid und dessen andere Seite Gerechtigkeit ist, dann ist es einem Individuum in der Stunde der Wahrheit unmöglich, eine Erfahrung zu durchlaufen, die nicht letztendlich aus irgendeinem Teil seiner Konstitution herrührt, die sich vom Göttlichen bis zum Physischen erstreckt. Da die Wege Karmas mysteriös sind, sind sie nicht leicht zu erkennen. Was jemandem geschieht, ist möglicherweise nicht das Ergebnis schlechter Handlungen in der Vergangenheit, sondern wird vielleicht durch das höhere Selbst für seine eigenen wohltuenden Zwecke in Gang gesetzt. Das Buch des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, bietet ein bewegendes Zeugnis für die Tatsache, dass aus der Hölle und dem Schrecken der Konzentrationslager Helden geboren wurden. Die Tortur jedes einzelnen von ihnen muss eine besonders mächtige Initiation gewesen sein.

Die Saat der Möglichkeit, dass einige wenige tragisch fehlgeleitete Menschen eine ganze Nation edler Männer und Frauen in Zustände stürzen lassen können, die normalerweise keiner von ihnen tolerieren würde, muss vor langer Zeit gesät worden sein. Seit wir mit dem Feuer des Denkvermögens ausgestattet und uns als denkende Wesen unserer selbst bewusst wurden, haben wir die Macht, zwischen richtig und falsch zu wählen. Seit Millionen Jahren sind wir verantwortlich für unsere Gedanken, Emotionen und Taten, die aus ihnen hervorgehen. Aufgrund der Macht zu wählen und aufgrund unserer bis jetzt unvollkommenen Entwicklung werden wir zwangsläufig falsche Entscheidungen treffen, besonders wenn der Zug zum Materiellen stärker scheint als der Zug zum Spirituellen.

Die menschliche Natur evolviert langsam, und heute haben wir so wie in der Vergangenheit eine Wahl zwischen selbstsüchtigen und selbstlosen Instinkten; zwischen einer Handlung zu unserem eigenen Nutzen oder zum Nutzen unserer Familie und Gemeinschaft. Mit jeder Entscheidung setzen wir Ursachen zum Guten oder Schlechten in Bewegung, die schließlich ihre Wirkungen auf uns und unsere Umgebung haben werden. Die Fähigkeit, die Vernetzungen Karmas unter Nationen zu verfolgen, würde ein Wissen weit jenseits unserer gegenwärtigen menschlichen Möglichkeiten erfordern – ein Verständnis für das weite Panorama vergangener Saaten von Nationen und Individuen in längst vergangenen Zeiten. So wie wir alle unser individuelles Karma haben und in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit geboren sind, so nehmen wir in einem bestimmten Maß an seinem nationalen Karma teil.

Wenn wir erfassen, dass Gerechtigkeit und Harmonie der universalen Natur inhärent sind und dass die Natur immer tätig ist, um ein gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen, müssen wir schließen, dass ausnahmslos jeder genau die Erfahrung erntet, die zu ihm gehört. Wenn wir von Versuchungen heimgesucht werden, die sich unserer Kontrolle entziehen, erfreut sich möglicherweise unser höheres Selbst an der gebotenen Gelegenheit, kostbare Lektionen zu lernen, das Mitleid zu nähren und vielleicht unter diesen besonderen Umständen eine stille Hilfe für Mitmenschen in größerer Not zu sein. Haben wir nicht alle, gewöhnlich nach vielen Jahren, entdeckt, dass die schwierigsten Phasen in unserem Leben dauerhafte Geschenke mit sich brachten? „Segnungen in Verkleidung“ lautet die gängige Phrase, die auf das intuitive Erkennen hindeutet, dass Sorge und Leid verborgene Schönheiten beinhalten, vor allem in unserer vertieften Liebe und unserem vertieften Verständnis für die Notleidenden.

Nachdem ich Krankheit und Tod vieler nahestehender Freunde miterlebt habe, dachte ich oft: „Wenn ich nur die Macht hätte zu heilen; wenn ich nur eine Linderung der Schmerzen bringen könnte!“ Als ich älter wurde, habe ich erkannt, dass das vielleicht nicht der weiseste und mitleidsvollste Weg zu helfen ist. Ich habe allmählich verstanden, dass der liebevollste und wirksamste Weg der Unterstützung des anderen darin besteht, ihn dabei zu unterstützen, den Mut, die Liebe und das Vertrauen zu finden, seinem Karma schöpferisch zu begegnen. Natürlich sollten wir die medizinischen Hilfsmittel nutzen, die normal verfügbar sind, aber lassen wir unserem Freund die Ehre und Würde zu erkennen, dass er die Fähigkeit hat, seinem Karma mit Verständnis zu begegnen. Sein Körper mag früher als üblich sterben, aber in der Begegnung mit seinem zu ihm gehörenden Karma akzeptiert er bewusst das Privileg, durch eine schwierige karmische Erfahrung für ein wohltuendes Ziel zu arbeiten. Es liegt ein Trost und eine Stärke sowohl für die Sterbenden als auch für die Lebenden darin, diese Haltung einnehmen zu können.

Wie können wir am besten beistehen? Indem wir uns hinsetzen und mit unserem Freund weinen? Ja, es kann Tränen geben, Tränen des Verständnisses und der Liebe, nicht des Leids und der Verzagtheit; Tränen der Erkenntnis, dass die Seele den Mut hat, einen ernsthaften Leidensweg auf sich zu nehmen in dem Wissen, dass ein großer Reinigungsprozess stattfindet, eine Klärung von Karma für die Zukunft. Es bedarf nicht vieler Worte – Worte sind oft recht unnötig. Aber es muss eine Bereitschaft geben, stark zu sein, standhaft und loyal, so dass unser Freund auf eine pflegende Stärke zurückgreifen kann, wenn er dessen am meisten bedarf.

Woher wissen wir, was die Seele durchmachen muss, um wirklich frei zu sein? Woher wollen wir wissen, dass das schreckliche Leiden, das in einem gewissen Sinn für den Zuschauenden schlimmer sein mag als für denjenigen, der es durchmacht, nicht genau das Karma ist, nach dem sich die Seele gesehnt hat? Ob des Leidens eines anderen die Schultern zu zucken, ist diabolisch und führt zu einer Verhärtung des Herzens. Eine solche Haltung bedeutet, den gesamten Zweck des Lebens zu verfehlen. Wir müssen Leiden lindern, so weit wir es können; auf jede mögliche Art müssen wir unser Mitleid und Verständnis teilen – nicht indem wir die Last von den Schultern eines anderen nehmen, sondern indem wir ihm helfen, den Herausforderungen seines Lebens mit größerem Vertrauen in sich und die erweiterte Perspektive zu begegnen und sie zu anzunehmen.

Wenn wir über die Bedeutung von körperlich, psychisch oder mental einschränkenden Beschwerden nachdenken, die oft unerschöpfliche Quellen von Geduld und Liebe erfordern, sind wir verpflichtet zu fragen: warum? Warum werden manche Menschen in einem gemarterten Körper geboren oder andere als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit zu Krüppeln? Was weist einem Menschen ein vorteilhaftes Leben zu, während sich jemand anderes, vielleicht mit reicherem Potenzial, jeden Zentimeter Weges erkämpfen muss, nur um mit einem Körper umzugehen, der auf keinen gewöhnlichen Befehl reagiert, und dann oft gezwungen ist, viel fleißiger zu arbeiten, um Seele und Geist zum Erblühen zu bringen? Millionen Menschen tragen heute eine Last privater Sorgen und fragen sich, wo die Gerechtigkeit und das Erbarmen in einem Universum bleiben, das angeblich von einem alles liebenden Gott geleitet wird. Es ist wirklich ein kaltherziger Trost für gequälte Eltern, wenn ihnen gesagt wird, es sei Gottes Wille, die Verfügung Allahs oder die Auswirkung alten Karmas.

Die Ursache und das Heilmittel von Leid reichen an den Kern des Mysteriums und werden jenseits unseres Fassungsvermögens bleiben, jenseits der Worte aller Lehren, welche die Menschheit empfangen hat, bis wir mit jedem Atom unseres Wesens das Mitleid des göttlichen Plans hinter allem Geschehen spüren können. Sicherlich kann niemand entschieden sagen, dass ein Kind, das mit einer erblichen Missbildung geboren wurde, für irgendeine Missetat aus einem früheren Leben oder aus früheren Leben bezahlt. Es mag wohl der Fall sein; aber genauso gut kann es auch ganz anders sein. Ist es nicht beispielsweise vorstellbar, dass ein zurückkehrendes Ego – denn wir sind vor allem Geist-Seelen, nicht Körper – innerlich weit genug fortgeschritten sein könnte, um das Karma einer ernsten Behinderung zu wählen, damit es tiefes Einfühlungsvermögen mit allen Leidenden gewinnt? Ist es nicht auch möglich, dass ein reinkarnierendes Ego mit dem Bedürfnis nach einer zeitweiligen Erholung von bestimmtem mentalem und emotionalem Druck für eine Inkarnation ein ‘zurückgebliebenes’ Vehikel wählt? Und ebenso könnte es sein, dass Grausamkeit und Selbstsucht im Charakter so verwurzelt waren, dass das sicherste Mittel zum Abschütteln des Fehlverhaltens darin besteht, in einem behinderten Körper geboren zu werden, damit Einfühlungsvermögen und Mitleid tief in die Seele eingebrannt werden und die Natur besänftigt wird.

„Urteile nicht, damit du nicht verurteilt wirst“ – nur wer in der Lage ist, die spirituelle Geschichte eines Individuums zu lesen, ist in der Lage zu erkennen, welche karmischen Fäden in längst vergangenen Leben aufgenommen wurden, die in eben jenen Bedingungen resultieren, die das reinkarnierende Ego selbst nun in diesem Leben zu bewältigen hat – oder nicht bewältigt. Jeder von uns hat in den Bildteppich seiner Seele Größe und Niedrigkeit eingewoben; aber wenn wir erahnen – was viele tun –, dass wir mit unserem göttlichen Ahnen verbunden sind und dass alles, was wir an Freude und Leid erfahren, ein innewohnender Teil unseres Schicksals ist, das wir über zahllose Zyklen aufgebaut haben, dann wissen wir, dass selbst in den herzzerreißendsten Umständen Angemessenheit und Schönheit existieren.

Ein mit einem Mundstück auf der Schreibmaschine geschriebener Brief einer Freundin, die seit der Geburt dem Trauma einer starken Behinderung trotzt, bestätigt das. Viola Henne verdient ihren Lebensunterhalt als Künstlerin und widmet all ihre Zeit und Energie der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die stärker behindert sind als sie. Viola kümmert sich nicht darum, was die Kinder nicht können; sie konzentriert sich auf das, was sie tun können. Auf diese Weise belebt sie ihren Willen und ihr kreatives Talent, um das hervorzubringen, was sie an Potenzial haben. Sie schreibt:

Bitte unterstützen Sie die Auslöschung der falschen Vorstellung, welche die Menschen über das Wort ‘Karma’ haben. Weder ich noch andere Behinderte werden dadurch ‘bestraft’, dass sie in kaputten Körpern (Gehirnen oder … ) leben. Nein! Sobald nämlich das eigene Bewusstsein die Illusionen fehlerhafter Erziehung übersprungen hat, ändert man vom einen Augenblick zum anderen seine Haltung zur Behinderung – ändert sie und nimmt ein für alle Mal wahr, dass die kaputte Form keine Bestrafung ist, sondern ein heiliges Privileg, wodurch einem schließlich erlaubt wird, auf einer bewussten (erwachten) Ebene zu arbeiten.

Es ist dem Tragen angemessener Kleidung vergleichbar, wenn man ‘zur Arbeit geht’ – das kaputte Vehikel ist notwendig und eine selbst auferlegte äußere Umhüllung. Unser eigener innerer Mechanismus lässt den gegenwärtigen ‘Körper’ und die momentanen Bedingungen zu, damit sie den Lehr-Lern-Bedingungen entsprechen. Jeder von uns hat in irgendeinem Augenblick für frühere Fehler im Denken oder Handeln zu ‘bezahlen’. Menschen mit fähigen Körpern sind nicht reiner als Krüppel; sie ‘bezahlen’ für ihre Fehler mittels einer anderen Ursache-und-Wirkung-Situation.

Karma – das Wort sollte erklärt werden mit der Bedeutung „Bedingungen, welche die Seele momentan als die beste Gelegenheit für das Seelenwachstum und für die Unterweisung anderer wählt“.

Eine überzeugende Antwort auf die Frage eines Menschen: „Ist das Leben gerecht?“, der sich weigerte, verbittert zu sein, und seine Begabung an Mut und Liebe allen, die der Hoffnung und des Selbstwertgefühls bedürfen, gewidmet hat. Selbst wenn das eigene Leben schwer geprüft wird, resultiert das Gefühl, diesmal ein sehr ‘schlechtes’ Karma zu haben, aus dem Festhalten an einer völlig missverstandenen Ansicht vom Standpunkt der menschlichen Seele oder des reinkarnierenden Egos aus. Purucker sagte es treffend: „Wir sind unser eigenes Karma.“ Das bedeutet, dass alles, was auf uns in Form von Charakter oder Umständen zukommt, ein Hervorfließen aus uns selbst ist – aus unserer Vergangenheit. Wenn wir oder unsere Lieben herausfordernde und schmerzliche Bedingungen durchleben müssen – schlechte Gesundheit, persönliche Rückschläge oder Ähnliches – ist das nicht ‘schlechtes’ Karma. Zugegeben, das Karma mag äußerst schwer anzunehmen sein, aber wenn es im Laufe der Zeit den Fortschritt der Seele fördert, muss es als wohltuend angesehen werden.

Das ist eine der hilfreichsten Ideen, weil sich heute viele Menschen von der Last des Lebens bedrückt fühlen. Wenn wir erkennen, dass wir unser Karma sind, dann wissen wir, dass das, was sich vor uns entrollt, wirklich wir selbst sind. Wir haben die Gelegenheit, zu lernen und zu wachsen und unsere Wahrnehmungen und unser Verständnis zu vertiefen. Während sich unsere Sympathien über die Grenzen unserer persönlichen Probleme hinaus ausweiten und wir den Humor und die Würde beobachten, mit denen andere, scheinbar weniger Begünstigte als wir ihrer Lebenssituation begegnen, entdecken wir möglicherweise, dass jene von uns, welche die größte Schwierigkeit bei der Handhabung ihrer charakterlichen Schwächen haben, die am meisten Benachteiligten sind. Ein wenig Selbstbetrachtung ist wie eine Therapie und ermahnt uns, dass wir alle gemeinsam aufsteigen und dass diejenigen, die wenig Fortschritt zu machen scheinen, vielleicht sehr wohl den Weg für sich selbst und für Nachfolgende von Hindernissen befreien, die sich sonst als unüberwindlich herausgestellt hätten.

Natürlich ist es einfach zu philosophieren, wenn man sich ziemlich guter Gesundheit erfreut und in bequemen Umständen lebt. Aber wie steht es mit den Menschen, die in Armut leben und dazu verurteilt sind, durch Krankheit oder Hunger zu sterben? Sollen wir sagen, es ist ihr Karma und sie müssen es durchleben – mit hoffentlich mehr Glück im nächsten Leben? Eine solche Haltung wäre tadelnswert. Offensichtlich ist es ihr Karma, sonst wären sie nicht mit solchen Bedingungen konfrontiert; aber wie können wir ihr Karma von unserem isolieren? Wir sind eine Familie, und jeder von uns hatte seinen Anteil bei der Gestaltung der momentanen schwierigen Umstände. Ist es nicht außerdem auch unser Karma, tief betroffen zu sein und – wenn überhaupt möglich – bei der Linderung des schrecklichen Elends zu helfen, das in so vielen Teilen unseres Globus existiert? Es liegt ein gewisser Trost in der Tatsache, dass das Weltgewissen erwacht und empfindsamer und feiner wird, so dass eine wachsende Zahl an selbstaufopfernden und gebildeten Männern und Frauen bereits ihr Leben dem praktischen humanitären Dienst widmet.

So sehr sich unsere Herzen auch danach sehnen zu helfen, so können doch viele von uns wenig im Sinne greifbarer Linderung bieten. Aber es gibt unter uns nicht einen Einzigen, der nicht daran arbeiten könnte, die tief sitzenden und seit langem wirkenden Ursachen zu beseitigen, die zur Plage der Menschheit führten. Das ist zugegebenermaßen ein sehr langfristiges Ziel, aber ist es deshalb irgendwie weniger wertvoll? In einem im Jahr 1899 geschriebenen Brief an die anlässlich des amerikanischen Konvents versammelten Theosophen zitierte HPB diese Zeilen von einem ihrer Lehrer:

„Lasst nicht die Frucht guten Karmas euer Motiv sein; denn da euer Karma, ob gut oder schlecht, mit dem der gesamten Menschheit zusammenfällt und ihr gemeinsamer Besitz ist, kann euch nichts Gutes oder Schlechtes widerfahren, das nicht von vielen anderen mitgetragen wird.“ … „Es gibt kein Glück für einen Menschen, der immer an sich selbst denkt und alle anderen Selbste vergisst.“

Und dann dieser bedeutsame Satz:

„Das Universum stöhnt unter der Last solcher Handlung (Karma) und nichts anderes als selbstaufopferndes Karma erleichtert sie.“29

Das ist provokativ. Gibt es einen einzigen Menschen, auf den das nicht zutrifft? Tatsächlich stöhnt das Universum unter der Last unserer selbstsüchtigen Handlungen und Gedanken, und wir sind es – individuell und kollektiv –, die insofern verantwortlich sind, als wir zu jener Last beitragen. Als Menschen haben wir alle bis zu einem gewissen Grad gemischte Motive; aber vor uns haben wir das große Ideal, unser Leben altruistisch zu gestalten. Das ist ein Ziel, dessen Erreichung vieler Leben bedarf, aber das Ziel ist es wert, stets in unseren Herzen lebendig zu bleiben. Wenn es in unserer alltäglichen Erfahrung zu einem dominierenden Einfluss wird, werden wir ein größeres Maß an Selbstlosigkeit als von ihrem Gegenpol zum Ausdruck bringen.

Selbstsucht behindert das natürliche Wachstum unserer Seele; sie ist dem Wachstum der Menschheit gegenüber feindselig, weil sie uns nur auf uns selbst lenkt. Demgegenüber steht ein Denken, das uns selbst nicht in den Mittelpunkt stellt. Es setzt Licht von innen frei, und das Licht, das in unsere Seele fließt, sprengt die Grenzen unserer Persönlichkeit und wirft einen Glanz auf das Leben anderer. Es ist eine Tatsache, dass jeder altruistische Impuls und Antrieb, der sich mit einem Elementalwesen verbindet, seinen Einfluss in die Gedankenatmosphäre unserer Welt aussendet und jedes Individuum, das sich in sympathischer Schwingung mit jener Qualität der Sehnsucht befindet, entsprechend antwortet. Sein Leben wird veredelt und seine Umgebung strahlt. Das gilt gleichermaßen auch für das Gegenteil, und auch dafür werden wir zur Rechenschaft gezogen.

Gleichgültig, in welche äußeren Lebensumstände uns Karma stellt – wir können uns immer daran erinnern, dass wir Seelen sind und jeder von uns sein individuelles Dharma zu erfüllen hat. Krishna erklärt Arjuna, dass das Dharma eines anderen voller Gefahren ist, und selbst wenn es nicht der edelste Weg ist, wird der Mensch ermahnt, das Dharma zu erfüllen, das zu dem Selbst (Sva-Dharma)30 gehört. Auf diese Weise wird er seinem eigenen Pfad folgen und das tun, wofür er in diese Welt geboren wurde.

Die Orientalisten haben Dharma unterschiedlich übersetzt – Pflicht, Wahrheit, Gesetz, Religion, Frömmigkeit –, aber alle diese Worte sind nur eine Annäherung, sie geben nicht den Gedankenreichtum wider, den der Sanskrit-Begriff verkörpert. Dharma – von dem Verbum dhṛi, „mit sich führen, tragen, bewahren“ – vermittelt, dass wir alle inkarnierten, ein eigenes Schicksal mit uns führten und die Wahrheit unseres eigenen inneren Wesens bewahren, während wir unsere äußeren Pflichten nach unseren besten Möglichkeiten erfüllen. Wir müssen als Erstes unser Schicksal erkennen, das im Innern liegt, nicht außerhalb von uns. Wir brauchen nicht nach Tibet, Amerika, Thailand oder Afrika zu gehen, um es zu finden. Wir sind unser Schicksal, unser Karma, unser individuelles Dharma.

Es gibt so viel Fehlgeschlagenes in unseren menschlichen Beziehungen überall auf der Welt, dass es wahrscheinlich viele Zeitalter brauchen wird, um die Dinge ins Lot zu bringen; zweifellos haben wir eine ziemlich hohe karmische Rechnung gegen uns angehäuft, die ausgeglichen werden muss. Aber wir sollten nicht die andere Seite des Schuldenbuches übersehen, die in diesem und in vergangenen Leben gemachten edleren Einträge. Wäre es nicht möglich, dass die Intensität des globalen und individuellen Leidens und der Verwirrung der Werte ebenso auf ein karmisches Erwachen zurückzuführen ist, eine Anregung unseres höheren Selbst, wie auf bisher unbeglichene karmische Schulden?

Sicherlich sollten wir unser Leben als eine Ganzheit leben und nicht ständig gespalten sein von Angst und Verzweiflung. Sorge betrifft uns alle, aber wie der Regen für Mutter Erde sollte sie uns nähren und neues Wachstum bewirken. So wollen wir in unserem Leben der Freude weiten Raum gewähren – der inneren Freude, die das Herz erwärmt und die karmische Waage ausgleicht. Eines Tages – in diesem Leben oder in einem kommenden – werden wir vielleicht in der Lage sein, alles, was wir durchgemacht haben, mit den Augen des Sehers zu betrachten, der wir wirklich sind – wie ein Adler hoch über unserem Erden-Karma – und unsere gesamte Erfahrung, vergangen und gegenwärtig, in einer panoramischen Vision zu erblicken, sowohl in Form von Motivation als auch von Taten. Wir werden wissen, dass alle Hindernisse, alles Leiden – physisch und mental – und auch der Tod ein Teil des natürlichen Wachstumsmusters sind und der Seele die weitere Wahrnehmung, die wahre Liebe, die tiefere Fürsorge für alles einprägen.


8 – Karma und/oder Gnade

Das Dogma, dass ein Erlöser „für unsere Sünden starb“, wurde und wird oft missverstanden, denn es liegt eine große Schönheit in der Lehre der Inkarnation einer Göttlichkeit in menschlicher Gestalt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Johannes 3:16). Das ist die christliche Weise zu sagen, dass die Götter mit der Menschheit Mitleid hatten und einen Strahl aus sich in die Seele eines edlen Menschen sandten, so dass er unter den Menschen das Licht der Göttlichkeit auf mächtigere Art manifestieren konnte – aber nicht in dem Sinne, dass er uns von unseren Sünden erlösen oder das Karma unserer Übertretungen gegen uns und andere hätte wegwaschen können. Für das, was wir getan haben, sind wir verantwortlich. Das, was wir denken, müssen wir wieder gut machen oder Nutzen daraus ziehen. Es gibt keine Absolution außer durch uns selbst. Paulus’ Aussage über das universal anwendbare Gesetz von Ursache und Wirkung, Kismet oder Karma, weist klar auf diesen Punkt hin:

Wenn wir aus diesem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen …

Täuscht euch nicht: Gott lässt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, wird er ernten. Wer im Vertrauen auf das Fleisch sät, wird vom Fleisch ernten; wer aber im Vertrauen auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun …

Galater 5:25, 6:7-10

Kurz gesagt, in jedem Augenblick jeden Tages setzen wir neue Ursachen in Bewegung und ernten die Wirkungen vergangener Handlungen. Es ist die Qualität unserer Beweggründe, die unseren Charakter und unsere Zukunft gestaltet und weiterhin gestalten wird. Und weil wir eine Menschheit und nicht getrennt voneinander sind, beeinflussen wir nicht nur das Geschick derer, mit denen wir zu tun haben, sondern auch das Schicksal von Tausenden anderen, die für unsere Wellenlänge empfänglich sind. Wenn unsere Motive altruistisch sind, werden wir im spirituellen Bereich säen. Wenn wir an uns selbst denken, bringen wir unsere Saat auf dem Feld unseres persönlichen Selbst aus. Wir ernten, wie wir säen, denn die Natur reagiert unpersönlich, ohne den Säenden zu begünstigen oder ihn zu missbilligen. Die Ernte wird der Saat entsprechen, weil jeder Mensch seine eigene Ernte einbringt und sein Aufzeichner ist, wobei den Gedächtnis-Zellen des Charakters und tatsächlich jeder Ebene seines Wesens das eingeprägt wird, was er ist.

Wie passt das mit der Idee von Gnade zusammen? Im Neuen Testament bedeutet Gnade fast ausschließlich das Vermögen Gottes, Sünden durch die Mittlerschaft von Jesus Christus zu vergeben. „Wer glaubt, … wird gerettet werden“ (Markus 16:16). Was der Einzelne auch gewesen sein oder getan haben mag – wenn er Christus als seinen Erlöser annimmt, werden ihm die Freiheit von Schuld und der Segen der göttlichen Gnade zugesichert. Wörtlich gelesen – wie bei den eher orthodoxen Christen – erscheint das gewissenlos: Welche Art von Gerechtigkeit soll das sein, wenn das Vorleben eines Verworfenen nur durch die Anerkennung von Jesus als dem einzigen Sohn Gottes weggewischt und sein Charakter von Sünden gereinigt wird? Gibt es kein Sühneopfer für falsches Handeln? Und wie steht es mit der Verletzung, die man anderen durch seine brutalen und gedankenlosen Handlungen zugefügt hat? Vom Standpunkt menschlicher, ganz zu schweigen göttlicher Gerechtigkeit aus ist es undenkbar, den Sündenerlass durch Gottes Vergebung, noch dazu nur für Gläubige, zu billigen; dies steht im Gegensatz zu allem, was die Menschheit für ethisch und gerecht erachtet. Wenn es jedoch im Zusammenhang mit der Aufforderung von Jesus interpretiert wird: „Geh hin und sündige fortan nicht mehr“, gewinnt der Vers von Markus eine tiefe Bedeutung – umso mehr, wenn er mit der Aussage Jesu an Nikodemus in Verbindung gebracht wird: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich das sagte: Ihr müsst von Neuem geboren werden.

Johannes 3:3, 5-7

Die Geschichte von Saul von Tarsus ist ein passendes Beispiel. In den Traditionen seines Volkes aufgewachsen, wurde Saul die Last der vergangenen Sünden unerträglich – und zwar so sehr, dass er sich nicht mehr mit seinem Gott identifizieren konnte. Als Hebräer wusste er, dass er die Gunst Gottes durch moralische Rechtschaffenheit und durch die Erfüllung seiner Gebote verdienen müsste. Er war so sehr verstört, dass er seinen Zorn und seine Verzweiflung an denen ausließ, die diesem Fremdling Jesus folgten. Eines Tages nun, als er auf dem Weg nach Damaskus war, hüllte ihn plötzlich ein Licht ein; es leuchtete so intensiv, dass er erblindet hinfiel, und er hörte, wie der Herr ihn rief. Nach drei Tagen war er ‘ein neues Geschöpf’ geworden, sein Sehvermögen war wieder hergestellt, das Vergangene vorbei, nach einiger Zeit hatte er selbst seinen Namen verloren. Hatte seine intensive Suche nach dem Sinn des Lebens plötzlich seine Seele für sein eigenes innerstes Licht geöffnet?

Als Paulus wandte er sich dann mit außerordentlicher Vitalität seinem neuen Leben zu. Er ermahnte alle, mit denen er sprach und an die er schrieb, dem Weg des Geistes zu folgen und nicht dem des Fleisches: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Korinther 5:17). Wo es eine echte Bekehrung, eine ‘Umkehr’ von den hemmenden Wegen der Vergangenheit gibt und die Seele vollständig in das Leben des Geistes eintaucht, ist man wie ein ‘neu geborenes Kind’ – nicht weil vergangenes Karma ausgelöscht ist, sondern weil man selbst innerlich erneuert ist, ‘aus dem Geist geboren’. Von jetzt an begegnet man dem Leben mit einer neuen Vision und gestärktem Willen.

Es ist eine wunderschöne, altbekannte Wahrheit, dass auf jede ganz und gar ernsthafte Bewegung in die Richtung der eigenen inneren Gottheit diese auf entsprechende Weise antwortet und ein Glanz auf das Herz und Denken des Aspiranten strahlt. Es steht außer Frage: Die anhaltende Bemühung, das Leben durch ernsthaftes Streben und Kultivierung des Willens für selbstlose Ziele zu erneuern, ermöglicht, dass eine ‘Klärung’ stattfindet und dass die Stimme der Intuition hörbar wird. Ob das die Stimme des Herrn oder einer anderen Gottheit ist oder jene des eigenen inneren Gottes, tut nichts zur Sache. „Geht und sündigt fortan nicht mehr“ beinhaltet viele Anwendungsmöglichkeiten, aber wehe dem Menschen, der nicht versucht, den übernommenen Verpflichtungen entsprechend zu leben: die Gnade der göttlichen Zustimmung zu verdienen.

Was ganz wichtig ist: Ein Akt der Gnade – was auch immer ihre Ursache ist und wie sie auch immer erfahren wird – umfasst in keiner Weise eine Annullierung des Gesetzes von Karma oder dass die Dummheiten und Irrtümer vergangener Tage aus dem individuellen Schicksalsbuch gestrichen werden. Was auch immer wir vor unserer Verwandlung getan oder unterlassen haben, muss in diesem oder in zukünftigen Leben ausgeführt werden – und dem sollten wir mit Frohsinn begegnen, denn Kummer ist eine willkommene Gelegenheit, die Tafel zu reinigen und alte Fehler zu begleichen. Genauso bedeutend ist alles, was wir gerne hätten tun und sein wollen – all die stillen, unerkannten Sehnsüchte, in der Finsternis unserer Umgebung ein Licht zu sein –, getreulich in den unvergänglichen Berichten der Ewigkeit eingetragen, um zur richtigen Zeit in Form von Segnungen zurückzukehren – ein Geschenk der Gnade für uns selbst und andere, in völliger Harmonie mit dem karmischen Gesetz hervorfließend.

Wir können das Dogma vom ‘Sterben Jesu für unsere Sünden’ aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Tatsache, dass große Lehrer in zyklischen Perioden ausgesandt werden, um unter dem einen oder dem anderen Volk zu wirken, legt nahe, dass sie zu einem heiligen Zweck kommen: die Aspiration in den Seelen aller zu stimulieren, die auf den Ruf hören. Das Erscheinen einer solchen Inkarnation eines göttlichen Strahls zeugt vom Abstieg einer göttlichen Energie auf die Erde, die mit dem aufwallenden Ruf aus menschlichen Herzen zusammenfällt. Der Schnittpunkt menschlicher und göttlicher Zyklen hat so einen zweifachen Zweck. Wenn die Geist-Seele des ausgewählten Gefäßes mit der Göttlichkeit verschmilzt, kommt es zu einer derart gewaltigen Explosion, dass der Blitz der Götter über die Menschheit hereinbricht, um unsere Gedankenwelt mit göttlich-spirituellem Magnetismus aufzuladen. Es ist in der Vergangenheit geschehen; es wird wieder geschehen, wenn wir es hervorrufen.

Überall auf dem Weg gibt es eine Verknüpfung der Karmas, eine Verknüpfung zwischen den Welten der Götter und uns. Der Überlieferung nach betreten göttliche Wesen oder Avatāras die Erde als eine Art Unterwelt und ‘sterben’ auf diese Weise in ihren eigenen höheren Reichen. Dabei durchlaufen sie eine Initiation – ein majestätischer Gedanke. Indem sie absichtlich unter den Irdischen zur Geburt kommen, stirbt ein Teil von ihnen – es gibt ein ‘Sterben für unsere Sünden’ – buchstäblich und metaphorisch. Wie ein Strom aus Licht und Mitleid hinterlassen sie ihre Prägung auf die Menschheit. Weil sie einen Teil ihrer göttlichen Energie der Welt hinterlassen haben, nehmen sie in einem bestimmten mystischen Sinn einen Teil des Karmas der Menschheit auf sich. Während wir uns tatsächlich selbst befreien müssen, verbindet jeder, der sich dem Licht zuwendet und davon berührt wird – wie gering auch immer –, in diesem Ausmaß sein Karma mit jenem der Großen.

Wenn wir dann für unsere eigene ‘Erlösung’ verantwortlich sind, bestimmt Gott die Menschen nicht zu einem ewigen Leben entweder im Himmel oder in Verdammnis. Und doch können wir es dabei nicht belassen, denn es liegt ein Körnchen Wahrheit in der Vorstellung der Vorherbestimmung, insofern wir uns selbst aus der Vergangenheit zu dem bestimmt haben, was wir jetzt sind. Das impliziert, dass bestimmte karmische Linien der Ereignisse und des Charakters vorherbestimmt sind – nicht von einem Gott oder außerhalb von uns, sondern durch uns selbst. Wie Shakespeare sagte: „… Dass eine Gottheit unsre Zwecke formt / Wie wir sie auch entwerfen.“31 Jene Gottheit ist unser innerstes Selbst; wir sind diejenigen, die unser Schicksal mit unserem freien Willen gestalten. Wie wir den Ereignissen und Bedingungen des Lebens begegnen und die Beziehungen zu unseren Mitmenschen gestalten, liegt in jedem Augenblick in unseren Händen. Dabei gestalten wir wieder und wieder unseren Charakter und unser zukünftiges Schicksal. Nichts kann außerhalb der Gesetze Karmas geschehen; und da jeder von uns sein Karma ist, sind wir die Frucht, das Resultat, die Ausdrucksform unserer gesamten Vergangenheit. Jeder von uns ist deshalb der Aufzeichner seines eigenen karmischen Geschicks.

Das Leiden Christi stellt eine tiefe, heilige Erfahrung dar, die von jedem Erlöser willentlich durchgemacht wird – als eine Tat reinen Mitleids, damit das Ideal spiritueller Selbstüberwindung fest im Gewissen der Menschen bewahrt werden möge. Die Evangeliums-Erzählung ist eine Geschichte der menschlichen Seele, und Jesus stellt den göttlichen Höhepunkt dessen dar, was jeder Mensch auf Erden eines Tages erreichen wird – die Christus-Sonne in seinem eigenen Herzen zur Geburt zu bringen. Das bedeutet kein Versprechen eines Sieges ohne Verdienst; jeder muss sich selbst durch individuelles Streben meistern. Mögen wir auch in Ketten geschlagene spirituelle Wesen sein – so sind wir doch spirituelle Wesen, und keine Ketten, keine Macht auf Erden oder im Himmel können den menschlichen Geist für immer einkerkern. Während die Geschichte die Tragödie menschlicher Irrtümer aufzeichnet, legt eine höhere Geschichte Zeugnis ab von dem unbesiegten menschlichen Geist, denn das Leiden und der Triumph eines Christos zeigen den Sonnen-Pfad auf, den jeder Mensch schließlich wählen muss.


9 – Die christliche Botschaft

Wahrheit ist in allen heiligen Schriften zu finden, wenn wir tief genug unter Dogma und Ritual graben, um das reichhaltige Erz der Esoterik zu finden. Es war niemals intendiert, dass die jüdisch-christliche Genesis-Geschichte wörtlich aufgefasst werden sollte, genauso wenig wie die Schöpfungsmythen aus Tahiti oder dem alten Persien, aus China oder den beiden Amerikas. Die mündlichen und schriftlichen Überlieferungen eines jeden Volkes weisen in verschiedenen Metaphern und Symbolen auf den eindrucksvollen Augenblick in der anfanglosen Zeit hin, in dem die Dunkelheit zu Licht wurde und aus den Tiefen der Stille der Klang des Logos ertönte – das Wort, welches die Götter und Sterne veranlasste, gemeinsam zur bloßen Freude des Seins und des Werdens zu singen.

Wie das ‘Nichts’ in der Lage sein kann, ein Universum mit seinen Scharen von Leben jeder Art und Stufe hervorzubringen, ist ein immerwährendes Mysterium. Wie wird die Null zur Eins, und wie bringt die Eins die Zwei hervor, dann die Drei, um ihrerseits die Myriaden von Lebensformen zu produzieren – von Sternen bis zu Menschen, von Tieren bis zu Atomen? Wenn alles formlos und leer ist, wer oder was initiiert das erste Erzittern einer rhythmischen Pulsation in der riesigen Ausdehnung des Chaos?

Jene, die sich in der alten jüdischen Theosophie der Kabbala gut auskennen, zitieren immer wieder Abschnitte aus dem Zohar – der bekanntesten kabbalistischen Abhandlung, die einen fortlaufenden Kommentar zur Tōrāh, dem heiligen ‘Gesetz’ der Hebräer, darstellt. Sie bestätigen, dass, wer den Kern der in der Tōrāh verborgenen Bedeutung durchdringen will, Hülle um Hülle entfernen muss, um die Seele zu erreichen. Wer die Essenz erahnen möchte, muss noch weitere Schichten abschälen, denn in jedem Wort und Satz liegt ein höheres Mysterium. „Aber der Weise, dessen Weisheit ihn mit vielen Augen ausstattet, durchdringt das Gewand bis an die Essenz des Wortes, das dadurch verborgen wird.“32

Während für uns paradoxerweise das Universum in der Essenz unerschaffen und unendlich ist, ohne Anfang und ohne Ende, hat jedes manifestierte Universum seinen Ursprungs-Punkt, ein Hervorkommen aus dem ‘Nichts’, aus der Finsternis ans Licht und die Folge von Leben, die sich daraus ergibt. Die Kabbala stellt sich drei Stadien der Nichtexistenz zwischen der Finsternis der Tiefe der Genesis und dem Aufkommen des Lichts vor: 1) ’Ayin, „Nichts“, Nichtsein, das Leere, jenseits aller Vorstellungskraft; 2) ’Ēin Sōf, „keine Grenze, ohne Ende“, die grenzenlose oder endlose Ausdehnung; und 3) ’Ēin Sōf Ōr, „Licht ohne Grenzen“, grenzenloses Licht.

Wenn ’Ēin Sōf, angespornt durch den göttlichen Gedanken und Willen sowie durch die mysteriöse Kraft der Anziehung und Ausdehnung, einen Teil von sich manifestieren will, konzentrierte es seine Essenz in einen einzigen Punkt. Das nannten die Kabbalisten Keter (Kether), „Krone“, die erste Emanation von Licht, und aus diesem ursprünglichen Punkt brechen „neun herrliche Lichter“ hervor.

Bei dem Versuch, das zu klären, was immer ein „undurchdringliches Mysterium“ bleiben wird, stellten sich die Kabbalisten den wunderbaren Vorgang vor, wie das Eine auf verschiedene Arten zu den Vielen wird, oft als einen Lebensbaum, der aus den zehn Sefīrōt zusammengesetzt ist, den zehn „Zahlen“ oder Emanationen von ’Ēin Sōf, dem Grenzenlosen, das ein zehnfältiges Universum erschafft. „Mitten in dem unerträglichen Glanz von ’Ēin Sōf ’Ōr, dem grenzenlosen Licht, stellten sie sich den Kopf von ’Adām Qadmōn, dem idealen oder archetypischen Menschen, vor, dem ersten von vier Adams, die sich in vier Welten von abnehmender spiritueller Gestalt manifestieren. Der vierte Adam auf der vierten Welt, unserer Erde, kündigt sich an und wird zu unserer gegenwärtigen Menschheit. Mit anderen Worten – auf jeder der vier Welten kleidet sich ein zehnfältiger Lebensbaum, der sich gemeinsam mit dem archetypischen Menschen manifestiert, in immer materiellere Formen. Schließlich ist die vierte Welt in der Lage, die mineralischen, vegetabilen und animalischen Reiche zu erhalten; und auf dieser Welt wirkt nun die Menschheit – ursprünglich geschlechtslos, dann androgyn – als Mann und Frau.33

In dieser Weise interpretiert der Zohar die vier ersten Verse der Genesis, beginnend mit Gott (eigentlich „Götter“, ’Elohīm), der aus sich die Himmel (auch Plural im Hebräischen) und die Erde erschuf, die formlos und leer war bis zum Erwachen, als Gottes Geist (Rūaḥ ’Elohīm, „der Atem der ’Elohīm“) die Wasser des Raumes befruchtete.

Während der letzten 2. 000 Jahre erhielt das Wort Gott allmählich eine sehr enge und starre Bedeutung im Gegensatz zu dem weitläufigen und fließenden Begriffsinhalt, dessen es sich überall in der griechisch-römischen Welt und im Nahen Osten erfreute. In jener Zeit war die Beziehung zwischen den Göttern und Menschen innig; mitunter nahmen die Götter Menschengestalt an, und würdige Menschen erreichten den Status eines Gottes. Aufgrund jahrhundertelang auferzwungener theologischer Dikta bedeutet das Wort Gott heute allgemein Höchstes Wesen oder Schöpfer, der den Himmel und die Erde schuf und alle Kreaturen dort, das heißt extrakosmisch, verschieden und getrennt von seiner Schöpfung. Zweifellos haben sehr viele Christen, ausgenommen die starrsten fundamentalistischen Sekten, die Vorstellung von einem persönlichen Gott als Abbild eines Menschen mit einem langen weißen Bart, auf einem Thron mitten unter Wolken sitzend und Belohnung und Strafe je nach Lust und Laune verteilend, aufgegeben.

Sicherlich ist jeder Mensch ein Funke jener göttlichen Intelligenz, mit seinem eigenen inneren Gott im Kern seines Wesens. Könnte irgendeine Wesenheit, auch nur ein Staubkörnchen, existieren, wäre es nicht die äußerste Ausdrucksform ihrer einzigartigen Gott-Essenz? Tatsächlich ist jedes atomare Teilchen ein Gottesfunke, der sich in materieller Gestalt verkörpert. Als solches ist es mit der Gottheit im Herzen des Seins in der Essenz eins. Das bedeutet, dass die Monaden oder inneren Götter im Herzen jedes einzelnen der Trillionen über Trillionen von Atomen in allen Naturreichen und überall im Kosmos gleichermaßen in der Essenz eins sind – wahrlich eine universale Verwandtschaft im Geist. Wenn wir uns Gott als unendlich vorstellen, wird unsere Wahrnehmung des Göttlichen Willens so grenzenlos, wie es Denken und Streben erlauben. Ist Gott transzendent oder immanent, außerhalb oder innerhalb von uns? Die Frage wird überflüssig, wenn das Göttliche alles durchdringt. Unter dem Druck der täglichen Belange neigen wir dazu, zu vergessen, wer wir sind und auch das Schicksal, das nicht nur vor uns Menschen, sondern vor jedem monadischen Leben liegt – sei es ein Atom im Gehirn eines Regenwurms oder in einem der Ringe von Saturn.

Im Evangelium nach Johannes (10:34) ermahnt Jesus diejenigen, die ihn schmähten: „Heißt es nicht in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?“ – ein Thema, das Paulus in seinen Briefen an das Volk von Korinth ausweitete: „Was haben Licht und Finsternis gemeinsam? … Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes“ (2 Korinther 6:14, 16) und „der Geist Gottes wohnt in euch“ (1 Korinther 3:16). Wie ist es angesichts dieser vielfach von der Kanzel und in der Literatur verkündeten Verse möglich, dass uns jahrhundertelang fälschlicherweise gelehrt wurde, wir seien „in Sünde geboren“?

Die Allegorie vom Fall Adams und Evas in Ungnade und ihrer Vertreibung aus dem Paradies hat eine erhebende Wirkung, wenn sie – anstelle der Darstellung einer Übertretung – als Erweckung des Denkvermögens in der frühen Menschheit interpretiert wird. Damit die frühen Menschen (wir selbst) wie Götter werden, mussten wir in unserem Eden-Zustand unbewusster Glückseligkeit ‘sterben’ und die Herausforderung zum Selbstbewusstsein unseres göttlichen Potenzials annehmen. Dieser Prozess verpflichtete uns dazu, „Häute aus Fell“ anzuziehen, als wir uns in den Welten der Materie verkörperten. Nun verdienen wir unseren Weg heraus aus der „Sünde“ unseres materiellen Zustands durch den Schweiß unseres Angesichts, spirituell und intellektuell, und schließlich werden wir die Würde unseres Erbes annehmen und vollständig entwickelte Gottheiten werden.

Wie steht es nun mit Jesus und seiner Lebensgeschichte, wie sie im Neuen Testament erzählt wird? Viele Christen betrachten die Geschichten der Evangelien nicht länger als Erzählungen über eine historische Gestalt. Einige ziehen es vor, in ihnen einen symbolischen Bericht über die Initiations-Erfahrung eines Erlösers zu lesen – jedes Erlösers, der gemäß der zyklischen Notwendigkeit erscheint. Einige lehnen jede besondere Göttlichkeit Jesu ab und betrachten ihn vielmehr als ein edles Beispiel der Menschlichkeit, der Nachahmung wert. Andere, vielleicht Millionen, erklären Jesus ehrfurchtsvoll für den einzigen Sohn Gottes und dass sie nur durch den Glauben an ihn errettet werden können. Drei Schlüsse – offensichtlich unvereinbar; wenn wir sie jedoch als drei Wege der Betrachtung Jesu ansehen, erhalten wir ein recht abgerundetes Bild dessen, was er darstellt.

Einfach ausgedrückt, zeigt die Idee, dass Jesus kam, um das Licht der Welt zu sein und „uns von unseren Sünden zu erlösen“, wie wir uns selbst erlösen, wie wir uns selbst aus der Verhaftung und dem Grab materieller Dinge befreien können – und nicht, dass wir tun können, was wir wollen, und dann kurz vor unserem Tod bereuen, ihm die Last unserer Schuld auferlegen und dann für alle Zeiten gerettet sind.

Auch Gautama Buddha war ein Licht für die Welt. Wenn wir tatsächlich die wohlbekannten Begebenheiten in den Leben von Gautama und Jesus vergleichen, stellen wir eine erstaunliche Übereinstimmung fest: Beide wurden von einer jungfräulichen Mutter geboren; beide wurden gemäß der heiligen Überlieferung ihrer entsprechenden Heimat geschult und gewannen dort Inspiration, sie rebellierten gegen die Orthodoxie ihrer jeweiligen Priesterschaft; beide durchbrachen alle Schranken von Klassen und religiösem Vorurteil und akzeptierten alle als Schüler, die ehrlichen Herzens waren. Der Nachdruck auf das „Licht“ im Innern sowohl bei Jesus als auch bei Gautama sicherte eine göttliche Chancengleichheit für jeden Menschen: für den Brahmanen und den Kastenlosen, den Sadduzäer und den Leprakranken, den König, die Kurtisane und den Fischer. Bemerkenswerterweise erinnert die Verwandlung Jesu, als „sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider blendend weiß wurden wie das Licht“, an die Erleuchtung Gautamas und sein Erreichen des endgültigen Nirvanas, als die Farbe der Haut Tathāgatas so „klar und außergewöhnlich strahlend“ wurde, dass seine Kleidung aus goldenem Stoff ihren Glanz verlor.34 Und nicht zuletzt kennzeichnet sie ihr Erscheinen auf Erden aufgrund einer ungeheuren Liebe zur Menschheit – gesendet von Gott als eine göttliche Inkarnation im Falle Jesu; als Folge eines Gelöbnisses, geleistet in früheren Leben im Falle Gautamas – als Bindeglieder in der Kette der mitleidsvollen Wächter, die über uns wachen und uns dazu inspirieren, dem Weg nach innen zu folgen.35

Unvermeidlich sind die farbenprächtigen Erzählungen ihrer Geburt, ihrer Amtszeit und ihres Todes zum großen Teil allegorisch. Was auch immer an wahrer Geschichte in den kanonischen Evangelien oder in buddhistischen Heiligen Schriften sowohl der Nördlichen als auch der Südlichen Schulen enthalten sein mag, ist in Metapher und Legende gekleidet, so dass es schwierig ist, Tatsache von Phantasie zu trennen. Und doch sind die Ähnlichkeiten zu groß, um ignoriert zu werden, und sie verleiten dazu zu fragen, ob die Geschichtsschreiber ihre entsprechenden Erzählungen gemäß einem alten heiligen Prototyp gestaltet haben.

Aller Wahrscheinlichkeit nach taten sie das, denn in den Lebensgeschichten vieler anderer Welterlöser sind auffallende Parallelen zu finden. Die alten Perser erzählen von den Versuchungen und den Siegen Mithras und einer Reihe von Zoroastern; in Mexiko wurde Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, „gekreuzigt“ und erstand von den Toten auf; ganz ähnlich erlitten Tod und Misshandlung auch die Sonnengötter der Phrygier und anderer Völker Kleinasiens sowie der nordische Odin, der neun Nächte lang, von einem Speer verwundet, am „vom Wind geknickten Baum“ des Lebens hing.36 Ist es dann so außergewöhnlich, dass Jesus, der der Christos (der Gesalbte, der Messias) wurde, ebenso eine ähnliche Mühsal und Verherrlichung erfahren haben soll?

II

Das Drama von Jesus beginnt mit der Geschichte seiner seltsamen und wunderschönen Geburt zur Wintersonnenwende durch eine jungfräuliche Mutter, mit einem Stern, der weise Männer aus dem Osten leitet. Ähnliche jungfräuliche Geburten werden über andere Erlöser-Figuren berichtet, wie die des legendären persischen Lehrers Mithras („Freund“), über dem ein großes Licht leuchtete, als er geboren wurde. Die gesamte Welt „erstrahlte vor Freude“, als in Indien vor über 5.000 Jahren Devākī um Mitternacht Krishna, eine göttliche Inkarnation, gebar.

Von Jesus sagt man, er sei von einer „jungfräulichen“ Mutter geboren, denn der Geist hat keinen Vater. Die Vorstellung einer unbefleckten Empfängnis ist rein mystisch und symbolisch und hat zumindest zwei Bedeutungen: Die eine bezieht sich auf den Initiierten, der „aus sich selbst geboren“ wird, also auf die „Geburt des Christus im Menschen durch den jungfräulichen Teil seines Wesens, das heißt aus dem spirituellen oder höchsten Teil der Konstitution des Menschen“; die andere bezieht sich auf die kosmische Jungfrau, „die Jungfrau-Mutter des Raumes, die durch ihr Kind, den Kosmischen Logos, ihre zahlreichen Kinder auf unterschiedliche Weise zur Geburt bringt“.37

Was die Magier oder weisen Männer anbelangt: Die Evangelien verraten uns nicht, wie sie hießen, aus welchem Land sie kamen, und nicht einmal, wie viele es waren. In Westeuropa feiern die meisten Länder das Erscheinen der Drei Könige zu Epiphania, am 6. Januar. Einige sagen, sie seien aus Persien gekommen, und deshalb würden sie Magi genannt, was ‘groß’ an Weisheit bedeutet. Andere, wie Augustinus, glaubten, dass zwölf weise Männer dem Stern folgten. Irgendwo in dieser Reihe wurden Namen zugewiesen: Melchior, Caspar (oder Kaspar) und Balthasar. Purucker setzt sie mit drei der sieben heiligen Planeten gleich: Melchior mit Venus, seine Gold-Schatulle repräsentiert das Licht, das Jesus über die Welt ausgießen sollte; Caspar, der Myrrhe in einem ‘vergoldeten Horn’ trug, mit dem Merkur; und Balthasar, der Weihrauch anbot, ‘reinen Weihrauch’, mit dem Mond.38 Es mag sein, dass die weisen Männer, die Geschenke brachten, symbolisch für die Qualitäten stehen, die Jesus benötigen würde, um den Christos zur Geburt zu bringen.

Und der Stern? Der deutsche Astronom Kepler (1571-1630) war – während er im Oktober 1604 eine seltene Gruppierung von Planeten beobachtete, nämlich Mars, Jupiter und Saturn – erschrocken, eine Stella Nova oder einen ‘neuen Stern’ zu finden (eine Nova oder Supernova, einen explodierenden Stern), der sieben Monate lang leuchtend sichtbar blieb. Kepler meinte, dass das, was die chinesischen Astronomen sowohl im Jahr 5 als auch 4 v. Chr. als Novä aufgezeichnet hatten, seine Vermutung erhärtete, dass der Stern von Bethlehem sehr wohl eine Verbindung zweier Phänomene gewesen sein könnte: einer Syzygie oder einer planetarischen Gruppierung von Mars, Jupiter und Saturn Anfang 6 v. Chr. und der explosiven Lichtentladung, welche den ‘Tod’ eines alten Sterns umgibt. Können wir daher nicht annehmen, dass der sogenannte Stern von Bethlehem eine Gruppierung von Planeten in Richtung der Sonne gewesen sein könnte, wodurch der Initiant in der Lage war, bewusst in die Sonne und die stellaren Tiefen einzugehen?

Wenn wir die mündlichen und schriftlichen Überlieferungen anderer Völker untersuchen, entdecken wir, dass Jesus nicht der einzige Sohn Gottes war, sondern dass seine „wunderbare“ Geburt und sein Tod, „sein Abstieg zu jenen im Hades und auch zu allen auf Erden“ (Klemens von Alexandria), von vielen Erlösern erfahren wurde. Alle waren monogenēs (einzig geboren), wenngleich nicht im gewöhnlichen Sinne der Phrase als der eine und einzige Sohn Gottes, denn wir alle sind Götter, Söhne des Göttlichen. Der Glanz liegt nicht in ihrer Einzigartigkeit, insofern jeder von ihnen einer unter vielen war, welche die ‘einzig Geborenen’ waren und in künftigen Zyklen sein werden, geboren nur von ihrer eigenen solaren göttlichen Quelle. Alle sind Mitglieder jener heiligen Gemeinschaft von ‘Söhnen der Sonne’, Gesalbte, die periodisch auf Erden inkarnieren, um uns, „Geistern im Gefängnis“39, dabei zu helfen, uns von unseren selbst geschaffenen Banden zu befreien. Wir sind es jedoch, die die Augen unserer Seelen dem Licht zuwenden müssen: Es gibt keine Befreiung, keine Erlösung außer derjenigen, die selbst gewonnen wird.

Tod durch Gewalt, ein Begräbnis in einem unterirdischen Grab, Auferstehung des Leibes und Aufstieg in den Himmel: Was hat all das mit uns heute zu tun? Sollten wir diese Reihe der Ereignisse als etwas betrachten, das physisch geschehen ist? Oder sollten wir in der parallelen mystischen Erfahrung so vieler Weltlehrer eine Mysterienlehre sehen – den letztendlichen Leidensweg einer Initiation, die jeder Aspirant für die Vereinigung und schließliche Einheit mit seinem inneren Gott durchmachen muss? Wie sonst könnten sie Einheit mit dem Göttlichen beanspruchen, wenn sie nicht am Kreuz des Selbst alles opfern, was weniger als göttlich ist, wenn sie nicht in die Unterwelt der Erde und früherer Gedankengewohnheiten absteigen und darüber triumphieren und wenn sie nicht aus dem Grab der Menschheit auferstehen, um als Götter hervorzustrahlen? Und die Vollendung? In der Tradition der Sonnengötter und Erlöser kehren sie willentlich zurück, um ihre heilige Aufgabe zu erfüllen, so dass die Ideale des Mitleids und der spirituellen Meisterschaft wieder einmal menschliche Seelen zu edleren Zielen inspirieren.

Wie können wir den Tod Jesu, den er voraussagte, und seinen Verrat durch Judas interpretieren? War es ein gewöhnlicher Verrat? Oder gibt es eine andere Bedeutungsebene für diesen Teil der Evangelien-Erzählung? Könnte es sein, dass Judas als ein Instrument benutzt wurde, um das auszuführen, was sein musste, vorherbestimmt durch das Karma der Menschheit, durch das Karma von Judas und das von Jesus? Wie dem auch sei – Jesus wusste, dass seine „Zeit gekommen war“ und dass der Menschensohn zu seinem Vater zurückkehren muss.

Den Garten von Gethsemane mit Petrus, Johannes und Jakob hinaufsteigend, bat Jesus seine Apostel, sich eine Weile hinzusetzen, und er ging fort, um alleine zu beten. Hier fand ein subtilerer „Verrat“ statt oder eher ein „Versagen“ auf seiten genau jener, die er erwählt hatte, im Augenblick seiner größten Bedrängnis Wache zu stehen. Kein bewusstes Versagen, und doch birgt es für uns heute eine ergreifende Lehre, denn wie oft fehlt es uns bei unseren individuellen Bemühungen an selbstloser Entscheidung und Liebe, um durchzuhalten! Er sagte zu seinen Aposteln: „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!“ Jesus ging ein Stück weiter, kniete nieder und bot alles, was er war, seinem Vater: „Wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Als er zurückkehrte, fand er seine Apostel in tiefem Schlaf. „Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“ Wieder sagte Jesus zu ihnen: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Ein zweites Mal betete er und wieder schliefen seine Apostel. Auch das dritte Mal „verrieten“ diejenigen, die ihre höchste Verehrung gegeben hatten, ihren Meister, denn ihre Kraft reichte nicht aus. „Schlaft ihr immer noch und ruht euch aus? Die Stunde ist gekommen; jetzt wird der Menschensohn den Sündern ausgeliefert“ (Matthäus 26:37-45).

Trotz der äußerlichen Unterschiede findet sich eine vielsagende Parallele zu der Szene in Gethsemane im „Buch des großen Hinscheidens“, einem buddhistischen Sutta, welches die Essenz von Buddhas Lehre während der letzten Monate seines Lebens vermittelt. Der Pali-Text erzählt von verschiedenen Gesprächen, die der Tathāgata mit Ānanda, seinem getreuen Freund und Schüler, hatte. Er sagte zu Ānanda, dass der Tathāgata – sollte es Ānandas Wunsch sein – „in derselben Geburt für ein Kalpa bleiben könnte oder für jenen Teil das Kalpas, der noch übrig war“. Der Hinweis war da, aber er ging an Ānanda vorbei. Zwei weitere Male wurde der Hinweis gegeben, aber noch immer bemerkte Ānanda den bedeutenden Sinn nicht, dass – wenn der Ruf nach dem Mitleidsvollen mächtig genug wäre – er „während des Kalpas … aus Erbarmen mit der Welt bleiben könnte – für das Gute und den Gewinn und das Wohl der Götter und Menschen!“40

Kurz danach näherte sich Māra, der Versucher – der Name bedeutet „Tod“ – dem Tathāgata und sagte, es sei Zeit für ihn, zu sterben und das Nirvana zu betreten, dem er entsagt hatte, denn der Vorsatz, den er früher gefasst hatte, war erfüllt worden. Zu dieser Zeit hatte der Tathāgata dem Māra gesagt, er werde nicht sterben, bis die Brüder und Schwestern und Laienschüler beiden Geschlechts „weise und gut geschult, bereit und gelehrt geworden sind… [und] durch die Wahrheit in der Lage sein werden, von anderen verkündete eitle Lehren zu bezwingen und zurückzuweisen und so die wunderwirkende Wahrheit weithin zu verkünden“.41 Da Ānanda keine Aufforderung an Buddha gerichtet hatte, weiterzuleben, sagte der Tathāgata zu Māra: „Sei glücklich. Die endgültige Auslöschung des Tathāgata soll bald stattfinden. Nach drei Monaten von heute an wird der Tathāgata sterben!“ Worauf sich „ein heftiges Erdbeben erhob, schrecklich und furchterregend, und die Donner des Himmels ausbrachen“42 – nicht unähnlich dem, was während der Kreuzigung Christi stattfand, als sich von der sechsten bis zur neunten Stunde Finsternis über das Land legte, und nachdem er seinen Geist aufgegeben hatte, „riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte …“ (Matthäus 27:51).

Erst später, als Ānanda den Buddha über das „gewaltige Erdbeben“ befragte, erwachte sein Schüler ganz plötzlich. Erst jetzt, bei der plötzlichen Erkenntnis, dass sein geliebter Freund und Lehrer ihn bald verlassen würde, drängte Ānanda den Gesegneten, das Kalpa über weiterzuleben, „für das Gute und das Glück der Mengen“. Drei Mal bat er inständig. Die Antwort war unvermeidlich: „Genug nun, Ānanda, flehe den Tathāgata nicht an. Die Zeit, um eine solche Bitte zu äußern, ist vorbei.“43 Hätte Ānanda sich wenigstens beim dritten Mal aufgerafft, fügte sein Lehrer hinzu, wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Tatsächlich hatte der Buddha von der Möglichkeit bei vielen früheren Gelegenheiten gesprochen, aber jedes Mal ließ Ānanda den Hinweis unbeachtet verhallen.

Das soll nicht bedeuten, dass sie dem Lauf des Schicksals hätten zuvorkommen können, wenn Ānanda oder die Apostel von Jesus die Bedeutung der göttlichen Geschehnisse rund um ihre Lehrer erkannt hätten. Selbst wenn es kaum Historisches in den christlichen und buddhistischen Erzählungen gibt, macht das nicht die psychologischen Wahrheiten zunichte, die sie verkörpern. Keine Geschichte endet „glücklich in alle Ewigkeit“; das sollte auch nicht so sein, denn das Leben ist eine Mischung aus Gut und Böse, aus Freude und Schmerz, woraus wir eine Spur Weisheit destillieren können.

Wenn wir darin eine Tragödie sehen, dann rührt das daher, dass wir die Ereignisse zu sehr aus der Nähe betrachten. Aus der Perspektive mehrerer Leben gibt es weder Versagen noch Erfolg, nur Lernerfahrungen, und darin liegen sowohl ein Trost als auch eine Herausforderung. Petrus, Jakob und Johannes und auch Ānanda sind wir selbst; wir können uns mit ihnen identifizieren, denn ihre Zerbrechlichkeit ist unsere. Wie oft wird uns die Wirklichkeit einer Situation erst nach einer Erfahrung bewusst, wie oft erkennen wir die verpasste Gelegenheit zu spät. Gelegenheiten kommen und gehen für uns alle. Einige ergreifen wir fast intuitiv und sind die Gewinner; andere – mitunter wichtige – lassen wir uns durch die Finger gleiten. Und doch ist nicht alles verloren, da ein Teil unseres Bewusstseins die Lektion erkennt; wäre es anders, würden wir nicht später aufwachen, ob nach ein paar Stunden oder vielleicht nicht, bevor der bessere Teil unseres Lebens vorbei ist. Aber wir wachen schließlich auf, und darin liegt der Triumph.

Im Falle Jesu könnte schon der Verrat oder das Versagen von Seiten der Apostel – wenn auch ganz unbewusst – ein notwendiges Erfordernis für die Erfüllung des Gesetzes gewesen sein, das heißt das Zulassen der Vollendung der höchsten Einweihungs-Versuchung des Menschen Jesus, wenn die menschliche Seele allein dastehen muss, ohne Schutz von Schülern oder Freunden, und siegt. Die menschliche Seele muss als die Christus-Sonne ohne Hilfe, außer der eigenen innewohnenden Reserve an solarer Stärke, geboren werden. „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Johannes 3:3). Von Jesus wird gesagt, er habe ungefähr zur Zeit der Wintersonnenwende diese zweite Geburt erfahren, eine Geburt des Geistes.

III

Die kryptischen Worte des Apostolischen Glaubensbekenntnisses stellen die Verzweiflung und den Triumph des Mensch-Jesus dar, der ein Christus geworden ist: „Gekreuzigt, gestorben und begraben, abgestiegen in die Hölle; am dritten Tage auferstanden, aufgefahren in den Himmel.“ Ob Jesus physisch gekreuzigt wurde, bleibt eine offene Frage. Die ‘Kreuzigung’ kann wohl ein Symbol sein, eine Allegorie, die erzählt wurde, um den in der Materie gekreuzigten Christus-Geist darzustellen: Wenn die materielle, dominierende Seite der menschlichen Natur in einem Leben die Oberhand gewinnt, kreuzigt sie den Geist.

Als Christus kam, gab er von seinem Licht, von seiner Wahrheit – aber nur wenige verstanden. Der Rest begriff es nicht und so wurde Jesus, wie die Evangelien erzählen, von Pontius Pilatus verhört und verurteilt. Über den erhabenen Augenblick, als Jesus auf dem Kreuz der Materie von allen außer von seiner selbstgeschulten Seele versucht wurde, berichtet Matthäus Folgendes:

Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli lama sabachthani, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

– 27:46

In der Übersetzung ist die Bedeutung dieses hebräischen Abschnitts, der im griechischen Original eingefügt ist, unklar. Tatsächlich läuft es auf zwei Schreie hinaus: der eine in Agonie, der andere in Begeisterung. Das letzte hebräische Wort, sabachthānī, bedeutet nicht verlassen oder im Stich lassen, wie es in der Einheitsübersetzung der Bibel steht; im Gegenteil – es bedeutet verherrlichen, Frieden bringen, sich im Triumph erheben. Und doch ‘erklärt’ der griechische Text es sofort als: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist eine genaue Wiedergabe des gut bekannten Schreis in Psalm 22 (David) ’Ēlī, ’Ēlī, lāmāh ‘azabthānī; hier bedeutet das letzte Wort „verlassen“.

Was ist der Grund dafür? Man hat vermutet, dass Matthäus und Markus die Angelegenheit vielleicht absichtlich durcheinanderbrachten (und doch für diejenigen enthüllen, die Augen haben zu sehen), um zu verbergen, was eigentlich eine Mysterienlehre war. Kurz gesagt, die griechische ‘Erklärung’ für den hebräischen Abschnitt, zitiert aus dem Psalm, berichtet über die Angst, welche der menschliche Teil von Jesus empfunden hatte, als er in höchster Einsamkeit den gefürchteten Regionen der Unterwelt gegenübertreten und alles besiegen musste. Dagegen war der hebräische Schrei, wie in Matthäus und Markus erhalten, ein Schrei des Christos, des triumphierenden Jesus: „O mein Gott, wie hast du mich verherrlicht, wie hast du mich aus der Finsternis heraus ans Licht gebracht.“44

Sagen wir, Christus wurde gekreuzigt. Er wurde begraben in einem Grab, nach drei Tagen erstand er von den Toten auf und fuhr in den Himmel auf. Das ist das Dogma des Glaubensbekenntnisses. Es ist ebenso die Initiations-Geschichte, welche die Prüfung der Seele bis zum Äußersten bedeutet, um zu prüfen, ob sie ausreichend entschlossen und selbstlos ist, um die härtesten Prüfungen der materiellen Welt durchzumachen und ganz, gereinigt, daraus hervorzugehen. Jesus stieg auf aus der Unterwelt der Initiation, dem Grab der Materie, verherrlicht. Vereint mit der Gottheit in seinem Innern, fuhr er auf zu seinem Vater und wurde eins mit der universalen göttlichen Kraft. Er war nicht länger nur ein Mensch mit all seinen gewöhnlichen Kümmernissen, die durch Selbstsucht und Machtgier verursacht sind. Jesus war nun Christos, ein mit dem heiligen Öl „Gesalbter“ und ein Sohn Gottes, weil Gott in ihm sein gesamtes Wesen mit Licht überflutet hatte.

Die frühen Christen wussten, dass das Christus-Mysterium nicht einmalig war, etwas, das niemals zuvor geschehen war, sondern in Wahrheit der Höhepunkt einer der wunderbarsten Erfahrungen, die einem Menschen möglich sind, in ihrer Zeit. Sie verstanden, dass Jesus, als er zum Christus wurde, den Weg zwischen der Sonne in seinem Herzen und der Sonne des Universums erfolgreich geöffnet hatte und dass die Strahlen der wahren Sonne, die eine Göttlichkeit ist, voll auf ihn schienen: Jesus wurde wie ein Sonnengott, in Wahrheit ein „Sohn der Sonne“.

Dieser Ausdruck enthält eine tiefe mystische Wahrheit. Er war und wird für die Edelsten unter denjenigen gebraucht, deren Naturen so rein geworden sind, dass sie klar das Licht der Sonne reflektieren. In der alten Welt wurde die Sonne als der Vater aller bezeichnet, die Planeten, unsere Erde und die Menschen miteingeschlossen. Man glaubte auch, dass die Sonne, die wir am Himmel sehen, von einer großen und strahlenden Gottheit belebt wird. Die Römer nannten sie Sol Invictus, die unbesiegbare Sonne; die Griechen verehrten sie als Apollo; die Phrygier als Attis (Atys). Die Ägypter hatten ihren Osiris und Horus.

In der alten Welt verehrten die Völker rund um das Mittelmeer die Mysterien-Wahrheit, dass der Sonnengott in einem Menschen erstand, der die unedlen Neigungen seiner Natur vollständig besiegt hat. Wir rufen uns einen Vers aus einem alten Hymnus von John Damascus (675-749) ins Gedächtnis, der sowohl im anglikanischen als auch im griechisch-orthodoxen Gottesdienst noch immer in Gebrauch ist:

Es ist der Frühling der Seelen heute:
Christus hat Sein Gefängnis gesprengt,
Und aus einem Schlaf von drei Tagen ist er
Als eine Sonne erstanden.

Als Sonnengott des Christentums erleuchtete Christus-Jesus für seine Zeit den Weg, der von einer langen Reihe von Erlösern vor ihm geheiligt worden war.


10 – Westlicher Okkultismus

Die Vermischung kultureller und religiöser Traditionen, die heute stattfindet, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf unser Denken und unsere Gebräuche. So wie westliche Methoden und Denkgewohnheiten ihre prägende und oft zerstörerische Spur im Orient hinterließen, hat der Zustrom östlicher Ideen und Rituale das Denken und die gewöhnliche Einstellung Tausender Menschen in Europa und Amerika beeinflusst. Als Ergebnis tun sich in verwurzelten Verhaltensweisen große Risse auf. Im Westen geschieht das aufgrund des Kontakts mit den philosophischen und psychologischen Disziplinen aus Indien, China und Japan; teilweise auch aufgrund des wachsenden Interesses an Riten und heiligen Legenden der eingeborenen Volksstämme in Amerika, Australien und Afrika. Obwohl die Betonung hauptsächlich auf den ‘okkulten Künsten’ (dem bloßen Überbau des ursprünglichen Okkultismus) liegt, findet bereits ein deutlicher Wandel statt. Statt in unserer Betrachtungsweise rein von der Materie beherrscht zu werden, erkennen wir allmählich Geist/Bewusstsein/Energie als die ursächliche Basis allen Lebens – von der Mikrowelt des Atoms bis zur Makrowelt des Kosmos und alles dazwischen.

Der Eintritt tiefgründiger metaphysischer Schriften des Ostens in westliches Denken seit 1780 wurde hauptsächlich durch britische Beamte in Indien bewirkt. Sie wurden durch den damaligen General-Gouverneur Warren Hastings ermutigt, Sanskrit und mit diesem verwandte Sprachen zu studieren, um besser verstehen zu können, was die Hindu-Seele bewegt. Einige dieser Beamten waren so beeindruckt, dass sie die großen Epen Indiens, das Rāmāyaṇa und das Mahābhārata, besonders die Bhagavad-Gītā und auch die Upanishaden, zu übersetzen begannen. 1785 veröffentlichte Sir Charles Wilkins die erste englische Übersetzung der Gītā in London – unglaublich, dass wir im Westen erst seit zwei Jahrhunderten von ihrer Existenz wissen. Ähnliche Übersetzungsarbeiten waren in Frankreich und Deutschland im Gange, und so sickerte der philosophische Schatz des Ostens allmählich in das Denkbewusstsein des Okzidents.

Zu jener Zeit gab es eine ziemlich scharfe Trennlinie zwischen der gelehrten Elite und der großen Mehrheit der Menschen, die akademisch ungeschult waren und sich deshalb zum Großteil des intellektuellen und spirituellen Einflusses dieser befreienden Ideen nicht bewusst waren. Die Verbreitung der Theosophie ab dem Jahr 1875 – zusammen mit der Veröffentlichung preisgünstiger Ausgaben der Gītā und der Yoga Sūtras des Patañjali – war der nötige Katalysator, um sowohl das populäre als auch das wissenschaftliche und philosophische Denken in der westlichen Kultur aufgehen zu lassen.

Heutzutage sind viele dieser östlichen Vorstellungen zum vertrauten Teil westlichen Denkens geworden: Karma und Reinkarnation, die Einheit von Mensch und Natur, die physische Welt als eine lediglich vorübergehende Erscheinungsform des Wirklichen und die Möglichkeit der Vereinigung mit der Quelle des Seins für jeden, der gewillt und fähig ist, sich der Schulung zu unterziehen. Hatha Yoga, Meditationstechniken und andere orientalische Methoden der Selbstkultivierung werden rasch dem okzidentalen Temperament angepasst, und man kann W. Q. Judges prophetischer Bemerkung nur zustimmen, dass eine Art von ‘westlichem Okkultismus’ bereits im Entstehen ist.

All das hat sowohl positive als auch negative Aspekte, wie es für jede Erneuerung nur natürlich ist, besonders wenn sie von spiritueller und intellektueller Bedeutung ist. Einige dieser Aspekte sind möglicherweise nicht so leicht zu erkennen, weil ihre Nebenwirkungen unter Umständen erst nach Jahren klar deutlich werden. Die Tatsache allein, dass eine Lehre oder Zeremonie alt ist oder aus dem Osten stammt, stellt weder eine Garantie für noch einen Grund gegen ihren spirituellen Wert dar. Deshalb muss alles, was wir sehen und hören, den Test unseres inneren Prüfsteins bestehen. Das wird zukünftig immer wichtiger, da die Sehnsucht nach Selbsttranszendenz die Gemüter einer wachsenden Anzahl ernsthaft Suchender bewegt. Viele der täglich in Seminaren, Workshops und Retreats angebotenen Wege der Selbstkultivierung versprechen Selbsttransformation innerhalb weniger Wochen. Sie behaupten, wir brauchten nur so und so viele Minuten zu sitzen und ein Mantra zu rezitieren oder einem Tonband mit einer unterschwelligen oder offenkundigen Botschaft zu lauschen, und Friede in unserem Denken, Entspannung, Einssein mit dem kosmischen Bewusstsein und die Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit wären unser!

Vielleicht ist das deshalb so, weil verschiedene Gurus im Westen viele Menschen gefunden haben, die nicht so sehr danach suchen, Mittel für eine Wendung nach Innen zu finden, sondern vielmehr nach einer Art Religion, welche die äußeren Lebensbedingungen verbessert. Die eigentliche Frage ist: Was ist das Motiv hinter dem Drang zu Selbsttranszendenz, zu Selbstidentifikation mit unserer Quelle? Sollten wir nicht etwas von uns opfern für das Privileg der ‘Gelassenheit, des Herzensfriedens, des Einsseins mit allem’? Niemand kann die innere Motivation eines anderen kennen, aber wir sollten unsere eigenen Motive hinterfragen, so weit wir sie erkennen können. Was auffällt bei dem gängigen Vertieftsein – nicht nur bei importierten orientalischen Systemen, sondern auch bei westlichen Selbstverwirklichungs-Programmen –, ist der Ansatz des ‘Für Sich’, ein Trend, der dem Pfad des Mitleids diametral entgegengesetzt ist.

Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass in den alten griechischen Mysterien die Stufen des Initiations-Vorgangs verschiedentlich aufgezählt wurden, oft allgemein als drei: Katharsis, Klärung, Reinigung der Seele; Muēsis, eine Prüfung oder Versuchung des Kandidaten, die Integrität seines Motivs und die Entschlossenheit seines Willens zu beweisen; und drittens – wenn erfolgreich – Epopteia, Offenbarung, das heißt hinter den Schleier der Natur ‘sehend’. Immer musste der Charakter in Übereinstimmung mit den edelsten Idealen gestaltet werden; nichts wurde ohne Opfer gewonnen. Die Seelenpflanze kann nur geboren werden, wenn der Same des Selbst stirbt.

Wahrer Okkultismus ist gelebter Altruismus in Kombination mit dem Wissen um die innere Struktur des Menschen und des Universums. Er erfordert von seinen Anhängern völlige Reinheit im Denken und Handeln und die höchste Selbstbeherrschung. Im esoterischen Zyklus von Lernen und Üben wird dem Neophyten als Erstes auferlegt, das Ideal des Selbstvergessens und der Liebe für alle Wesen, so weit er dazu in der Lage ist, anzunehmen. Nur wenn er gänzlich verstanden hat, dass von ihm verlangt wird, erst an andere und dann erst an sich zu denken, wird ihm erlaubt, seine Aufmerksamkeit der hohen Philosophie zuzuwenden: „Lebe das Leben und du wirst die Lehre kennen.“ Vor dem Beginn jeden speziellen Trainings-Programms sollten wir unsere inneren Motive prüfen, um sicher zu sein, dass unser höheres Selbst dem Weg, den wir ins Auge gefasst haben, zustimmen würde.

Wenn Selbsttranszendenz dauerhaft sein soll, wird sie nicht allein durch äußere Mittel erlangt. Sie tritt ohne Formalität auf, in den stillen Rückzugsgebieten des eigenen innersten Selbst. Sobald die Lehren und der Pfad, den sie erleuchten, immer tiefer in den Kern unseres Wesens eindringen, wachsen und lernen wir darüber hinaus allmählich. Kein Training in Selbsttransformation kann sich mit dem inneren Wandel der Seelenqualität messen, der in der Stille stattfindet und dessen Wirkungen über den Tod hinaus andauern. Sie dauern an, weil sie in der spirituellen Natur aufgezeichnet sind.

Von außen nach innen zu arbeiten, mag recht schnell zu gewissen Ergebnissen führen, aber weil sie selten über die mentalen und emotionalen Seiten unserer Natur reichen, werden sie kurzlebig sein. Wenn sich unsere Gedanken und Gefühle auf andere konzentrieren, bilden sie starke spirituelle Charakterspuren, welche die Zyklen überdauern. Einfach ausgedrückt: Wenn unser Hauptinteresse die ganzherzige Hingabe an das Ideal und die Ausübung von Bruderschaft ist, so dass wir sie schließlich universal leben, wenn wir diesem Ziel treu bleiben können, wird dies unser Rettungsanker in die esoterische Wirklichkeit sein.

Gedanken wie diese verleihen vielen Trends, die an Popularität gewinnen, eine neue Perspektive. Yoga zum Beispiel gehört im Westen beinahe zum Alltag, wobei Hatha Yoga in seiner einfachsten Form am populärsten ist. Yoga bedeutet „Vereinigung“, es stammt vom Sanskrit-Verbum yuj, „verbinden, vereinen, zusammenspannen“. Es bezog sich ursprünglich – und tut es noch in seiner reinen Bedeutung – auf die Suche nach der Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen im Innern: die unio mystica oder mystische Vereinigung der frühen Christen und der mittelalterlichen Mystiker, die danach suchten, die Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen oder dem Bild Gottes im Innern zu erlangen.

Es gibt viele Arten von Yoga, und sie sprechen verschiedene Temperamente an: Bhakti Yoga, „Yoga der Hingabe“; Karma Yoga, „Yoga der Tätigkeit“; Jñāna Yoga, „Yoga des Wissens“; und andere. Der Pfad von Rāja Yoga45 ist die „königliche Vereinigung“ des persönlichen Selbst mit dem erleuchteten Selbst. Es ist nicht entscheidend, welchen Pfad wir äußerlich einschlagen, solange wir unser inneres Ziel auf das Höchste im Innern richten. „Auf welche Weise sich ein Mensch mir nähert, auf diese Weise helfe ich ihm; aber welchen Pfad die Menschheit auch einschlägt, jener Pfad ist meiner.“46

Heute gibt es im Westen viele Menschen, die Yoga ausüben und deren Ziel es ist, ihre physische Gesundheit wiederherzustellen und – wenn möglich – einige der außerordentlichen Belastungen abzuschwächen, welche die Menschen in diesen kritischen Zeiten beschweren. Wir wären jedenfalls gut beraten, kurz innezuhalten, bevor wir ausgeklügelte Atem- oder andere Techniken ausführen, die – wenn sie unklug angewendet werden – mit dem richtigen Wirken der Prāṇas in Konflikt geraten. Praṇa ist ein Sanskrit-Wort für die fünf oder sieben „Lebensatem“, die durch den Körper zirkulieren und ihn gesund erhalten.

Die Chinesen haben Jahrhunderte lang gelehrt, dass gute physische und psychische Gesundheit von der Balance zwischen Yin und Yang abhängt. Wenn man, wie unwissend auch immer, den rhythmischen Fluss des Ch’i – ihre Bezeichnung für Praṇa – durch die zwölf ursprünglichen Meridiane oder Energiekanäle des Körpers stört, kann ein Ungleichgewicht von Yin/Yang die Folge sein. Mit anderen Worten, wenn die natürlichen Kraftlinien gestört werden, kann eine Beeinträchtigung der pranischen Balance auftreten, oft mit ernsten Konsequenzen. Anstatt sich auf die psychischen und physischen Aspekte der Konstitution zu konzentrieren, ist es weitaus besser, die Aufmerksamkeit auf die spirituellen, die höheren mentalen und moralischen Fähigkeiten zu richten. Wenn die innere Balance erreicht wird und für die Gesundheit grundlegende Richtlinien beachtet werden, wird der physische Wille mit der Zeit das Gleiche tun (wenn nicht – was vorkommen kann – stärkere karmische Hindernisse aufgearbeitet werden müssen).

Großer Nachdruck wird zu Recht auch darauf gelegt, sein inneres Zentrum zu finden. Dieses Sich-Zentrieren ist ein eigener individueller Vorgang des „Selbst-zu-Nichts-Werdens“, der Selbstentkleidung, wie es Mystiker nennen – unsere Natur von Äußerlichkeiten leer zu machen und eins zu werden mit unserem essenziellen Selbst. Es mag ein ganzes Leben dauern, um das vollständig zu erreichen – doch keine äußeren Umstände werden so wirksam sein wie „die Aufgabe des Selbst, um das Selbst finden zu können“.

Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind überall auf der Welt Gruppierungen entstanden, die Kurse für Selbsttranszendenz anpreisen. Diese Kurse bieten verschiedene Methoden zur Erlangung alternativer Bewusstseinszustände an: wie man Kuṇḍalinī oder das nahe am Ende der Wirbelsäule liegende „Schlangen-Feuer“ erweckt; wie man die Chakras aktiviert, wie man meditiert, indem man sich auf ein Dreieck, eine Kerzenflamme, einen Kristall, eine leuchtende Kugel oder die Wiederholung eines Mantras konzentriert. Diese und andere psycho-physische Praktiken werden in der Hoffnung ausgeführt, nirvanisches Bewusstsein zu erlangen. Ich würde für keine dieser Methoden eintreten, nicht weil sie essenziell falsch sind, sondern weil sie sich aufgrund unserer eingefleischten selbstsüchtigen Neigungen als schädlich erweisen können.

Heute ist der Hunger nach neuen und besseren Lebenswegen sehr groß. Die Menschen sehnen sich danach, in der scheinbar bedeutungslosen Folge von Krisen einen Sinn zu finden, und experimentieren mit alternativen Wegen – bei denen alles anders ist als das, mit dem sie aufwuchsen. Das ist ein Teil des weltweit beginnenden spirituellen und psychischen Erwachens, aber jede Methode der Selbstentwicklung ist ein hochriskantes Abenteuer, wenn wir sie ohne sorgfältige Überprüfung annehmen – das gilt im Besonderen für solche, die sofortige Ergebnisse versprechen. Wenn der Charakter instabil ist (und wer von uns ist vollkommen rein im Herzen und im Motiv?), kann die Invasion unserer Psyche durch verderbliche Einflüsse aus den niedersten Ebenen des Astrallichts sowohl der physischen als auch der mentalen Gesundheit schaden. Außerdem hat die Konzentration mentaler und psychischer Energie auf die vergänglichen Elemente der Natur den Nachteil, dass die Aufmerksamkeit vom Essenziellen auf Äußerlichkeiten gelenkt wird. Das kann nicht die wohltuende Wirkung haben, welche die altruistische und nicht selbstzentrierte Einstellung von Raja Yoga auf den Aspiranten hat. Dies gehört alles zur alten Weisheit, welche heute viele Menschen intuitiv erahnen und in ihrem Leben anwenden.

In der Bhagavad-Gītā gibt es einen Satz: Ātmānam ātmanā paśya – „erkenne das Selbst mittels des Selbst“. Das kann auf zwei Arten interpretiert werden: Erkenne das begrenzte Selbst, die Persönlichkeit, durch das leuchtende Selbst oder Ātman im Innern; oder erkenne das Ātman im Innern, das Licht des wahren Selbst, durch das Erwachen des persönlichen Selbst. Das Ideal ist, einen ungehinderten Fluss von Energie, von Bewusstsein zwischen unserer atmanischen Quelle und der Persönlichkeit zu erreichen. Wenn wir als Erstes danach trachten, uns selbst dem Höchsten im Innern zu opfern, erwecken wir die Feuer unseres höchsten Chakras, des atmanischen Zentrums, das seinerseits seinen Einfluss auf alle anderen Chakras ausstrahlen wird.

Wenn wir die sieben Prinzipien der menschlichen Konstitution als Lichtsäule betrachten – wobei jedes Prinzip siebenfältig ist – und uns zum Ziel setzen, dass Ātman zu erreichen, werden wir ziemlich bald auf das Subātman unseres psychischen Zentrums stoßen. Wenn wir uns jedoch zu stark auf diese Ebene konzentrieren, besteht nicht nur die Gefahr, dass wir von unserem Ziel abgelenkt werden, sondern leider auch, dass sich unsere Konstitution falsch ausrichtet.

Wenn wir uns ohne Anstrengung und jede Empfindung von Stolz selbst tief und ernsthaft dem Dienst für unser innerstes Selbst opfern, wird das Licht aus dem höchsten Ātman – das atmanische Unterprinzip unseres Ātman – unser gesamtes Wesen von oben nach unten erleuchten. Unsere Ausrichtung bleibt bestehen, weil unsere psychischen, intellektuellen und anderen Zentren von dem höchsten atmanischen Licht zum Leuchten gebracht werden, was einen verwandelnden Einfluss auf unser Leben ausüben wird.

Die Popularität von Meditations-Praktiken im Westen hat gewisse positive Ergebnisse gehabt und vielen Menschen geholfen, ihre tiefsitzenden Ängste zu bewältigen. Eine Besänftigung des Denkvermögens und Beruhigung der Emotionen, einige Augenblicke lang jeden Tag, ist therapeutisch: Indem wir absichtlich unsere Sorgen fallen lassen, werden wir innerlich frei und können uns wieder auf unsere Lebensaufgabe konzentrieren. Andererseits kann eine sehr intensive Förderung der Meditation zwecklos sein. Beispielsweise kann man sich daran stören, dass zum Beginn erst einmal Geld für ein Mantra verlangt wird, das verspricht, einen zu kosmischem Bewusstsein zu erheben. Niemand benötigt ein Mantra, um sein Bewusstsein zu den Höhen des Geistes emporzuheben und den Segen einer vorübergehenden Verbindung mit dem Höchsten im Innern zu empfangen.

Es gibt allerlei Wege zu meditieren und allerlei Wege, das höhere Bewusstsein zu erlangen. Wenn wir innerlich ruhig werden, wird vielleicht die innere Stimme in jenen stillen und doch klaren Mitteilungen, welche die Seele bewegen, gehört. Jeden Abend beim Zubettgehen können wir der Intuition das Tor öffnen, indem wir unser Wesen von allem Groll und allen Ärgernissen entledigen und das Herz von allen arroganten und unfreundlichen Gedanken und Gefühlen befreien. Wenn wir tagsüber ein wenig gestolpert sind, wollen wir das mit dem Willen zur Besserung anerkennen. Wir begeben uns dann in Harmonie mit unserem wahren Selbst, und das Bewusstsein ist frei, zu gehen, wohin es möchte. Das ist ein Mysterium, das wir nicht wirklich verstehen, aber das Wunder liegt darin, dass wir am Morgen geistig erfrischt aufwachen, mit einer neuen und warmen Empfindung für andere, und oft mit Antworten auf verwirrende Fragen.

Dieser einfachen Praxis zu folgen, wirkt auf allen Ebenen stärkend, und wir werden der Harmonie unserer Umgebung viel mehr etwas hinzufügen, als sie zu stören. Welchen Weg zur Selbstbesserung man auch immer verfolgt – Opfer sind erforderlich: Wir können nicht hoffen, Zugang zu den höheren Reichen des Seins zu erlangen, wenn wir das Eintrittsrecht nicht verdient haben. Nur jene, die rein von Zorn, Groll und selbstsüchtigem Verlangen kommen, sind geeignete Empfänger für die Schlüssel der Weisheit der Natur. Etwas anderes zu erwarten, bedeutet, das Risiko einzugehen, das Tor zu niederen Elemental-Kräften zu öffnen, was vielleicht schwer aus dem Bewusstsein zu verbannen ist. Gebet, Aspiration, Meditation sind dahingehend wirksam, dass sie überall in der Natur eine vibrierende Antwort hervorrufen; je glühender die Aspiranten sind, umso größere Kraft haben sie, die edlen (oder unedlen) Energien sowohl im Innern der individuellen Hülle als auch in der die Erde umgebenden aurischen Hülle zu aktivieren.

Wahre Meditation ist wahre Aspiration, ein „Atmen hin zum“ Göttlichen, ein Erheben des Denkens und des Herzens zum Höchsten, und als solches ist sie so essenziell für die Seele wie Nahrung für den Körper. Wenn wir unser Leben nach dem von unserem inneren Gott emanierenden Licht ausrichten möchten, müssen wir uns sehnen; aber wir wollen in unserer Intensität wachsam sein, damit wir nicht in die Sackgassen einer selbstsuchenden Natur geraten, die dazu neigt, die Aufmerksamkeit auf unseren eigenen Fortschritt, auf unsere eigene Größe und unsere eigenen Errungenschaften zu konzentrieren. Wo wir stehen – spirituell oder sonstwie –, ist schließlich von geringer Bedeutung im Vergleich zur Qualität unseres Beitrags zum Ganzen. Die entscheidende Frage lautet: Geben wir unser Bestes für diese Welt, so dass wir unserer Umgebung Wärme und Mut statt Herzlosigkeit und Trübsinn bringen?

Meister Eckhart, ein Mystiker des 14. Jahrhunderts, dessen reines Leben seinen Unterweisungen und Predigten noch heute Glanz verleiht, hat es vortrefflich formuliert:

Wenn jemand in einer Verzückung wäre wie der Heilige Paulus und ein kranker, hilfsbedürftiger Mensch da wäre, wäre es besser, aus der Verzückung herauszukommen und praktische Liebe auszuüben, indem man dem Bedürftigen hilft …

In diesem Leben erreicht kein Mensch den Punkt, an dem er vom praktischen Dienen entschuldigt werden kann.47

Die feinste Art der Meditation ist ein Ausrichten der Seele auf das Licht im Innern der Aspiration, von größerer Hilfe zu sein – ohne übertriebene Sehnsucht nach einer besonderen Offenbarung. Jede Meditations-Methode, die uns dabei hilft, unsere Selbstzentriertheit zu vermindern, ist nützlich; wenn sie die Ausrichtung auf das Ego stärkt, ist sie schädlich.

Es ist tatsächlich unsere Pflicht, nach Wahrheit zu suchen, wo immer sie sein mag; auch unser schärfstes Unterscheidungsvermögen unter allen Umständen – Wertvolles schätzend und doch wachsam gegenüber Falschheit – zu gebrauchen und zu wissen, dass jeder Mensch das unveräußerliche Recht hat, dem Pfad zu folgen, der ihm der beste erscheint. In Wirklichkeit ist der einzige Pfad, dem wir folgen können, derjenige, den wir aus unserem Innern entfalten im Wunsch, zu evolvieren und selbst das zu werden, was wir innerlich sind.

Ebenso wie die Spinne aus sich heraus die Seidenfäden spinnt, die ihr Netz bilden werden, so entfalten wir aus den Tiefen unseres Wesens genau den Pfad, der zu uns gehört. Unsere Herausforderung liegt darin, die Anweisungen unserer inneren Selbstheit weit mehr als die äußeren Anziehungen zu beachten; tun wir das nicht, verletzten wir uns selbst – und andere auch –, bis wir lernen. Mitunter erfordern diese Anweisungen eine Qualität von Selbstdisziplin und Mut, woran wir nicht gewöhnt sind, und das Opfer von Dingen, die wir schätzen. Aber alles, was als Opfer dargeboten wird, ist ein Nichts im Vergleich zu dem, wonach wir uns in unserem innersten Selbst sehnen.

Die fruchtbarste Meditation ist daher eine Versunkenheit des Denkens und der Aspiration in das edelste Ideal, das wir uns vorstellen können. Wir brauchen uns nicht um spezielle Haltungen, Techniken oder Gurus zu kümmern; es gibt ein natürliches Einfließen von Licht in unsere Natur, denn unser innerer Meister, unser wahrer Guru ist unser Selbst.


11 – Psychismus

Aus dem spirituellen Erwachen, das gerade stattfindet, ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die tieferen und gewöhnlich unbewussten Ebenen der menschlichen Psyche zu prüfen. Am einen Ende des Spektrums treffen wir in jeder Fachrichtung der Wissenschaft großartige Denker an, welche die Barriere der Materie niederreißen und neue Bewusstseinsdimensionen der Wechselwirkung von Seele/Denkvermögen/Körper untersuchen. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines neuen Modells für den Menschen als ein planetarisches Wesen in einem Universum, das als seine angeborene Heimat erkannt wird. Gemeinsam damit wird allgemein der Ruf danach laut, die Erde als unsere Mutter anzuerkennen, nach einer Ökologie von Denken, Geist und Körper, nach der Akzeptanz eines holistischen Zugangs zu Heilung und Medizin zusammen mit einer aufgeklärten Fürsorge für Alte, Kranke und Sterbende und ebenso für mental und emotional Behinderte. Am anderen Ende des Spektrums locken Verkäufer mit psychischem Nippes Tausende Menschen mit schillernden Angeboten für „einen direkten Weg zu letztendlicher Macht“ und Ähnlichem.

In der Mitte steht die rasch wachsende Zahl an Individuen und Organisationen, die alle Arten von Retreats, Seminaren und Workshops für psycho-physiologische Praktiken unterstützen: ein Zurückziehen der Sinne, Maßnahmen zur Selbstregulierung, Reinigung von psychischen Blockaden, Energieerweckungs-Techniken, Traumdeutung und -kontrolle, Stress- und Spannungsbehandlungen und alle Arten von „Therapien“ als Erfahrungshilfen, um an alternativen Bewusstseinsebenen teilzuhaben. Viele werden verwirrt und sind nicht fähig, das zu erkennen, was von bleibendem Wert ist.

Vorgewarnt zu sein, bedeutet, gewappnet zu sein: Solange wir wachsam und verantwortlich sind und mittels unseres inneren Prüfsteins die Wahrheit oder Falschheit dessen, was uns zustößt, überprüfen, gibt es keinen wirklichen Grund zur Angst. Aber es ist erforderlich, dass wir die Zügel der Entscheidung in unseren Händen behalten und selbst entdecken, in welche Richtung uns dieser oder jener ‘Pfad’, dieses ‘Versprechen’ oder jene ‘Initiation’ führt: zur Emanzipation der Seele oder zur Eitelkeit und einer noch größeren Unsicherheit über unsere Ziele. Gewiss lauern an jeder Grenze Gefahren, und wo die Grenzen der astralen Ebenen unserer Konstitution und des Globus liegen, ist eine größere Wachsamkeit umso dringlicher. Da wir es hier hauptsächlich mit nicht physischen Dimensionen zu tun haben, ist ein größeres Maß an Unterscheidungsvermögen notwendig.

Das erste Erfordernis besteht darin zu wissen, womit wir es zu tun haben. Was meinen wir mit ‘astral’? Ursprünglich aus dem Griechischen – astron, „Stern“ –, wurde der Begriff von den Philosophen, Alchimisten und Hermetikern des Mittelalters und der Renaissance für die feine, unsichtbare Substanz gebraucht, die unsere physische Erde einhüllt und durchdringt. Paracelsus bezieht sich darauf als das Siderische Licht, und Éliphas Lévi nannte es die Schlange oder den Drachen, dessen Emanationen oft die Menschheit plagen. Die Upanishaden Indiens gebrauchen den Begriff Ākāśa, „strahlend“, für die leuchtende Substanz, welche den gesamten Raum, die Sonne und den Mond, Blitze und Sterne und ebenso das Selbst (Ātman) des Menschen durchdringt. Die Stoiker hatten ihre Quintessenz, die ‘fünfte Essenz’ oder den Äther, von dem die vier niedrigeren Elemente abstammen, und die Römer ihre Anima Mundi, „Weltseele“, die sie sich als alle Wesen umgebend und belebend vorstellten. Für die meisten Völker in früheren Zeiten waren die Himmelskörper, Sterne und Planeten ‘Tiere’ – Lebewesen, die vom ‘Atem’ (Anima, Spiritus) des Lebens erfüllt waren. Sie waren Götter, die Sternen- und Planetenkörper als Mittel benutzten, um Erfahrung zu gewinnen, und jeder hatte seinen Nous und seine Psyche (seine noetischen und psychischen Aspekte, seinen Geist und seine Seele). Es gab nie einen Zweifel im Denken jener Menschen, die in den Mysterien über den engen und fortdauernden Zusammenhang von Mensch und Natur geschult waren.

In der modernen Theosophie wird der Begriff „astral“ für das feine Modell gebraucht, nach dem sich die physischen Körper sowohl des Menschen als auch des Globus aufbauen. Heute findet man das Wort astral häufig in parapsychologischen Zeitschriften, obwohl verschiedene Begriffe – wie Energiekörper, Bioplasma und ähnliche – gleichermaßen angewendet werden.

Das Astrallicht – wie das edlere Gegenstück der Erde im theosophischen Sprachgebrauch bezeichnet wird – reicht vom Dichtesten bis zum Ätherischsten und Spirituellsten, seine niedersten Ebenen sind beschwert durch den Bodensatz menschlichen Denkens und menschlicher Emotionen, seine höchsten Ebenen verschmelzen mit dem Ākāśa, durch das die höheren Wesen in seltenen Intervallen mit jenen in Verbindung treten, welche ihre Belange befehligen. H. P. Blavatsky bezieht sich auf das Astrallicht als „die große Bildergalerie der Ewigkeit“, weil es „einen getreuen Bericht über jede Handlung und sogar jeden Gedanken des Menschen und all dessen enthält, was im phänomenalen Universum war, ist und immer sein wird“.48

Da sämtliche Erfahrungen in der Aura der Erde und in unserer eigenen ihren Eindruck hinterlassen, ist das Astrallicht der Behälter und damit der Reflektor sowohl der altruistischsten Gedanken und Bemühungen als auch der niedrigendsten menschlichen Impulse der unzähligen Männer und Frauen, die jemals auf unserem Planeten gelebt haben. Es gibt einen ununterbrochenen Austausch: Wir drücken dem Astrallicht unseren Stempel auf, und das Astrallicht seinerseits hinterlässt uns seinen – ein Fluss der in und durch die Erde und ihre Naturreiche zirkulierenden astralen Energien in zwei Richtungen. Tatsächlich werden wir von den astralen Strömungen aller Zeiten umspült: Unsere Gedanken sind astral, ebenso unsere Gefühle. Während wir miteinander sprechen, benutzen wir astrale Gedankensubstanz. Wenn wir uns in innerer Harmonie befinden, können wir unwissentlich Botschaften der Wahrheit und Schönheit entweder von unserem inneren Gott oder von den höheren Regionen des Astrallichts (Ākāśa) empfangen. Wenn wir hingegen deprimiert sind und negativen Gedanken und Emotionen Zugang zu unserem Bewusstsein gewähren, können wir unwissentlich das Tor für niedere astrale Einflüsse öffnen. Wenn wir keine Herrschaft über uns selbst haben, ist es oft ausgesprochen schwer, jenes Tor willentlich zu schließen, und sogar noch schwieriger, es geschlossen zu halten. Für die nicht Geschulten und nicht Geübten können sich die Strömungen des Astrallichts außerdem als äußerst trügerisch und deshalb gefährlich erweisen. Sich voreilig – in Unkenntnis der damit verbundenen Gefahren und vor allem ohne den Schutz einer völlig unbefleckten Seele – an astrale und psychische Experimente zu wagen, ist so tollkühn wie ein Sprung in Treibsand.

Trotz der Mahnungen vor dem potenziellen Missbrauch unserer latenten psychomentalen Kräfte haben die psychischen Manifestationen bei allen Arten von Menschen in den letzten Jahrzehnten bemerkenswert zugenommen. In der Folge wuchs das Interesse an außersinnlichen Wahrnehmungen – an Levitation, Wahrsagerei, Kristall- und Pyramidenkräften, Psychokinese und allen Arten von astralen Aktivitäten – so gewaltig, dass wir uns dazu gezwungen sehen, einige Fragen aufzuwerfen: Ist es in unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium klug, die Kultivierung paranormaler Fähigkeiten wie in einem Gewächshaus zu erzwingen, wo wir noch derart egozentrisch sind? Sind wir durch innere Reinheit und Selbstbeherrschung ausreichend vorbereitet, mit astralen Kräften umzugehen, die bisher durch die natürliche Abschirmung unserer physischen Sinne für Oktaven jenseits des normalen Bereichs in Schach gehalten werden?

Was ist mit Channeling – der viel besprochenen „Gabe“ der Mediumschaft? Es ist kaum eine Gabe, denn ein Medium für die Übertragung der Botschaften von Wesen vom ‘anderen Ufer’ zu sein, mag eine Weile lang als guter Dienst an uns erscheinen, aber es geschieht oft, dass der Empfänger mit der Zeit zur Beute äußerer Kräfte wird, die sich außerhalb seiner Kontrolle befinden. Unsere psychiatrischen Stationen in Krankenhäusern und Gefängnissen erzählen die qualvolle Geschichte vieler Tausender unglücklicher Opfer psychischer Besessenheit. Und doch ist es alltäglich, ein Kanal zu sein. Wir sind – jeder von uns – ständig der Kanal oder Empfänger von Gedanken und Atmosphären, die in uns oder in der Familie, unter Freunden, Nachbarn, in unserer Nation und der Menschheit als Ganzes vorherrschen. Das ist unvermeidlich. Könnten wir nicht gelegentlich – üblicherweise trotz unseres gewöhnlichen Denkens – als Kanal für eine Inspiration fungieren, die wir hören, sehen oder fühlen, wenn wir vorübergehend zum Übermittler von Licht und Inspiration aus den ākāśischen Höhen werden? Darin liegt nichts Besonderes; das geschieht seit Millionen von Jahren, in jedem Land unter allen Völkern. Aber das ist etwas ganz anderes als die Art von Channeling, das in den Schlagzeilen steht.

Was ist andererseits mit denjenigen, die schändliche Taten begehen? Viele wissen kaum, weshalb oder was sie dazu gebracht haben mag, zu morden oder zu rauben. Erlaubte die inhärente Willensschwäche das Eindringen böswilliger Kräfte aus den niedersten Teilen des Astrallichts in ihre Psyche? Während die Natur alle Dinge für das letztlich Gute benutzt und sich erweiterte Einsichten im Laufe der Zeit wohl einstellen werden, könnte das Channeln viele ernsthafte Sucher von ihrem wahren Ziel abbringen und sie im schlimmsten Fall in einen psychischen Strudel und möglicherweise in unbewusste Zauberei stürzen.

Wir können aus Macbeth lernen: Als er von den Hexen von Endor erfährt, dass er der Than von Cawdor wird, wird ihm fast unmittelbar bange. Wird wirklich alles so, wie sie es voraussagen? Während Banquo Macbeth in großer emotionaler Aufruhr, zwischen Gier und Angst schwankend, beobachtet, grübelt er:

Aber seltsam!
Oft, uns in eignes Elend zu verlocken,
Erzählen Wahrheit uns des Dunkels Schergen,
Gewinnen uns durch Ehrlichkeit im Kleinen,
Um uns im Größten zu verraten.

Macbeth, Erster Aufzug, 3. Szene

Genau das passiert vielen Empfängern von ‘Botschaften’ der ‘Jenseitigen’. Astrale Wesenheiten, von Medien gechannelt, überzeugen uns zu Beginn oft mit wahren Details, die uns reizen, nur um uns später bei Angelegenheiten mit ernsthaften Folgen zu täuschen.

Dann gibt es Menschen, die an ‘astralem Reisen’ interessiert sind, indem sie aus dem Körper austreten und versuchen, ihr Ātman zu erreichen, oder um Menschen, andere Länder, Planeten oder Ebenen astral zu besuchen. Viele glauben ernsthaft, sie könnten auf diese Weise Freunden oder Verwandten helfen. Um zu verstehen, warum es kein weiser Weg ist, die Vereinigung mit dem eigenen Ātman oder göttlichen Selbst zu erlangen, müssen wir mehr über die siebenfältige Natur des menschlichen Bewusstseins wissen: über das göttliche, das spirituelle und das höhere Denkvermögen, das niedere Denkvermögen zusammen mit dem Wunschprinzip und das vitale, astrale und physische Bewusstsein. Der Wunsch/mentale Teil des Menschen bildet unser gewöhnliches persönliches Selbst, und wenn dieses durch das intuitive und höhere Denkvermögen erleuchtet ist, haben wir eine erwachte Seele. Seele ist ein recht weitläufiger Begriff, der für viele Aspekte unseres Wesens verwendet werden kann. Gewöhnlich sprachen die Griechen von Nous als dem höheren Denkvermögen, der höheren Intelligenz, und von Psyche, der Tochter von Nous, als der Seele.

Eine dogmatische Haltung anzunehmen und grundlos alle außergewöhnlichen Phänomene zu verurteilen, ist jedoch genauso kurzsichtig, wie alles als astral oder psychisch zu billigen. Urteilsvermögen ist vonnöten: Die Weisheit der Zeitalter hat gezeigt, dass das weite Öffnen des Eingangs zu astralen Reichen dem Öffnen von Pandoras Büchse voller elementaler, sowohl gutartiger als auch bösartiger Energien gleichkommt. Wir warnen davor, von altruistischer Absicht abzuweichen: Wie unschuldig das Motiv zu Beginn vielleicht auch sein mag – die Freude über schnelle Erfolge führt allzu oft zu einer Aushöhlung des moralischen Prinzips. Die menschliche Natur ist immer für Aufforderungen zum eigenen Nutzen empfänglich; je getarnter sie sind, umso mehr ist Vorsicht geboten, damit die Saat des Stolzes nicht unbemerkt keimt. Psychische Eitelkeit bildet in vielen und sonderbaren Formen eine überaus verlockende Falle, indem sie die Bemühungen auf der persönlichen Ebene bindet, statt sie frei zu machen, um auf den Ruf des eigenen tiefsten Wesens zu antworten.

Es gibt natürlich viele Arten psychischer und astraler Verwicklung. Wie vorher angemerkt, gebrauchen wir ständig nicht-physische Kräfte: Liebe, Hass, Denken und Emotion jeder Art sind Manifestationen psychischer oder spiritueller Fähigkeiten. Die meisten Menschen sind außerdem natürlich telepathisch veranlagt und erleben Gedankenübertragung häufiger, als es ihnen bewusst ist, besonders bei den ihnen nahe stehenden Menschen. Dann gibt es die sensitiven Menschen, die eine Art sechsten Sinn haben, der – wenn er sich unbeabsichtigt und auf eine völlig natürliche Weise manifestiert – oft ein Schutz für andere und für sich selbst ist. Werden diese Kräfte allerdings aus Eitelkeit, als eine Selbstgefälligkeit oder als ein Weglaufen vor der Disziplin täglicher Verantwortung gesucht, werden sie ohne weiteres zu einer Gefahr. Diejenigen, die einen ‘Geist-Führer’ haben, die davon schwafeln, dass sie ‘Glocken’ hören oder durch automatisches Schreiben die ‘wunderbarsten Lehren’ erhalten, sollten sich davor hüten, dass das, was sie ‘sehen’ oder ‘hören’, vielleicht keine Weisheit ist, „die von oben kommt, sondern eine irdische“ (Brief des Jakobus 3:15) – oder wie Kerzenlicht im Vergleich zum Glanz der Sonne.

Unter dem Risiko, zu sehr zu vereinfachen, wollen wir eine Parallele zwischen dem Schicksal des Alkoholikers und des psychisch Abhängigen ziehen. Bevor sie bemerken, was geschieht, werden sie von einer Kraft außerhalb ‘besessen’, und sie sind machtlos, diese zu kontrollieren. Geradeso wie Eisenspäne durch eine magnetische Kraft zu Linien angeordnet werden, so werden ‘Elementalwesen’ vom Astralkörper der Erde zu demjenigen hingezogen, der sich ihnen öffnet; und die niedersten Astralebenen sind mit den bösesten Gedanken der Menschheit überladen. Glücklich sind diejenigen, deren reine Güte ihnen Schutz bietet, denn sie werden nur auf das antworten, was ihnen verwandt ist.

In buddhistischen Schriften finden wir Warnungen vor dem unangebrachten Gebrauch unserer psychischen Fähigkeiten. In einem der Texte des Pāli Kanons49 wird von einer Episode mit einem Kaufmann aus Rājagaha berichtet, der einen Block aus Sandelholz erwarb und daraus eine wunderschöne Schale machen ließ. Er forderte alle, die behaupteten, Iddhi50 – „Kraft, Handwerkskunst, Geschicklichkeit“ – zu besitzen, dazu auf, diese Schale von der Spitze eines sehr hohen Bambus zu holen; dem Erfolgreichen sollte die Schale gehören. Viele spielten mit der Idee, aber gingen nicht weiter. Schließlich trat der ehrenwerte Mönch Bhāradvāja vor, „erhob sich in die Luft, nahm die Schale und ging drei Mal“ um Rājagaha herum. Die Dorfbewohner waren in Ekstase und begannen zu schreien und ihm nachzulaufen. Als Buddha vom Grund dieses unsinnigen Benehmens erfuhr, rief er die Mönche zusammen. Als Bhāradvāja erklärte, dass er tatsächlich die Schale durch den Gebrauch von Iddhi geholt hatte, sprach der Buddha zu ihm und den versammelten Mönchen:

Das ist unrichtig, Bhāradvāja, nicht der Regel entsprechend, unpassend, unwürdig eines Samaṇa [Einsiedlers], unschicklich und sollte nicht getan werden. Wie kannst du, Bhāradvāja, um einer armseligen hölzernen Schale willen für den Laien die übermenschliche Eigenschaft der wunderbaren Kraft von Iddhi zur Schau stellen?

– Ebenda, S. 80

Nach diesem Tadel sprach der Buddha über spirituelle Themen und sagte dann zu den versammelten Mönchen:

O Bhikkus, ihr sollt nicht vor den Laien die übermenschliche Kraft von Iddhi zur Schau stellen. Wer auch immer das tut, soll einer Dukkaṭa [einer Beleidigung] schuldig sein. Brich jene hölzerne Schale entzwei, o Bhikku; und wenn du sie zu Pulver zermalen hast, gib sie den Bhikkus als Parfum für ihre Augensalbe.

– Ebenda, S. 81

Selbst wenn wir gewissenhaft an der alten Vorschrift gegen den unrichtigen Gebrauch von paranormalen Kräften festhalten, treten tiefgreifende innere Veränderungen sowohl im Charakter als auch in der Konstitution auf, wenn die Pāramitās („transzendentale Tugenden“ – siehe Kapitel 13) über längere Zeit mit Fleiß ausgeübt werden. Das Individuum wird besonders bei der Übung von Dhyāna, „Meditation, Konzentration“, entdecken, dass bestimmte Iddhis aktiviert werden. Das geht nicht in die falsche Richtung, vorausgesetzt man bewahrt Stillschweigen, inneres Gleichgewicht, ein reines Motiv und Wachsamkeit gegenüber psychischer Eitelkeit.

All das verdeutlichte HPB zur Genüge in den Vorbemerkungen und Regeln, die sie Bewerbern schickte, welche der neu gegründeten Esoterischen Sektion (1888) beitreten wollten:

Dem Schüler wird – außer in Ausnahmefällen – nicht gelehrt, wie physische Phänomene hervorgebracht werden, ebenso ist ihm keinerlei Entwicklung magischer Kräfte in sich gestattet; wenn er solche Kräfte natürlich besitzt, wird ihm auch nicht gestattet, sie auszuüben, bevor er nicht die Kenntnis des SELBST gründlich gemeistert hat … bis er all seine niederen Kräfte und sein PERSÖNLICHES SELBST außer Kraft gesetzt hat.

9. Kein Mitglied soll vorgeben, im Besitz von psychischen Kräften zu sein, die er nicht hat, noch sich jener rühmen, die er vielleicht entwickelt hat. Neid, Eifersucht und Eitelkeit sind heimtückische und mächtige Feinde des Fortschritts, und aufgrund langer Erfahrung ist bekannt, dass vor allem unter Anfängern das Prahlen mit oder das Lenken der Aufmerksamkeit auf ihre psychischen Kräfte beinahe unweigerlich die Entwicklung dieser Fehler bewirkt und sie verstärkt, wenn sie da sind. Daher –

10. Kein Mitglied soll irgendjemandem, außer einem anderen Mitglied, erzählen, wie weit er vorangekommen ist oder welche Erkenntnis er gewonnen hat, auch soll er diese nicht durch Hinweise bekannt machen.51

Obgleich außergewöhnliche Phänomene unter bestimmten Umständen eine Funktion haben, sind sie nur der äußere Ausdruck eines edleren Zustands. Glücklicherweise hat die große Mehrheit sowohl in früheren Zeiten als auch heute ein angeborenes Warnsignal gegen das Zulassen von irgendetwas Psychischem in ihrem Leben: entweder aus einer natürlichen Angst vor dem Unbekannten oder weil sie diesen Weg im gegenwärtigen oder in einem früheren Leben schon gegangen sind und ihn als eine Sackgasse erkannt haben. Bei manchen Menschen ist der Ausbruch von Hypersensitivität spontan; bei anderen wird er durch Programme zur Kontrolle des Denkvermögens oder durch Drogen herbeigeführt. Zweifellos nehmen bei diesem Aufeinandertreffen der Zyklen – wenn das Fischezeitalter zu Ende geht und das Wassermannzeitalter global zum beherrschenden Einfluss wird – die psychischen Manifestationen gemeinsam mit einem intensivierten Interesse an und einer Kultivierung von einst latenten Fähigkeiten zu. Wenn ein Mensch mit seiner mehr oder weniger entwickelten psychischen Natur geboren wird, sollten wir sie als das erkennen, was sie ist, aber ihre Bedeutung nicht übertreiben. Teilweise zeigen aufgrund der dünner werdenden Barriere zwischen dem Physischen und dem Astralen heute viel mehr Menschen, sogar sehr kleine Kinder, psychische Neigungen.

H. P. Blavatsky sah voraus, dass die Menschheit rasch in einen „neuen Zyklus eintritt, [in dem] die latenten psychischen und okkulten Kräfte im Menschen zu keimen und zu wachsen beginnen“. Sie fügte jedoch hinzu: „Begreifen Sie ein für alle Mal, dass in keiner einzigen dieser Manifestationen irgendetwas ‘Spirituelles’ oder ‘Göttliches’ ist.“52 In ihrem vierten Brief an die amerikanischen Theosophen, geschrieben im April 1891 kurz vor ihrem Tod, legte sie eindringlich nahe, „deshalb sorgfältig diese Entwicklung, die in Ihrer Rasse und Evolutions-Periode unvermeidlich ist, zu beobachten, so dass sie letztendlich zum Guten und nicht zum Bösen wirkt“. Ihre Warnung war deutlich:

Das Psychische mit all seinen Verlockungen und Gefahren entwickelt sich notwendigerweise unter Ihnen, und Sie müssen sich davor hüten, dass die psychische nicht der manasischen [mentalen] und spirituellen Entwicklung vorauseilt. Vollkommen unter Kontrolle gehaltene psychische Fähigkeiten, die vom Manas-Prinzip überprüft und geleitet werden, sind wertvolle Hilfen in der Entwicklung. Wenn aber diese Fähigkeiten wild wuchern und die Herrschaft übernehmen, statt kontrolliert zu werden, und wenn sie uns benutzen, statt benutzt zu werden, dann führen sie den Schüler in die gefährlichste Verblendung und in den sicheren moralischen Untergang.

– Ebenda, S. 44

Bemerkenswert ist jedenfalls der Unterschied zwischen der heutigen Betonung des psychischen Interesses und jenem der letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In jener Zeit fühlten sich – abgesehen von denen, die wie in allen Zeiten vom Glanz der Phänomene gefangen waren – nur verhältnismäßig wenige der unerschrockeneren Denker angezogen, denn die wissenschaftliche und kultivierte Welt rümpfte über solche Vorgänge zum größten Teil die Nase. Im 20. Jahrhundert und besonders während seiner letzten Jahrzehnte wurde das Potenzial des menschlichen Bewusstseins im Besonderen und paranormaler Phänomene im Allgemeinen zum Gegenstand kontrollierter Versuche. Experimente auf diesem und ähnlichen Gebieten werden von Neurologen und anderen in dem Bemühen durchgeführt, in die inneren Schichten des menschlichen Bewusstseins vorzudringen. Gleichzeitig findet eine sehr gefährliche Forschungsarbeit statt. Wir müssen nur einen Blick auf gängige ‘metaphysische’ Zeitschriften werfen, um zu sehen, wie unheilverkündend der Trend bei manchen dieser Forschungsarbeiten und den sich daraus ergebenden Praktiken weltweit ist.

Glücklicherweise ist sich eine Anzahl von Forschern auf diesem Gebiet der inhärenten Risiken, besonders für mental und psychisch labile Menschen, bewusst. Einige von ihnen sprechen sich offen gegen ‘hypnotisches Programmieren’ aus und warnen vor psychischer Verschmutzung, für die sich hypnotisierte Opfer selbst öffnen. Wir können die Gefahr, sich selbst dem Willen oder der Aura eines anderen zu unterwerfen, nicht genug betonen. Es ist nicht zu empfehlen, es ist nicht ratsam. Wir müssen jederzeit Herr über uns selbst sein; und uns selbst auch nur unbewusst der Herrschaft eines anderen auszusetzen, bedeutet die Schwächung unserer innewohnenden Kraft, mit unserem Leben fertig zu werden, in eben diesem Maß.

Wir Menschen sind hier mit einem riesigen Potenzial an Kraft, die wir während vieler Leben hervorgebracht haben und die wir entlang jener uns rechtmäßig zustehenden Schicksals-Pfade zu lenken lernen. Während wir uns gegenseitig beeinflussen und dabei in einem gewissen Grad auf das Karma der anderen einwirken, hat niemand – kein Gott im Himmel, kein Dämon in der Hölle, kein Meister oder Adept – das Recht, sich in das innere Leben irgendeines Menschen einzumischen. Würde einer dem anderen gestatten, ihm seinen Willen aufzudrängen und in die Zitadelle der Selbstheit einzudringen, würden wir unser Menschsein herabsetzen und die Absicht unseres höheren Selbst prostituieren.

Vor allem junge Menschen sollten sich des potenziellen Risikos bewusst sein, denn sie werden im Laufe der Jahre dieser Art des Eindringens mehr und mehr begegnen. Physischer Krieg ist nicht annähernd so gefährlich wie die Kontrolle des Willens und des Denkvermögens, die zunehmend subtilere Formen annimmt. Eines Tages in diesem Jahrhundert wird der Krieg auf dem Schlachtfeld hoffentlich ein Alptraum der Vergangenheit sein. Wir müssen jedoch wachsam bleiben, denn der Kampf wird sich hauptsächlich auf die mentalen und psychischen Ebenen konzentrieren. Dann werden so wie heute Mut und Unterscheidungsvermögen notwendig sein, um die unterschwelligen Pfeile abzuwehren, die das innere Gewebe unseres Wesens durchbohren könnten.

Wie können wir uns gegen psychische Invasion schützen? Ein sicherer Schutz besteht darin, sich der Gefahren bewusst zu sein, jedoch ohne Angst. Sobald sich Angst, wirkliche Angst, in uns festzusetzen droht, werden wir – wenn wir unserem tiefsten Wesen innen völlig vertrauen – wissen, dass uns nichts berühren, keine Wesenheit und kein Ding unser wahres Selbst verletzen kann. „Vollkommene Liebe vertreibt die Angst.“ Die Liebe muss aufrichtig sein, selbstvergessen, bedingungslos. Unser Bewusstsein beharrlich in eine selbstlose Richtung zu lenken, mit reinem Motiv, ist ein natürlicher Schutz.

Während wir in die Zukunft steuern, wäre es am besten, uns über die raschen Veränderungen in unserem Bewusstseinsfeld klar zu werden. Es obliegt uns, die Natur unserer vielschichtigen Konstitution vom Physischen bis zum Spirituellen zu verstehen und so die dringende Notwendigkeit für jeden von uns zu erkennen, nämlich Herr über unsere eigenen Entscheidungen zu sein. Indem wir zuerst unsere moralischen und spirituellen Fähigkeiten stärken, werden sich unsere mentalen und psychischen Kräfte proportional dazu entwickeln; wir werden in einer besseren Position sein, sie weise und zum Nutzen aller einzusetzen. Die Weisheit der Zeitalter wird in den Worten Jesu zum Ausdruck gebracht: „Sucht erst das Himmelreich Gottes [des Geistes] … und alle diese Dinge werden euch zusätzlich gegeben werden.“

Die gegenwärtig vor uns liegende Herausforderung besteht nicht in der Frage, wie wir die Flutwelle des psychischen Experimentierens stoppen können, sondern wie wir helfen können, ihr die notwendige Aufwärtsrichtung zu geben, damit sie „schließlich zum Guten und nicht zum Bösen arbeitet“. Die Zukunft steht offen, mit riesigen Möglichkeiten sowohl für Fortschritt als auch für Rückschritt. Was auf die künftigen Generationen zukommt, können wir nicht vorhersagen. Ihr Dilemma und ihre Gelegenheit mögen sich ebenso wie unsere heute darauf konzentrieren, wie man sich innerlich darauf vorbereitet, die nötige moralische Reinheit und Charakterstärke zu erlangen, um dem andauernden Eindringen astraler und psychischer Einflüsse – aus sich selbst, von anderen und vom Astrallicht der Erde – in die Gedankenatmosphäre unseres Planeten zu begegnen.

Wir fragen noch einmal: Warum sind so viele daran interessiert, außersinnliche Kräfte zu erlangen? Welchen Nutzen wird das für irgendjemanden haben? Angenommen, wir lernen Gedanken zu lesen, in unserem Astralkörper zu reisen, die Zukunft vorherzusagen – wäre irgendetwas von spirituellem Wert gewonnen? Mehr auf den Punkt gebracht und vielleicht die einzig entscheidende Frage: Was ist unsere wahre Motivation im Leben? Wenn wir das ehrlich beantworten können, zur Zufriedenheit sowohl des Intellekts als auch der Intuition, erkennen wir vielleicht, dass wir unser Interesse auf die Geistseele konzentrieren müssen, wo ich und Sie eins sind – nicht auf das Psychische und Physische, die am wenigsten dauerhaften Teile unserer Konstitution.

Die Gestaltung des Charakters ist eine ständige Herausforderung: die Verwandlung von Selbstsucht in Altruismus, von persönlichen Interessen in die Wärme des Mitleids – eine langsame, geduldige Alchemie.


12 – Die zwei Pfade

Niemand hat einen so tiefgreifenden Einfluss auf das Schicksal der menschlichen Rasse ausgeübt wie die Erleuchteten – diejenigen, die nach dem Erlangen von Allwissenheit, der Glückseligkeit Nirvanas, von den Höhen zurückkehren, um mit ihren jüngeren Brüdern, die sich noch in Unwissenheit und Verwirrung abmühen, in den Tälern zu leben. Als Beispiele der Liebe, die sie die Äonen hindurch für alle Lebewesen hervorgebracht haben, gehören sie zu der heiligen Hierarchie des Lichts, und ihr Opfer bleibt ein Signalfeuer in der Finsternis unseres Lebens.

Das Mitleid spricht: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“

Der PFAD ist einer nur, o Schüler, doch er gabelt sich am Ende. Seine Teilstrecken sind durch vier und sieben Tore gekennzeichnet. Am einen Ende steht unmittelbare Seligkeit, am anderen ist sie noch hinausgeschoben. Beide sind des Lohnes wert. Die Wahl jedoch musst du selbst treffen.

Die Stimme der Stille, S. 94, 60-1

In diesen Fragmenten aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“ überliefert HPB für den „täglichen Gebrauch“ des modernen Schülers die uralte Lehre, dass wir vom ersten bis zum letzten Schritt wählen und dabei unseren Charakter und das Karma, welches zu dieser erhabensten Wahl führt, gestalten. Sie widmet ihre Stimme der Stille der Wahl zwischen den zwei Pfaden der spirituellen Disziplin, welchen der „Kandidat der Weisheit“ gegenübertritt: Der eine ist der Pfad der Befreiung, Erleuchtung für sich selbst und endet in Nirvana ohne weitere Rückkehr zur Erde; der andere, jener der Entsagung, ist ein langsamerer und herausfordernder Pfad, der von jenen gewählt wird, die dem von Buddha und Christus aufgezeigten Pfad des Mitleids folgen möchten. Sie erinnern sich beim Erlangen des Lichts und Friedens der nirvanischen Weisheit an ihre Mitmenschen und kehren zurück, um jene zu inspirieren, die auf sie hören, um zu erwachen und die heilige Suche fortzusetzen.

Dieser zweifache Pfad spirituellen Strebens wird anschaulich in der Tradition des Mahāyāna-Buddhismus dargestellt. Der eine Pfad, Pratyeka-Yāna, „der Pfad für sich selbst“, hat als sein Ziel Nirvana, Befreiung von allem, was nicht spirituell und irdisch ist. Das ist der Weg, dem jene Schüler, Mönche und Aspiranten folgen, die Erleuchtung nur für sich selbst, die eigene Erlösung und Befreiung aus dem endlosen Zyklus von Geburt und Wiedergeburt suchen. Die frühen Orientalisten beziehen sich auf den Pratyeka als einen „eigenen Buddha“, weil sie das Ziel allein anstreben und keine „lehrenden“ Buddhas sind. Es ist ein „Für-sich-Selbst“ oder eigenes Streben nach Nirvana, welches Beharrlichkeit bei der Konzentration auf die eigene Aspiration und das Bemühen um Selbstbemeisterung durch Reinigung des Motivs und Kontrolle von Körper, Sprache und Denkvermögen erfordert. Und doch ist dieser Pfad aufgrund seiner Selbstzentriertheit selbstsüchtig für das eigene Selbst. Wie die Stimme der Stille sagt: Der Pratyeka-Buddha „huldigt nur seinem Selbst … kümmert sich nicht um das Leid der Menschheit und seine Linderung“ (S. 63, 116) und tritt in den Glanz und die Weisheit und das Licht Nirvanas ein.

In der Pāli-Schrift The Questions of King Milinda53 werden „sieben Klassen des Denkens“ beschrieben, wobei der Pratyeka-Buddha zur sechsten gehört, der keinen Lehrer sucht und allein „wie das einzige Horn des Rhinozeros“54 lebt. Seine Weisheit ist nur so wie die, die in „einem seichten Bach auf seinem eigenen Grund und Boden“ enthalten ist, wogegen die Weisheit eines vollkommenen und vollständigen Buddhas jener „des mächtigen Ozeans“ gleicht.

Eine andere Schrift bezeichnet das Wissen eines Pratyeka-Buddhas als „begrenzt“, obwohl er angeblich alles über seine früheren Geburten und Tode weiß. Dagegen sind die vollständigen und vollkommenen Buddhas des Mitleids allwissend, weil sie – wenn erforderlich – über die gesamten Ressourcen des Wissens verfügen und sich direkt auf „jeden Punkt ausrichten können, an den sie sich zu erinnern wollen – über viele Male 10 Millionen Weltzyklen“, und so erkennen sie sofort die exakte Wahrheit jeder Situation, jedes Menschen oder Ereignisses.55

Im Tibet des 14. Jahrhunderts war Tsong-kha-pa ein Übermittler der Buddha-Weisheit. Er sprach über die Pratyeka-Buddhas als Allein-Erkennende von „mittelmäßigem“ Vermögen: Obwohl sie in ihrer Entschlossenheit ausharren, sind ihr Verdienst und ihre Weisheit begrenzt, weil sie ihre Bemühungen „nur um derentwillen“ erbringen – im Gegensatz zu dem Buddha, der zum Bodhisattva wird, welcher „das altruistische Denken der Erleuchtung vom ersten Moment an“ in sich trägt.56

Der Amṛita-Yāna, der ‘todlose Pfad’, ist – wenn auch langsamer und anstrengender – unendlich wunderbarer, denn er unterscheidet sich durch das edle Ideal des Tathāgata, die Nachfolge der Mitleidsvollen, die „so gegangen und so gekommen“ sind. Von dieser Art war der Bodhisattva-Gautama, der das Nirvana der vollständigen und vollkommenen Weisheit zurückwies, um unter den Menschen zu leben und zu arbeiten und so dem Rad des Gesetzes (Dharma) einen neuen Anstoß zu verleihen. „Welchen Grund sollte ich haben, mich ständig zu manifestieren?“ – außer in der Absicht, empfängliche Seelen zu aktiver Teilnahme an der uralten Suche zu erwecken. Der Buddha fährt fort:

Wenn die Menschen ungläubig, unweise, unwissend, sorglos, sinnlichen Vergnügungen zugetan sind und durch Gedankenlosigkeit ins Unglück stürzen,

Dann erkläre ich, der ich den Lauf der Welt kenne: Ich bin so und so [Tathāgata], (und bedenke): Wie kann ich sie für die Erleuchtung geneigt machen? Wie können sie zu Teilhabern an den Buddha-Gesetzen (Buddhadharmāṇa) werden?57

Buddhistische Texte sprechen über eine Reihe von Buddhas, von denen Gautama der 7. war. Sein 45 Jahre dauerndes geistliches Amt stellte den Höhepunkt von Entscheidungen dar, die unentwegt viele Leben hindurch „zum Wohl von Göttern und Menschen“, Tieren und allen Lebewesen getroffen worden waren. Während seiner letzten Inkarnation als Prinz Siddhārta hatte ihn sein Vater, der König, von allem, was hässlich und schmerzlich war, abgeschirmt. Aber im Alter von 29 Jahren konnte der Ruf, nach der Wahrheit der Dinge selbst zu suchen, nicht mehr unterdrückt werden. Einer Legende nach verließ der verkleidete Gautama den Palast mit seinem Wagenlenker und war in drei aufeinander folgenden Nächten drei „erweckenden Anblicken“ ausgesetzt: einem alten Mann, einem Leprakranken und einer Leiche; und schließlich einem Einsiedler, der der Welt entsagt hatte. Er war zutiefst erschüttert. Tiefes Mitleid erfüllte sein Wesen, er wollte nach der Ursache und der Heilung für menschliches Leid suchen. Er verließ sein Zuhause, seine wunderschöne Frau und einen kleinen Sohn und allen materiellen Komfort für eine Bettelschale und das Kleid eines Mönchs. Sechs Jahre lang experimentierte er unklug und unterzog sich den strengsten Entbehrungen, bis ihm – durch Schwäche und Hunger dem Tod nahe – seine innere Stimme sagte, dass das nicht der Pfad zur Wahrheit sei, dass eine Misshandlung des Körpers nichts nutzen würde. Von da an folgte er einem mittleren Weg zwischen den Extremen.

Schließlich, nach vielen Prüfungen seines Entschlusses gelobte er in einer Vollmond-Nacht im Mai, sich nicht mehr von der Stelle zu bewegen, bis er Bodhi, „Weisheit, Erleuchtung“, erlangt hätte. Unter einem Baum sitzend – seither der Bo oder Bodhi-Baum genannt –, zog er sich in die innerste Essenz seines Wesens zurück. Mara, die Personifizierung der Zerstörung, versuchte wiederholt ihn abzulenken, aber Gautama war fest entschlossen und wehrte jeden Angriff ab. Als der Augenblick höchster Erleuchtung für ihn gekommen war, sammelte Mara seine Ergebenen zu einem letzten furchtbaren Angriff, aber Gautama verharrte regungslos. Triumphierend wurde er zum Buddha, „erleuchtet“.

Er erfreute sich 49 Tage lang an der Fülle der Befreiung: Allwissenheit und höchstes Glück beseelten ihn. Aber anstatt in Nirvana einzutreten, blickte sein Herz zurück auf die leidende Menschheit, und als er ganz klar die Ursache für die Verwirrung des Menschen und den Weg erkannte, um sie zu vertreiben, wusste er, dass er zurückkehren musste. Er würde die Vier Edlen Wahrheiten und den Edlen Achtfachen Pfad lehren. Dann stahl sich ein flüchtiger Zweifel in seine Seele. Warum sollte er diese unschätzbaren Wahrheiten, die er schwer errungen hatte, der Menschheit darlegen, die sie kaum beachten würde? Welchem Zweck würde das dienen?

Die Geschichte sagt, dass Brahmā, der Herr und Schöpfer des Universums, einen Gedanken in das Gehirn Gautamas schoss: Die Welt wird gänzlich verloren sein, wenn sich der Bodhisattva-Tathāgata entschließt, der Menschheit das Dharma nicht weiterzugeben. Sei mitleidsvoll mit denen, die kämpfen; habe Erbarmen mit den Menschen im Netz des Leidens. Wenn nur einige wenige zuhören, wird das Opfer nicht umsonst sein. Darauf mischte sich Gautama nach seiner einsamen Wache unter die Menschen und begann sein geistliches Amt. Und was war seine Botschaft? Als der Tod nahte, fasste er den Zweck seines Lebens zusammen:

O Ānanda, seid euch eure eigenen Lichter.58 Seid euch selbst Zuflucht. Suchet nicht nach einer äußerlichen Zuflucht. Haltet an der Wahrheit als Licht fest. Haltet an der Wahrheit als Zuflucht fest. Suchet nach keiner Zuflucht bei irgendjemandem außer euch selbst.59

Wie in der Legende und der Wirklichkeit berichtet, sind das Leben und die Lehre Buddhas ein edles Zeugnis für den mitleidsvollen Pfad. Sein Appell – alle Wesen zu lieben und sich um das Wohlergehen sowohl der Tiere als auch der Mitmenschen zu sorgen, fleißig und lernbegierig zu sein und achtsam im Denken und Sprechen – ist in unserer Zeit genauso relevant wie vor 2.500 Jahren, als er mit den Brüdern über diese Themen sprach, während sie von Dorf zu Dorf zogen.

Viele Menschen streben heute ernsthaft danach, diesen Vorschriften entsprechend zu leben, während viele andere fragen: Kann das Wissen um die Entsagung eines Buddhas oder das Opfer eines Christus wirklich die menschliche Natur verwandeln und die Weltsituation, die mit jedem Jahrzehnt schlimmer wird, wirksam verändern? Wir glauben, dass das möglich ist, wenn auch nicht sofort. Wo der Wille die Absicht des Herzens antreibt, ist nichts unmöglich. Gerade die tiefe Reflexion darüber, was das Kommen eines Christus oder eines Buddhas auf Erden für eine strebende Seele, ja für die gesamte Menschheit, bedeuten kann, übt einen veredelnden und reinigenden Einfluss auf alle Facetten der eigenen Natur aus.

Was noch mehr zählt: Wir können uns mit Gautama identifizieren, weil ihm Erleuchtung nicht geschenkt wurde; er verdiente seinen Buddha-Status Schritt für Schritt über viele Leben. Und doch brauchte er selbst während seiner letzten Inkarnation – nachdem er sich entschlossen hatte, die verborgenen Ursachen von Leid und Tod zu durchdringen – mehrere Jahre des Versuchs und Irrtums, bevor er, beinahe um den Preis des Lebens, lernte, dass der ‘mittlere Weg’ der beste ist; dass uns die Natur mit einem wunderbar eingestimmten physischen Instrument ausgestattet hat, das – wenn gepflegt und respektiert – als Werkzeug zur Ausführung vieler guter Taten dienen kann.

In einem tiefen Sinn ist der Pfad des Mitleids, der Entsagung ein Pfad des Leidens, weil dies bedeutet, in der und für die Welt zu leben, wenngleich man schon vor langer Zeit die Prüfungen des irdischen Lebens abgeschlossen hat. Trotzdem kehrt ein Boddhisattva zurück – teils durch Karma und teils von einer tiefen Liebe zu seinen Mitmenschen angetrieben. Jedem von uns ist diese Wahlmöglichkeit gegeben, ob wir für uns selbst voranschreiten und schließlich in das Meer unendlicher Glückseligkeit gleiten und dabei die Welt vergessen oder ob wir, wenn die Erleuchtung kommt, entscheiden: „Ich kann diese Weisheit nicht für mich behalten; ich muss umkehren und meinen Brüdern helfen, die das Licht brauchen, das ich besitze. Sie sind leiderfüllt, verwirrt, rufen in der Wüste mit brennenden Herzen, sich nach Wahrheit sehnend.“ Alle großen Lehrer haben diesen Weg gewählt. Sie sind zurückgekehrt, um zu lehren, um uns an unsere göttliche Abstammung zu erinnern und das Gedächtnis an unser angeborenes Wissen wieder zu erwecken, so dass wir unserem Schicksal mit Mut und Hoffnung begegnen können. Dieser ‘todlose’ Pfad wendet sich an den Altruismus in uns, im Gegensatz zu dem Pfad ‘für sich selbst’. Zwischen Geist und Materie zu wählen, ist eine ständige Notwendigkeit, wenn wir evolvieren; zwischen der Wahrheit für sich selbst und der Wahrheit für andere zu wählen, ist eine weitaus größere Herausforderung.

Der Entschluss, dem Bodhisattva-Beispiel zu folgen, wird nicht nebenbei getroffen oder nur für dieses eine Leben, sondern für alle Zukunft: Die Vollendung des göttlichen Erwachens dauert Zeitalter. Die ganze Zeit während des langen und aufwärtsführenden Weges vertieft und reift die Absicht der Seele – nämlich jedes Partikel des Lebens mit der Ausstrahlung dieser Liebe, wenigstens flüchtig, zu berühren.


13 – Die Pāramitās

In der Stimme der Stille beschreibt H. P. Blavatsky den mitleidsvollen Weg wie folgt:

Für das Wohl der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt. Die sechs glorreichen Tugenden auszuüben, ist der zweite.

– S. 50

Die sechs glorreichen Tugenden sind die Pāramitās, die der Neophyt meistern muss, während er auf dem zur höchsten Initiations-Erfahrung führenden Pfad wandert. Der Terminologie des Mahāyāna-Buddhismus entsprechend, stellte HPB diese „transzendenten Tugenden“ oder „Vervollkommnungen“ in ihrer Stimme der Stille (S. 68) als die „goldenen Schlüssel“ dar, welche die Pforten zur Meisterschaft öffnen. Buddhistische Texte sowohl der nördlichen als auch der südlichen Schulen zählen unterschiedlich viele in verschiedenen Reihenfolgen auf, manchmal mit einer anderen Auswahl von ‘Tugenden’. Die für diese oder jene ‘Tugend’ gewählten Worte, ihre Anzahl oder ihre Anordnung sind nicht so wichtig; was zählt, ist das Festhalten am Bestreben, die Begrenzungen des gewöhnlichen Selbst zu überwinden.

Was sind diese Parāmitās? Von den sieben in der Stimme aufgezählten ist die erste Dāna, „Geben“, Sorge für andere, altruistisch sein im Denken, Sprechen und Handeln. Die zweite ist Śīla, „Ethik“, die hohe Moral, die von dem ernsthaften Schüler erwartet wird; die dritte, Kshānti, „Geduld“, Nachsicht, Dauerhaftigkeit, ist die gütige Einsicht, dass die Verfehlungen anderer nicht schlimmer und vielleicht weniger gravierend sind als die eigenen.

Was die vierte Parāmitā betrifft, Virāga, „Leidenschaftslosigkeit“, Gleichmut in Bezug auf die Wirkungen vom Auf und Ab des Lebens auf uns: Wie schwierig finden wir das, und doch – wenn wir in unserem tiefsten Innern das Bodhisattva-Ideal hegen – billigt die Entwicklung von Virāga keinesfalls Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage anderer. Sie verlangt vielmehr ein weises Ausüben von Mitleid. Es ist interessant, dass unseres Wissens diese Parāmitā in den gewöhnlichen Sanskrit- und Pāli-Aufzählungen nicht angeführt wird. Dass die Stimme Virāga aufzählt, ist insofern bedeutsam, als die vierte Position zentral ist, die Mitte in der Reihe von sieben. Wir werden hier an die sieben Stufen des Initiations-Zyklus erinnert, von denen die ersten drei vorbereitend sind und hauptsächlich aus Unterweisung und innerer Disziplin bestehen.60 Bei der vierten Initiation muss der Neophyt das werden, was er gelernt hat, das heißt, er muss sich mit den inneren Reichen in sich selbst und der Natur identifizieren. Wenn er erfolgreich ist, kann er die drei höheren Grade versuchen, die zum Erleiden des Gottes im Innern führen, der von seiner Menschlichkeit Besitz ergreift.

Gleichmütig gegenüber allen Umständen, gegenüber Freude und Schmerz, Erfolg und Versagen zu werden, bedeutet, die Ruhe eines Muni, eines ‘Weisen’, erreicht zu haben; es bedeutet, sich vollständig mit der Wahrheit zu identifizieren, nämlich dass – obwohl alles, was geboren wird, in sich die Saat seines Verfalls trägt – das innewohnende Wunder, der unvergängliche Geist, wie er so gewandt in der Bhagavad-Gītā besungen wird, todlos ist, ungeachtet aller Gegensatzpaare. Womöglich erscheint uns der Status eines Weisen weit entfernt; der Versuch aber, Virāga ernsthaft auszuüben, verspricht eine große Befreiung von der Last der Spannung, die wir uns selbst unnötigerweise aufbürden – und leider auch anderen.

Die fünfte Pāramitā ist Vīrya, „Kraft“, Mut, Entschlossenheit; der Wille und die Energie, unerschütterlich für das einzustehen, was wahr ist, und ebenso energisch dem entgegenzutreten, was falsch ist. Mit der sechsten, Dhyāna, „Meditation“, tiefe Kontemplation, sich selbst von allem leer machen, was geringer als das Höchste ist, kommt ein natürliches Erwachen latenter Kräfte, die schließlich in dem Einssein mit der Essenz des Seins gipfeln.

Schließlich die siebente, Prajñā, „Erleuchtung, Weisheit“ – „der Schlüssel, der aus einem Menschen einen Gott macht, ihn in einen Bodhisattva, einen Sohn der Dhyānis, verwandelt“. Wir werden „von einem Sterblichen zu einem Gott“ geworden sein, wie der orphische Kandidat diesen heiligen Augenblick der siebenten Initiation beschreibt, wenn Transzendenz und Immanenz eins werden.

Die volle Beherrschung der Pāramitās, wie sie auch immer aufgezählt werden, ist natürlich ein Langzeit-Unternehmen, und doch birgt das beharrliche Bemühen, sie auszuüben, den Verdienst, ohne das Risiko eines Kurzschlusses der Psyche mehr unmittelbare Leistungen hervorzubringen. Der Entschluss zu beginnen verändert unsere Haltung und Betrachtungsweise und auch unsere Beziehung zu anderen. Könnten wir unser gewöhnliches Selbst vom Standpunkt unseres weiseren Selbst aus beurteilen, würden wir erkennen, dass ein feines, inneres Erwachen ständig vor sich geht; zu fein, um es zu registrieren, aber kumulativ in seiner Wirkung auf unser gegenwärtiges und künftiges Karma. Wir müssen nicht spirituell ‘fortgeschritten’ sein, bevor wir bewusst die tägliche Wahl treffen, welche den Bodhisattva-Pfad vom Pratyeka-Pfad unterscheidet. Wenn wir getreulich versuchen, diese Pāramitās zu leben, werden wir nicht nur der Verwirklichung der universalen Bruderschaft näherkommen, nach der wir uns alle sehnen, sondern wir werden dem Weg der Mitleidsvollen folgen.

Zusammen mit der täglichen Übung der Pāramitās müssen die Sämlinge des Altruismus durch den Regen des Mitleids bewässert werden, trotz der karmischen Hindernisse in der Natur, die zu Trägheit neigen. Tsong-kha-pa, der Weise Tibets, erklärte, dass die ehrfürchtige Ausübung von Mitleid „der erhabenste Grund von Buddhaschaft ist, die den Charakter von fürsorglichem Schutz für alle verletzlichen Wesen in sich birgt, die im Gefängnis zyklischer Existenz gefangen sind“.61 Das ist der Amṛita-Yāna oder der ‘todlose Pfad’ in seiner reinen Interpretation. Wenn schließlich ein Schüler in ‘der Familie der Tathāgatas’ geboren wird, erfährt er überwältigende Freude – und doch unermessliches Leid wegen der geistigen Trägheit eines so großen Teils der Menschheit.

Die Gegenwart ist schwer beladen mit dem Karma vergangener Saaten von uns allen, aber wir sollten die Saaten kreativen guten Willens, die durch viele Leben gehegt wurden, nicht außer Acht lassen. Auch wenn letztere eine lange Zeit zur Reife zu brauchen scheinen, erinnern wir doch daran, dass Prinz Siddhārta nicht sofort zu einem Buddha wurde: ‘vor vier Ewigkeiten’ – vor derart langer Zeit – gelobte er, um der leidenden Menschheit willen ein Bodhisattva zu werden. Für Tausende folgende Leben danach behütete er die Pflanze des Mitleids, bis sie schließlich während seiner letzten Geburt im indischen Kapilavastu ‘zu völliger Reife’ gelangte.

Wir wollen einen Sprung zurückmachen in die ferne, ferne Vergangenheit – zu jenem ‘Augenblick’ in der Ewigkeit, als Gautama die erste Regung der Liebe zur gesamten Menschheit verspürte und die Vision hatte, was sein könnte und sollte – nicht nur für ihn selbst, sondern für alle Lebewesen. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Same der Bodhisattvaschaft zum Leben erweckt, und, die Samenkapsel sprengend, sandte er eine winzige Wurzel in den jungfräulichen Boden seines erwachenden Bewusstseins hinunter. Er fällte die folgenschwere Entscheidung, an Weisheit und Herzensgröße zu reifen. Seine Vision weit in die Zukunft richtend, baute er willentlich ein Floß für das Dharma, damit er zahllose Millionen über das Meer von Illusion und Schmerz zum anderen Ufer von Freiheit und Licht führen konnte.

Vor langer Zeit also war der historische Buddha ein gewöhnlicher Mensch, strebsam, jawohl, aber auch so wie wir mit Charakterschwächen und karmischen, noch nicht gelösten Hindernissen aus früheren Leben. Wir können annehmen, dass er ab und zu stolperte und verlorenes Terrain wieder gutmachen musste und dass auch seine Gefährten im einen oder anderen Leben aus seinen Fehlurteilen und auch aus seinen Siegen über sich selbst unterschiedliche karmische Impulse empfingen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sich der allgemeinen Strömung entgegenzustellen, weil sein Motiv selbstlos war und sein Entschluss einem stabilisierenden Einfluss diente – Leben um Leben war das Bodhisattva-Ideal seine Inspiration und Führung. Sicherlich hat sein schließlicher Triumph und Verzicht all diejenigen dreifach gesegnet, deren Karma er während seines langen Heranreifens von einem gewöhnlichen Menschen zu einem Buddha beeinflusst hatte.

Jeder Lebensfunke ist ein Bodhisattva, ein Christos, ein Gott im Prozess des Werdens. Hui-neng aus China, der einfache Diener im Tempel, verstand das, und als sein inneres Auge erwachte und er ein Meister des Ch’an-Buddhismus wurde, brachte er es folgendermaßen zum Ausdruck:

Wenn Buddhas nicht erleuchtet sind, sind sie nicht anders als gewöhnliche Wesen; wenn es zu Erleuchtung kommt, verwandeln sich gewöhnliche Wesen augenblicklich zu Buddhas.62

Wir haben dieselbe Möglichkeit: jetzt zu beginnen, die Samen der Liebe und Fürsorge zu säen – trotz der selbstsüchtigen und widerspenstigen Eigenschaften, die unsere Natur entstellen. Vollständige Erleuchtung mag in ferner Zukunft liegen, und obwohl auch wir die erhabene Wahl im letzten Schicksals-Augenblick treffen müssen, wird sie die ganze Zeit über entlang des Weges vorbereitet. In jeder Sekunde unseres Lebens arbeiten wir in unseren Charakter entweder die Selbstzentriertheit ein, die zu Pratyekaschaft führt, oder die Großzügigkeit des Geistes, die uns dazu antreiben wird, den ersten Schritt auf dem Bodhisattva-Pfad zu tun. Beide Pfade verlaufen auf der Lichtseite der Natur, aber es gibt dennoch eine klare Unterscheidung: Wie in buddhistischen Schriften aufgezeichnet, wird der Pratyeka mit „dem Licht des Mondes“ verglichen im Gegensatz zu dem Tathāgata, welcher „der tausend-strahligen Scheibe der Herbstsonne gleicht“.63

Jedes Lebewesen ist die Frucht eines anfang- und endlosen Hervorfließens aus dem göttlichen Samen, denn in der Samenessenz liegt das Versprechen dessen, was sein wird: eine ungeheure Potenz, träge bis zu dem mystischen Augenblick, in dem die Lebenskraft durchbricht und Blume und Frucht hervorbringt. Sobald ein Same in einer geeigneten Umgebung gesät ist, schützen und stimulieren die Naturelemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sein Wachstum. So ist es mit uns selbst: Unterstützt durch die unsichtbaren Gegenstücke dieser Elemente, hinterlassen die Gedankensamen, die wir Tag und Nacht säen, ihren Eindruck in den feinen Energien, die durch unseren Planeten zirkulieren. Da wir eine Menschheit sind – wie getrennt voneinander wir uns zeitweise auch fühlen mögen –, teilen wir mit allen anderen, was wir sind, sowohl unser Edelstes als auch unser Unedelstes. Welche Verantwortung wir haben, aber auch welch eine erhabene Gelegenheit! Geradeso wie wir für die niederen Schichten der Gedankenkräfte empfänglich sind, wenn wir mutlos sind, so können wir mit den höchsten Bereichen der aurischen Atmosphäre mitschwingen und vielleicht – wenn wir ruhig sind – die feinen Einflüsterungen hören, die zu Staunen und edlen Taten inspirieren.

Bei ihrer hingebungsvollen Arbeit, das Leid von Millionen von Menschen zu erleichtern, manifestieren viele Menschen heutzutage eine Qualität von Mitleid, welche vielleicht in vergangenen Leben durch eine Geste der Freundschaft und des Verständnisses von einem künftigen Bodhisattva entfacht wurde. Vielleicht wurden auch wir auf ähnliche Weise bewegt. Der Gedanke macht zutiefst demütig und führt umso mehr zum Entschluss, dem Beispiel der Erleuchteten, die unendlich geduldig und empfänglich sind, zu folgen. Es ist kein Wunder, dass ein Buddha des Mitleids zurückkehrt, um zu lehren. Er wird durch das Karma all jener, deren Schicksale sein eigenes in früheren Zyklen kreuzten, angetrieben, so zu handeln; aber noch mehr wird er angetrieben durch eine allumfassende Liebe, welche die Gesamtheit der Naturreiche einschließt – eine Liebe, die neue Aspiranten und jene, die in einem künftigen Leben die ersten Regungen der Fürsorge um das Wohl anderer erfahren können, bestärkt.

Das buddhistische Glaubensbekenntnis bringt die Essenz der buddhistischen Philosophie und Praxis in knappen Worten zum Ausdruck:

Buddhaṃ śaraṇaṃ gacchāmi
Dharmaṃ śaraṇaṃ gacchāmi
Saṅghaṃ śaraṇaṃ gacchāmi

Ich nehme meine Zuflucht zu Buddha
Ich nehme meine Zuflucht zu Dharma
Ich nehme meine Zuflucht zur Gemeinschaft
(Verehrer, Anhänger)

Wir setzen unser Vertrauen in Buddha als die Verkörperung des ‘Großen Opfers’, den höchsten Initiator und Beschützer der Menschheit, der es Avataras und Bodhisattvas ermöglicht, periodisch die Felder des menschlichen Bewusstseins zu erleuchten.

Wir setzen unser Vertrauen auf Dharma, auf die obersten Wahrheiten, die uns in Bezug auf die universale Natur und die Seele erleuchten; wenn wir uns damit identifizieren, erhaschen wir unseren kosmischen Zweck.

Wir setzen unser Vertrauen auf Sangha, die Bruderschaft oder Gemeinde der Suchenden, eine Gemeinschaft, welche die Gesamtheit der menschlichen Lebenswoge einschließt.

Indem wir Vertrauen und Loyalität aufeinander als Brüder-Aspiranten setzen, teilen wir eine Gemeinschaft, die uns magnetisch mit dem spirituellen Herzen unseres Planeten verbindet – der Bruderschaft der Adepten. Insofern wir unsere Gefolgschaft ihrem Zweck widmen, sind wir Partner in dieser universalen Bruderschaft, die sich der Aufgabe verschreibt, die Last von Sorge, Elend und Unwissenheit, welche die Geißel der Menschheit ist, zu beheben – so weit es das Weltkarma zulassen wird. Wenn eine ausreichende Anzahl von Männern und Frauen nicht nur an ihre Intuition glauben, sondern ihr auch folgen und ihr Schicksal mit der Sache des Mitleids verbinden, gibt es allen Grund darauf zu vertrauen, dass unserer Zivilisation eines Tages der Sprung aus der Selbstzentriertheit gelingen wird – in aufrichtige Brüderlichkeit in jeder Phase der menschlichen Unternehmung.

In suchenden Menschenherzen das alte Gelöbnis zu beleben, das Licht ihrer Lampen an der Flamme des Mitleids zu entzünden, ist das edelste und schönste Ideal und eines, das – wenn es unbeirrt hochgehalten wird – die Aspiration stimuliert und ihr Tiefe verleiht.


14 – H. P. Blavatsky und Die Theosophische Gesellschaft

Die Herausgabe der Geheimlehre engl. Originaltitel: The Secret Doctrine] von HPB im Jahr 1888 stellte für die anerkannten Meinungen der Theologen und Wissenschaftler eine Herausforderung dar; sie gab dem Denken des 20. Jahrhunderts deutlich eine neue Richtung. Hier fand sich eine Weltanschauung, die den Lebenszyklus von Galaxien und Atomen für einen Teil desselben Evolutionsprozesses darstellte, welcher die menschliche Seele wieder und wieder zum Erdenleben zurückführt.

Wer war HPB und was ist Die Theosophische Gesellschaft, die sie gründen half? Helena Petrovna Blavatsky (geborene von Hahn) wurde in der Ukraine in Ekaterinoslav (Dnepropetrovsk) am Fluss Dnieper am 12. August 1831 (31. Juli nach dem alten russischen Kalender) geboren. Ihr Vater, Hauptmann der Artillerie Peter Alexeyevich von Hahn, war ein Nachkomme der Grafen Hahn von Rottenstern-Hahn, einer alten Mecklenburger Familie aus Deutschland, und ihre Mutter, Helena Andreyevna, Tochter des Geheimrats A. M. de Fadeyev und der Prinzessin Helena Pavlovna Dolgorukova, war eine begabte Roman-Schriftstellerin, die ihre Stimme gegen Unterdrückung, besonders von Frauen, erhob. Die meiste Zeit während ihres kurzen Lebens litt sie unter schlechter Gesundheit, sie starb im Alter von 29 Jahren. Helena, die damals 11 Jahre alt war, verließ zusammen mit ihrer Schwester Vera und dem kleinen Bruder Leonid Odessa, um bei ihren Großeltern mütterlicherseits, den Fadeyevs, in Saratov und später in Tiflis im Kaukasus zu leben.

Madame de Fadeyev war eine Frau von seltener Weisheit und Gelehrsamkeit, eine in ganz Europa anerkannte Botanikerin, versiert in Geschichte und Naturwissenschaften inklusive Archäologie. Ihre ungewöhnlichen Begabungen des Denkens und des Geistes und dazu eine umfangreiche Bibliothek im Haus Fadeyev nährten und bestärkten Helenas Entscheidung, die Wahrheit für sich zu finden – ungeachtet allen Risikos. Nach einer lediglich auf dem Papier geschlossenen Ehe mit Nikifor Blavatsky im Jahr 1849 lief Helena nach drei Monaten davon und gewann die Freiheit, nach der sie sich sehnte. Dann begannen Jahre scheinbar ruheloser Wanderungen und Reisen über den gesamten Globus, Begegnungen mit den Weisen und weniger Weisen auf jedem Kontinent. Begierig suchte sie den Ariadnefaden, der sie zu jenen Lehrern und Lebenserfahrungen führen würde, die ihre Intuition schärfen und ihr Mitleid vergrößern sollten.64

Während dieser Periode wurde HPB darauf geschult und vorbereitet, eine spirituelle Bewegung zu führen, die den Baum der Orthodoxie in seinen Wurzeln erschüttern und gleichzeitig die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Früchte des Lebensbaums richten sollte, die von allen ernsthaften Suchern gewonnen werden können, sofern sie gewillt und bereit sind, sich der erforderlichen Disziplin zu unterziehen.

HPB war 1873 in Paris, als ihre Lehrer sie anwiesen, nach Amerika zu reisen und ihre Arbeit zu beginnen. Sie brach sofort auf und kam am 7. Juli in New York City an. Im Oktober des folgenden Jahres traf sie Henry Steel Olcott, der vom Daily Graphic zu dem Anwesen der Familie Eddy in Vermont geschickt worden war, um die Phänomene zu untersuchen, die laut den Berichten dort auftraten. Die beiden sollten bei der Gründung und Entwicklung Der Theosophischen Gesellschaft eng zusammenarbeiten.

Genau zwei Jahre nach der Ankunft in Amerika erhielt HPB weitere Anweisungen, wie sie im ersten ihrer ‘Notizbücher’ niederschrieb:

Anweisungen erhalten aus Indien direkt, eine philosophisch-religiöse Gesellschaft zu gründen & einen Namen dafür auszusuchen – auch Olcott auszuwählen. Juli 1875.65

So geschah es, dass am 7. September 1875 HPB in ihrem Wohnsitz in New York City eine kleine Gruppe von Spiritualisten, Kabbalisten, Ärzten und Rechtsanwälten empfing – alle von der ‘okkulten’ oder verborgenen Seite der Natur fasziniert –, um einen Vortrag von George Henry Felt über „The Lost Canon of Proportion of the Egyptians“ [Der verlorene Kanon der Proportionen bei den Ägyptern, d. Ü.] zu hören. Im Verlauf des Abends wurde die Bildung einer Gesellschaft für diese Art der Studien vorgeschlagen. Die ungefähr 16 Teilnehmer, die beitreten wollten, trafen sich an den darauf folgenden Abenden, um ihre Absicht zu konkretisieren. Bis zum 30. Oktober hatte man sich über eine Präambel und über Richtlinien der Ziele der Gesellschaft geeinigt und sie gedruckt: „Ein Wissen über die das Universum leitenden Gesetze zu sammeln und zu verbreiten.“ Am 17. November 1875 wurde während der Eröffnungsversammlung in der Mott Memorial Hall in New York Die Theosophische Gesellschaft mit einer Ansprache des Gründer-Präsidenten, Henry S. Olcott, vorgestellt. Man hatte den Namen „Theosophie“ gewählt, weil er am besten jenes philosophisch-religiöse System beschreibt, welches sich das Göttliche so vorstellt, dass es aus sich selbst in einer Reihe von Fortschritten emaniert, und welches auch der menschlichen Seele unterstellt, eine mystische und spirituelle Erleuchtung erlangen zu können. Das Ideal der Bruderschaft wurde nicht explizit dargelegt, war jedoch implizit in der Präambel enthalten, die bekräftigte, dass die Mitgliedschaft allen offenstand – unabhängig von Rasse, Geschlecht oder Glaube.

Im Jahr 1875 war Die Theosophische Gesellschaft eine völlig unbekannte Unternehmung. Niemand – außer vielleicht denjenigen, die hinter der Bewegung standen – erkannte, welche weitreichende Wirkung jene wenigen Menschen haben würden, die eine Körperschaft zu bilden wagten, welche die inneren Gesetze, die das äußere physische Universum in Gang setzen und halten, ernsthaft untersuchen wollte. Während die Aufnahme der von ihr dargelegten Lehren für jene Zeit bemerkenswert war, war HPB dennoch mit heftiger Gegenwehr von Gelehrten, Wissenschaftlern und Theologen konfrontiert, ganz zu schweigen von der öffentlichen Presse. Für viele war sie eine Bilderstürmerin unbegreiflichen Ausmaßes – hier war eine Frau von furchtloser Entschlossenheit, die jede heilige Kuh schlachtete, nicht nur in ihrem umfangreichen zweibändigen Werk Isis entschleiert (1877), sondern auch in einer Flut von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln. Sie konnten nicht glauben, dass sie nicht darauf aus war, die lebendige Botschaft der Religionslehrer der Welt oder die von der Wissenschaft bewiesenen Fakten zu zerstören. Im Gegenteil – ihr Ziel war einfach und direkt: sich gegen alles von buchstabengläubiger und heuchlerischer Natur zu wehren, während sie gleichzeitig die Fenster verschlossener Gemüter für die belebenden Brisen unabhängigen Denkens und einer Philosophie von kosmischer Dimension weit öffnete.

Um besser einzuschätzen, wer Helena Blavatsky war, müssen wir sie als eine Botschafterin ansehen, als die Sprecherin für diejenigen, die weiser sind als sie und Mitglieder einer Bruderschaft von Wächtern und Beschützern der Menschheit, welche die Wahrheiten über den spirituellen Ursprung und das Schicksal des Menschen treuhänderisch verwalten – Wahrheiten, die herausgegeben werden, wenn der Ruf aus den Herzen der Männer und Frauen laut genug ist, um ein weiteres Entschleiern der verborgenen Lehren der Natur zu bewirken. Vor 1875 war sich die westliche Welt kaum bewusst, dass fortgeschrittene Menschen existieren – trotz der Tatsache, dass in Indien, Tibet, China und dem Nahen Osten Legende und Schrift Zeugnis ablegen von einer Gemeinschaft von Weisen, die von Zeit zu Zeit aus ihren Reihen einen aussenden, um unter diesem oder jenem Volk zu leben. Würdig zu werden, von einem Guru oder Lehrer unterrichtet zu werden, wurde als das höchste spirituelle Geschenk angesehen, und so mancher Aspirant für Chelaschaft bemühte sich jahrelang ohne ein Zeichen von Anerkennung, um sich durch Reinigung und Selbstverleugnung darauf vorzubereiten, zur Schulung angenommen zu werden. All das war, was die Geisteshaltung und Praxis betrifft, typisch östlich.

Mit der Ankunft HPBs in Amerika änderte sich dann alles. Der Zyklus war offensichtlich reif für die Mahatmas (verschiedentlich als Adepten, Meister oder Brüder bezeichnet), um sich und ihre spiritualisierende Arbeit der Menschheit allgemein besser verständlich zu machen. Die Theosophische Gesellschaft wurde von zwei Mahatmas inspiriert, deren Oberhäupter überall auf dem Globus beinahe ein Jahrhundert lang gesucht hatten, bis sie jemanden fanden, der geschult werden konnte, um die Lehren zu empfangen und weiterzugeben; und der außerdem das Karma tragen konnte und wollte, eine tief in den Stolz materieller Errungenschaften verstrickte Welt zu erleuchten.66 Diese beiden, später als M und KH bekannt, wandten sich an ihr Oberhaupt und sagten: Wir wollen es versuchen und sehen, ob wir nicht ein Zentrum der Bemühung zustande bringen und einige wenige Individuen inspirieren können, die für die Erleuchtung der Menschheit arbeiten möchten. Das Oberhaupt hatte Zweifel, willigte jedoch in den Versuch ein. Sie suchten nicht nach vollkommenen Menschen. Hätten sie gewartet, bis HPB, Olcott, Judge und andere, die helfen wollten, vollkommen wären, wäre Die Theosophische Gesellschaft vielleicht nie gegründet worden. Das Wunder daran ist, dass jene frühen Theosophen den Mut aufbrachten, ein Ideal zu unterstützen, das scheinbar nicht realisierbar war: einen Kern von Männern und Frauen zu gründen, die ihre edelsten Energien geben, um das Ideal der universalen Bruderschaft zu fördern.

Fast unmittelbar nach der öffentlichen Bekanntgabe ihrer Existenz wurden Meister und Adepten unter verschiedenen Initialen und Namen das Gesprächsthema von Theosophen und ihren Zeitgenossen. Unvermeidlich wollten Menschen, die wenig oder keine Ahnung davon hatten, was Schülerschaft mit sich bringt, persönlichen Kontakt mit den Brüdern. Für viele war das eine natürliche und spontane Gefühlsäußerung von Liebe und Wertschätzung für jene großen Wesen, die all das verkörperten, wonach sie strebten. Einige wollten zweifellos nur etwas Besonderes sein. Andere reagierten mit Verachtung und Spott; sie erkannten kaum, welch tiefes Mitleid diese Freunde der Menschheit bewegte. HPB bedauerte mit der Zeit, jemals zugelassen zu haben, dass „Phänomene und die Meister“ allgemein bekannt wurden (Blavatsky Letters, S. 97). Nach verhältnismäßig wenigen Jahren zogen sich die Meister vom äußeren Kontakt mit der Gesellschaft zurück, hielten jedoch den inneren Kontakt mit HPB und mit dem Herzen der Bewegung aufrecht, um die leitende Inspiration für folgende Generationen von Suchern zu bleiben.

Heute rückt das Thema der Mahatmas und ihres direkten oder indirekten Einflusses auf Individuen oder Gruppen und die Menschheit als Ganzes wieder in den Vordergrund. Viele Theosophen ziehen es vor, so wenig wie möglich über die Meister und Śambhala zu sagen, um nicht weiter das zu entweihen, was unaussprechlich heilig ist, obwohl sie eindeutig HPB und ihre Lehrer als die Quelle der Theosophie und ihrer Ideale anerkennen.

Sicherlich stehen die Meister hinter jeder wirklich selbstlosen Bemühung, der Menschheit die Last der Sorge und Unwissenheit zu erleichtern, und die theosophische Bewegung ist nicht die einzige Quelle der Bruderschaft für ‘Bausteine’. „Die Sonne der Theosophie muss für alle scheinen, nicht nur für einen Teil“, schrieb M an A. P. Sinnett zu Beginn des Jahres 1882. „An dieser Bewegung liegt mehr, als Sie bisher auch nur geahnt haben, und die Arbeit der T. G. ist mit ähnlicher Arbeit verbunden, wie sie geheim in allen Teilen der Welt vor sich geht … Sie kennen KH und mich – genug davon! Wissen Sie irgendetwas von der ganzen Bruderschaft und ihren Verzweigungen?“ Und M erinnert Sinnett daran, dass er „jetzt schon unsere Methode kennen sollte. Wir raten – wir befehlen niemals. Aber wir beeinflussen Einzelne“.67 Es ist nicht an uns, Zäune um die Meister herum zu errichten, nicht einmal in Gedanken, und – ob bewusst oder unbewusst – zu versuchen, darüber zu entscheiden, was ihre Arbeit ist und was nicht und wie oder wen sie inspirieren oder beeinflussen werden. Ebenso müssen wir sorgfältig darauf achten, niemanden voreilig zu verurteilen und ihn automatisch als einen Heuchler zu bezeichnen, weil er erklärt, das ‘Sprachrohr der Mahatmas’ zu sein oder ‘Botschaften’ von Morya, Koothoomi oder Djual Khool zu empfangen.

Wir sollten nicht über die Zunahme angeblicher Gurus, Avataras, aufgestiegener Meister, Reinkarnationen von HPB, Swamis und Boten erstaunt sein. Manche Menschen haben die Lehren der Meister angenommen und daraus eine Fantasie psychischer Imagination, eine Karikatur der Theosophie, geschaffen. Dennoch ist es unglaublich, dass nach der Veröffentlichung der ursprünglichen Meisterbriefe an A. P. Sinnett und andere, die jetzt in Bibliotheken und Buchgeschäften erhältlich sind, jene Fälschungen von Mahatmas und Boten so viel Beachtung finden, die mit den Ängsten der Zeit und der Verwundbarkeit Unschuldiger, deren Aufrichtigkeit sie zu einer leichten Beute macht, handeln. Es wäre lächerlich – wenn es angesichts der durch den Betrug verletzten Leben nicht so tragisch wäre.

Gleichzeitig sind weder die Meister und ihre Briefe noch Die Geheimlehre oder irgendeines der Werke HBPs die Grundlage für einen Glauben oder eine ‘Bibel’. Die Theosophische Gesellschaft hat keine Glaubensgrundsätze, keine Dogmen; Freiheit zum Forschen, zum Streben, zur Selbstevolution ist die Losung. HPB betonte immer wieder, dass das, was sie brachte, nur ein Teil der ewigen Weisheitsreligion war; dass sie eine Übermittlerin dessen war, was sie empfangen hatte. Durch ihren titanischen Genius gab sie dies auf die ihr bestmögliche Art weiter, aber sie beanspruchte nicht, dass jedes Wort sakrosankt war. Sie legte uns diese Wahrheiten zu Füßen und nach Montaigne sagte sie: „Ich habe hier … nichts Eigenes hinzugefügt als den Faden, der sie verbindet“ – zerreiße den Faden, wenn du willst, die Wahrheit aber kannst du nicht zerstören.68

Unvermeidlich hatte HPB viele Verleumder. Zum Beispiel veröffentlichte die Society for Psychical Research (SPR) 1875 einen Bericht von Richard Hodgson, in dem behauptet wird, dass HPB die Briefe der Mahatmas69 selbst geschrieben habe. Die SPR kam zu dem Schluss, das HPB „eine der gebildetsten, genialsten und interessantesten Betrügerinnen der Geschichte“ gewesen sei.70 Im Laufe der Jahre hatten Freunde und Unterstützer von HPB immer wieder eine Zurücknahme dieser Behauptung gefordert, allerdings mit wenig Erfolg. „Getrieben von einem starken GERECHTIGKEITSSINN“, veröffentlichte dann im Jahr 1986 Dr. Vernon Harrison, Experte für Handschriften und langjähriges Mitglied der SPR, eine Kritik des Hodgson-Berichts mit dem Titel „J’Accuse: Eine Prüfung des Hodgson Berichts aus dem Jahr 1885“, dem 1997 „J’Accuse d’autant plus [ich klage umso mehr an]: eine weitere Studie des Hodgson Berichts“ folgte. Über den Zeitraum von ungefähr 15 Jahren hatte Dr. Harrison umfangreiche Studien der Handschriften der Meisterbriefe durchgeführt und festgestellt, dass der Hodgson-Bericht „fehlerhaft und unglaubwürdig“ ist und dass es „keinen Beweis für den gemeinsamen Ursprung der Schriften von ‘KH’, ‘M’ und ‘HPB’ gibt“.71 Trotz der Angriffe auf ihren Charakter durch Hodgson und andere schrieb HPB weiter an dem, was Die Geheimlehre werden sollte.

1886 veröffentlichte HPB eine beeindruckende Erklärung, in der sie verdeutlichte, was das ursprüngliche Programm Der Theosophischen Gesellschaft war und heute noch ist. Darin sagt sie, dass sich die Gründer „auf die energischste mögliche Weise allem entgegenzustellen haben, was dogmatischem Glauben und Fanatismus nahekommt – der Glaube an die Unfehlbarkeit der Meister oder auch nur an die Existenz unserer unsichtbaren Lehrer muss von Anfang an überprüft werden“.72 Ihr und Olcott wurde nicht gesagt, was sie tun sollten, sondern es wurde ihnen deutlich gesagt, was sie nicht tun sollten; im Besonderen sollten sie niemals zulassen, dass Die Theosophische Gesellschaft eine Sekte wird: dogmatisch im Denken und dogmatisch im Handeln. Die Stärke der Theosophie liegt darin, dass es keine Lehre gibt, an die irgendjemand glauben muss, bevor er sich aktiv als ein Mitglied oder Unterstützer an Der Theosophischen Gesellschaft beteiligen kann. Die einzige Voraussetzung ist, dass er das Prinzip der universalen Bruderschaft als uneingeschränkt gültig und als eine Kraft in seinem Denken und Handeln akzeptiert. Er kann Buddhist, Christ, Anhänger des Zoroastrismus, Atheist oder was auch immer bleiben: „Der größte Geist freien Forschens, von niemandem und nichts eingeschränkt, musste gefördert werden.“73

Dieses ursprüngliche Programm ist in den Zielen Der Theosophischen Gesellschaft enthalten, die – wie auch immer sie formuliert sind – im Prinzip so lauten: unter den Menschen ein den Gesetzen im Universum inhärentes Wissen zu verbreiten; das Wissen über die essenzielle Einheit von allem, was ist, zu fördern und darzulegen, dass diese Einheit in der Natur fundamental ist; eine aktive Bruderschaft unter den Menschen zu bilden; das Studium alter und moderner Religion, Wissenschaft und Philosophie zu fördern und die dem Menschen innewohnenden Kräfte zu erforschen.

Ein Studium der religiösen und philosophischen Schriften setzt eine Flut von Ideen frei, weil wir – wenn wir aus der durch die Theosophie erweiterten Perspektive in die heiligen Schriften der Weltzivilisationen blicken – die eine universale Weisheit erkennen, die in vielen Formen zum Ausdruck gebracht wird. Vertraut zu sein mit den Traditionen und heiligen Schriften der frühen Völker hilft uns auch dabei, ein Gefühl für die Proportionen zu bewahren. Wir lernen zu schätzen, dass dieses großartige universale System von Wahrheiten das gemeinsame Erbe der Menschheit ist, dass es jedoch periodisch eine ‘einzigartige’ Ausdrucksform findet, um den besonderen Bedürfnissen einer bestimmten Zeit zu begegnen. Das erklärt, warum diese oder jene Nation oder Rasse von sich glaubt, das ‘auserwählte Volk’ zu sein – weil sie zu einer bestimmten Zeit von dem Boten der Zeit auserwählt wurde, ein neues Licht, eine neue Richtlinie zu einem spirituellen Leben zu empfangen.

Beachten Sie die sorgfältige Wortwahl des letzten Ziels: der dabei gebrauchte Satz lautet „die dem Menschen innewohnenden Kräfte zu erforschen“ – und nicht: psychische Kräfte zu entwickeln. Darin liegt ein großer Unterschied. Wir werden ermutigt, uns als vielfältige Wesen zu verstehen, zu studieren und in die ganze Reichweite unserer menschlichen Fähigkeiten vorzudringen. Und doch gibt es hier eine stillschweigende Warnung vor der unnatürlichen Entwicklung von Kräften, die zu einer Überbetonung der psychischen und astralen Aspekte unserer Konstitution auf Kosten unserer intuitiven und spirituellen Fähigkeiten führen könnten. HPB bedauerte mit der Zeit sehr, dass sie einigen wenigen Vertrauten bestimmte Kunststücke phänomenaler Kraft in der Hoffnung vorgeführt hatte, zu zeigen, dass es eine Welt feiner Kräfte hinter den physischen gibt. Heute hätten viele Menschen gerne solche außergewöhnlichen Kräfte, aber wie viele können ehrlich von sich behaupten, dass sie diese aus gänzlich selbstlosen Motiven entwickeln wollen? Was haben diese Kräfte überhaupt für einen inneren Wert? Es ist gut, unser Motiv zu prüfen, um sicher zu sein, dass es selbstlos ist. Wir alle haben zu viel Selbstsucht in unseren spirituellen Wünschen und auch in unserem materiellen Wesen, und Selbstsucht in den höheren Prinzipien ist weit hartnäckiger als in der niederen Natur, wo sie verhältnismäßig leicht zu überwinden ist.

Der Zweck der Theosophie ist also vielfältig, und niemand war sich der Größe der vor ihr liegenden Aufgabe mehr bewusst als H. P. Blavatsky. Sie lebte und arbeitete in der Tradition jener, die unentwegt damit beschäftigt sind, die Menschheit zu ihrer inneren Größe zu erwecken. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Mit jedem Jahrzehnt wird sie mehr anerkannt als eine Öffnerin der Seelentore. Durch ihre Wiedererzählung der archaischen Weisheitslehren enthüllte sie die inspirierte Quelle der vielen Traditionen und heiligen Schriften der Menschheit und entfaltete das wunderbare Drama der Genesis und Evolution von Welten und Menschen. Für viele lag ihre größte Begabung darin, erneut auf den ‘Pfad’ hinzuweisen, auf den heiligen Weg der inneren Selbstbemeisterung – nicht für sich selbst, sondern für die Erhebung aller Wesen überall. Ihr nachhallender Aufruf an Männer und Frauen des Mitleids lautet, aktiv für die Verwirklichung der universalen Bruderschaft zu arbeiten, so dass schließlich jedes Volk, jede Nation und Rasse frei sein wird, ihr individuelles Schicksal in Harmonie und in Frieden mit allen anderen zu verfolgen.


15 – Wer wird uns erlösen?

Das 20. Jahrhundert wurde Zeuge einer unsäglichen Tyrannei von Seele und Körper. Es ist, als würde sich ein Harmagedon vor unseren Augen abspielen – zwischen dem altruistischen Drängen des Herzens und den selbstsüchtigen Forderungen der persönlichen Natur, zwischen den kreativen Energien und den destruktiven, zwischen den spirituellen und den psychischen/materialistischen. Als evolvierende Wesen schreiten wir entweder vorwärts oder rückwärts, es gibt keinen Stillstand; da wir in jedem Augenblick entweder Schöpfer oder Zerstörer sind, ist es essenziell, dass wir periodisch durch einen Schock zu einem tieferen Bewusstsein unseres göttlichen Ziels gebracht werden.

Ideen sind mächtiger als Speere oder Bomben, um uns aus unserer Lethargie wachzurütteln, und was hätte revolutionärer sein können als die Wiederbelebung längst vergessener Vorstellungen – von der universalen Bruderschaft, vom Einsseins allen Lebens, vom Göttlichen an Stelle des Materiellen als dem kinetischen Vermittler hinter der Evolution? Es sind diese im 19. Jahrhundert in das Denken der Menschheit eingeflößten Ideen, die während des 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichen Ergebnissen langsam und stetig keimten: Auf der einen Seite bewirkten sie eine wütende Reaktion fest verwurzelter Vorurteile und auf der anderen Seite trafen sie auf Widerhall bei der Suche ernsthafter Männer und Frauen jeden Alters und jeder Herkunft.

Die schrecklichen Unsicherheiten der Zeiten sind insofern ein Segen, als sie uns zwingen, unser Denken und unsere Motive erneut zu überprüfen und mit den zentralen Angelegenheiten des Lebens und des Todes zurechtzukommen; und wie wir unsere Kinder auf die Welt, die sie erben, am besten vorbereiten können. Die Wissenschaft mit ihrer ‘Staunen erweckenden Wundertüte’ hat damit unsere gegenseitige Abhängigkeit bestätigt, nicht nur als eine Menschheit, sondern – noch wichtiger – als Teilhaber an einer Ökosphäre, deren Familien von Wesen zu einem einzigen Lebensfluss gehören. Und doch haben wir mit all unserem Wissen nicht entdeckt, was wir am meisten brauchen: wie wir mit uns und miteinander in Harmonie leben können. Als Ergebnis sind viele verzagt, besorgt um sich selbst und um die Zukunft und fragen sich ernstlich, wohin unsere Zivilisation steuert.

Es sollte uns nicht überraschen, dass verschiedene Fundamentalisten uns drängen, zu ‘glauben und erlöst zu werden’, bevor es zu spät ist: Denn die „gefährlichen Zeiten“, über die sowohl Paulus als auch Petrus schrieben, werden bald kommen, wenn die Ruhestörer und Habgierigen, die Waffenstillstandsbrecher und Verächter all dessen, was gut ist, auf Erden wandeln, dann „wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles …“.74 Wir würden gut daran tun, solche Warnungen nicht völlig in den Wind zu schlagen, denn keine Spezies kann den Folgen des Handelns entrinnen; sicherlich nicht wir Menschen, die es besser wissen und die Naturgesetze nicht absichtlich verletzen sollten. Da jedes Lebewesen im Universum der Geburt, dem Tod und der Wiedergeburt in einer neuen Form unterlegen ist, werden natürlich auch unsere gegenwärtige Zivilisation, unser Planet und seine Lebensreiche schließlich verschwinden – nach Erfüllung ihrer entsprechenden Lebenszyklen.

Die Zerstörung der Erde und das Zurückziehen der Götter, während sich die menschliche Rasse immer enger an die Materie bindet, stellen ein in alten Kulturen immer wiederkehrendes Thema dar. Die Erzählungen unterscheiden sich in Äußerlichkeiten: Einmal können sie sich auf ein Zeitalter und ein Volk beziehen, die seit langem verschwunden sind, ein anderes Mal auf Vorhersagen darüber, was noch nicht eingetreten ist. Auf den ersten Blick sind die Erzählungen über die verheerende Zerstörung durch Naturgewalten erschreckend – ob wir über die kryptischen Verse von Nostradamus (1503-1566) nachdenken, die Offenbarung oder andere apokalyptische Schriften. Wenn wir jedoch in den heiligen Schriften der Welt weiterlesen, entdecken wir, dass dem Sterben des alten Zyklus zur rechten Zeit das Auftauchen eines neuen folgt: Die Erde kommt neu und makellos hervor, und eine neue Menschheit ersteht. Das wird auf poetische Weise in der isländischen Edda, in der Prophezeiung von Vala, der Sibylle, vorausgesagt, welche die Ankunft von Ragnarök ankündigt („Untergang und Wiederkehr der Götter“), wobei „die Sonne allmählich schwach wird; die Erde sinkt in die Wasser; die funkelnden Sternschnuppen fallen vom Firmament“, begleitet von hoch aufsteigendem Feuer, um die Zerstörung zu vollenden.75 Schließlich taucht eine andere Erde aus den Wassern auf, der Adler fliegt und Götter verfügen wieder Frieden im Land und was heilig zu halten ist.

Ein ähnliches Muster von Niedergang, Tod und Erneuerung ist in dem Gespräch zwischen Asklepios und seinen Freunden zu finden, das dem Hermes Trismegistos, dem „dreimal Größten“, zugeschrieben wird. Wenn im Laufe der Zeit „alle Dinge, die dem Wesen der Seele feindlich sind“, von der Menschheit verübt werden, wird die Erde „nicht länger unerschüttert bleiben – der Himmel wird die Sterne nicht länger in ihren Bahnen halten, alle Stimmen der Götter werden notwendigerweise verstummen – … Aber wenn all das geschehen ist, wird Asklepios, dann der Meister und Vater, Gott, der Erste vor allen … der Unordnung durch das Zuwiderhandeln seines Willens Einhalt gebieten“. Er wird alle auf den Pfad zurückrufen, die sich verirrt haben, und die Erde vom Bösen reinigen – bald mit einer Flut, bald mit Feuer oder auch, „indem er es durch Krieg und Seuchen vertreibt“. Dann wird im Laufe der Zeitalter „Gott, der Erschaffer und Erneuerer des gewaltigen Gefüges“, den Weg frei machen für „die neue Geburt des Kosmos – eine heilige und Ehrfurcht erweckende Wiederherstellung der gesamten Natur“.76

Das Vishṇu-Purāṇa des alten Indien bietet ein anschauliches Bild vom Niedergang und der Erneuerung der Menschheit und der Erde. Nach einer detaillierten Darstellung der Missetaten der Menschheit, „bis sich die menschliche Rasse ihrer Vernichtung nähert“ – gegen Ende des Kali Yuga, unseres gegenwärtigen Zeitalters –, prophezeit es die Erneuerung, die stattfinden wird, wenn „ein Teil jenes göttlichen Wesens, das aus seiner eigenen spirituellen Natur im Wesen Brahmas existiert, welcher der Anfang und das Ende ist und alle Dinge versteht, auf die Erde niedersteigen wird“. Das ist Kalki, der zehnte Avatāra oder die göttliche Inkarnation, der in der Stadt Śambhala geboren wird, um alles, was falsch und unrecht ist, zu zerstören und das Dharma wieder herzustellen, das Gesetz von Wahrheit, Reinheit und Pflicht. Diejenigen, deren Denkvermögen aufgrund jener bemerkenswerten Periode erweckt und verändert wird, „werden wie die Samen der Menschen sein und eine Rasse gebären, die den Gesetzen des Kṛita-Zeitalters (des Zeitalters der Reinheit) folgen werden“, auch bekannt als Satya Yuga (Zeitalter der Wahrheit).77

Laut den brahmanischen Berichten begann das Kali Yuga – das niedrigste der vier Zeitalter mit einer Dauer von 432.000 Jahren – im Jahre 3.102 v. Chr. mit dem Tod Krishnas, des achten Avatāras des Vishnu. Vorausgesetzt, dass diese Zeitzyklen ziemlich genau sind, bedeutet das, dass wir nur etwas mehr als 5.000 Jahre des Kali Yuga abgeschlossen haben und noch 427.000 Jahre vor uns haben! Da angeblich das Kali Yuga – im Gegensatz zu den vorhandenen vier Vierteln der Wahrheit im Kṛita-Zeitalter – außerdem nur ein Viertel des Satya Yuga oder des Zeitalters der Wahrheit enthält, entsteht der Eindruck, als würde die Menschheit abwärtsgleiten – eine sehr entmutigende Aussicht, wenn wir nicht unser gegenwärtiges Zeitalter im größeren Zusammenhang des evolutionären Erdenzyklus betrachten. Der springende Punkt hier ist, dass die Erde und ihre Bewohner über den Mittelpunkt ihrer Evolution hinaus fortgeschritten sind; sie haben ihren Abwärtsschub vollendet, den Tiefpunkt überschritten – wenn auch nur geringfügig – und haben begonnen, aus der Materie zu einer immer verfeinerten Spiritualität aufwärtszusteigen. So ist das Kali Yuga ein kleinerer Zyklus des Abstiegs innerhalb eines großen Zyklus des Aufstiegs, den wir und die Erde in Angriff genommen haben; tatsächlich treten während unseres gegenwärtigen Kali-Zeitalters Perioden von relativer Spiritualität auf.

In einem 1882 an Allan O. Hume geschriebenen Brief erklärt KH, der Mentor HPBs, dass – wenn die Menschheit den „Axialpunkt“, den Mittelpunkt ihres siebenfältigen Laufs, überschreitet – „die Welt von den Ergebnissen intellektueller Aktivität und spiritueller Herabsetzung strotzt“ und dass in der letzten Hälfte des langen evolutionären Bogens „das spirituelle Ego seinen wirklichen Kampf mit dem Körper und Verstand beginnen wird, um seine transzendenten Kräfte zu offenbaren“. Er schließt seinen langen Brief mit der Frage: „Wer wird in dem kommenden gigantischen Ringen helfen? Wer? Glücklich der Mensch, der einer helfenden Hand hilft.“78 In der Tat: Wer wird seine helfende Hand in diesem Kampf der Zeitalter ausstrecken?

Viele Menschen sehnen sich heute nach einem Erlöser, um die Zerstörer in die Flucht zu schlagen und Harmonie und brüderliche Liebe unter uns wieder herzustellen. So weit in die Zeit zurückreichend wie Legende und heilige Schrift, hat fast jedes Volk am Ende des dunklen Zeitalters das Versprechen eines Erlösers gehegt, der die Übeltäter bezwingen und die Unschuldigen auf eine erneuerte Erde führen wird – ein goldenes Zeitalter, in dem die Wahrheit verehrt und alles Leben heilig gehalten wird. Die Christen blicken auf das Zweite Kommen, wenn die schließliche Trennung stattfindet; orthodoxe Juden erwarten den Messias; die Parsen zählen auf Saoshyans, der Ahriman (Dunkelheit) bezwingt und Ahura Mazda (Licht) den Thron übergibt. In Indien drehen sich ähnliche apokalyptische Ereignisse um den Kalki Avatāra am Ende des Kali Yugas; buddhistische Schriften beschreiben einen künftigen Buddha, Maitreya, den „Freundlichen, Wohltätigen“, der von den himmlischen Regionen zur Erde kommt, um wiederum das Dharma (das heilige Gesetz) in seiner Reinheit zu verkünden; und tibetische Legenden erzählen von der Rückkehr der Könige von Śambhala. Keine zwei stimmen in Bezug auf den Zeitpunkt überein: Die orientalischen Völker stufen das Ereignis in ferner Zukunft ein, während westliche Völker das Kommen eines Erlösers oder Weltlehrers praktisch als unmittelbar bevorstehend verkünden.

Bei unserer begrenzten Sicht auf das menschliche Schicksal, die teilweise von der Ablehnung der Reinkarnation als einer begründeten philosophischen Hypothese herrührt, ist es kein Wunder, dass während der letzten Jahrzehnte im Westen eine Art Messianismus aufgekommen ist, der sich in einer hysterischen Sehnsucht nach irgendeiner erleuchteten Persönlichkeit manifestiert, die sich erhebt und unsere Zivilisation von der Selbstzerstörung abhält.

Dass Lehrer und Führer für unsere innere Entwicklung so notwendig sind wie liebevolle Eltern und Schullehrer für Kinder, ist offenkundig, aber die andere Seite der Gleichung ist ebenso wichtig. So wie dem heranwachsenden Kind gestattet werden muss, seine eigene Stärke zu finden, so braucht die Menschheit als Ganzes Zeit und Raum, um durch ihre eigenen Anstrengungen Reife zu erlangen. Wir sind fast wie Jugendliche, die verfügbare Hilfe zurückweisen und dann – sich entfremdet fühlend – zu dummen und manchmal zerstörerischen Mitteln greifen, um die Einsamkeit zu füllen. Während es gegenwärtig eine außerordentliche Sehnsucht nach höherer Führung gibt, gibt es folglich auch einen erstaunlichen Mangel an Einschätzungsvermögen dafür, was in Geistesangelegenheiten vernünftig und was falsch ist.

Heute reißen die Stürme Nāradas, des Boten Karmas, einst scheinbar unüberwindliche Schranken nieder, um Platz zu schaffen für längst notwendig gewordene Veränderungen in den Geschicken von Einzelnen und Nationen.79 Jede Nation, jede Rasse, jedes Volk, tatsächlich jeder Mensch überall auf dem Globus ist Gegenstand der bipolaren Kraft von Nāradas Śiva-Energie, die zerstört, damit sie wieder aufbauen kann. Umstürze größeren und kleineren Ausmaßes ereignen sich zyklisch, um die Lebensfähigkeit des Geistes durch das Zerstören und Erneuern von Formen sicherzustellen. Dieses Zusammenspiel von Licht und Schatten wird so lange andauern, als wir verkörperte Wesenheiten sind. Aber es gibt Zyklen innerhalb von Zyklen und die Wachstumsmuster der Menschheit enthüllen lange Perioden scheinbarer Ruhe, unterbrochen von offenbar plötzlichen Veränderungen. Wenn ein solcher ‘Augenblick’ des Schicksals reif ist, erleben wir vielleicht einen Zustrom eines neuen Menschentypus auf der Bühne, oft begleitet von globalen Störungen sowohl physischer als auch psychologischer Art.

In kleinerem Ausmaß ist das Verblassen des Fischezeitalters und das Aufdämmern des Wassermannzeitalters ein solcher Knotenpunkt, an dem es zum Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen kommt. Da wir an der Kreuzung zweier größerer astronomischer und möglicherweise auch noch länger andauernder Zyklen stehen, fragen wir uns, ob das Zusammentreffen dieser verschiedenen Zyklen ungewöhnlich starke ‘Gezeiten’-Effekte hervorbringt, die es einer riesigen Welle von Egos ermöglichen, in dieser Zeit nach einer Inkarnation zu streben. Ob die hereinbrechenden Gezeiten ein Wiederaufleben spiritueller Werte mit sich bringen oder eine noch dunklere Periode menschlichen Leids, wird hauptsächlich von der gegenwärtigen und den kommenden Generationen abhängen. Wir Menschen – individuell und kollektiv als Bewohner des Planeten – werden angetrieben, zu erwachen und unser Denken und Verhalten zu prüfen; viele Menschen wenden sich um Antworten nach innen, hinterfragen Motive und das Warum und Wie der Existenz.

Wo immer wir hinblicken – wir beobachten vorwärts- und rückwärtsgerichtete Kräfte, die um die Vorherrschaft über die Herzen und Seelen wetteifern. Wenn man es isoliert betrachtet, ist dies Grund zu wirklicher Sorge, aber wenn man es als symptomatisch für einen zwar quälenden, aber überaus notwendigen Vorgang ansieht, haben wir Grund zu der Hoffnung, dass die neue Saat in fruchtbarem Boden keimen wird. So wie sich die zyklische Erneuerung der Formen in jedem Naturreich vollzieht, damit das neue Erblühen stattfinden kann, so können neue und dynamische Einsichten in die Rolle und das Schicksal des Menschen und in unsere kosmische Abstammung unsere Gedankenstrukturen verjüngen.

Für diejenigen, die in früheren Leben mit dem theosophischen Strom in Berührung gekommen sind, sich aber bis jetzt der daraus resultierenden Verantwortung nicht bewusst geworden sind, könnte das der Augenblick des Erwachens sein, auf den das höhere Selbst wartet – wenn wir uns innerlich wieder einmal mit uns vereinen und die nie endende Suche erneut aufnehmen. Von da an tritt unser Leben in eine neue Dimension ein: Nicht länger damit zufrieden, sich treiben zu lassen, verschärft sich der innere Kampf zwischen unserem Ariadne-Selbst, das uns aus dem Labyrinth unserer materiellen Interessen herausführen möchte, und unserem persönlichen Selbst, das für einige Zeit diese Führung zu ignorieren versucht. Aber unsere Ariadne lässt uns niemals völlig vergessen – sie kann es nicht, denn wir sind unwiderruflich mit ihr verbunden. Es ist nichts anderes als unser Sūtrātman, der ‘strahlende Faden’, der uns mit unserem Gott-Selbst vereint. Und noch wunderbarer: Sie verbindet uns auch mit dem Gott-Selbst oder Ātman eines jeden Menschen, der jemals auf Erden gelebt hat – ein kosmisches Einssein, das über der Macht der Vernichtung von Mensch, Gott oder Dämon steht.

Allerdings ist nicht jeder in der Lage, auf die von der Veränderung hervorgebrachte Unruhe konstruktiv zu reagieren. Viele Menschen sind verwirrt und schwanken folglich zwischen den sicheren Dogmen der Vergangenheit und jeder grenzüberschreitenden Idee, die sich ihrer Fantasie bemächtigt. Wo ist der rettende mittlere Weg, der beständig den Verwandlungsvorgang vorantreibt, der Abhängigkeit von äußerer Führung durch Vertrauen auf den Erlöser im Innern ersetzt?

Es wäre ein mitleidsloses Universum, müsste die Menschheit viele Tausende von Jahren auf die Rückkehr des goldenen Zeitalters warten, bevor Hilfe kommt. Könnten wir unsere menschliche Evolution seit den Ursprüngen dieses Erdenzyklus in einem Panorama sehen, so wüssten wir, dass eine Hierarchie von mitleidsvollen Wesen alle Kinder dieser Erde schützend bewacht. In zyklischen Perioden bringen sie eine Saat der kosmischen Wahrheit in das Weltbewusstsein aus, dem Karma der Menschheit entsprechend, und in periodischen Abständen senden sie einen oder mehrere aus ihren Reihen, um in der Menschheit zu inkarnieren, und ermahnen Nationen und Rassen, in Harmonie, Ordnung und Frieden miteinander zu leben. Eine universale Bruderschaft auf Erden zu errichten, ist ihr beständiger Traum. Aufgrund unseres gemeinsamen Ursprungs im Göttlichen – auf dieser Grundlage sind wir Brüder – muss dies auch kein Traum bleiben.

Wenn der Ruf aus erwachenden Herzen und Seelen stark genug ist, bringt das Gesetz magnetischer Anziehung eine Reaktion zustande. „Bittet und es wird euch gegeben …“ Aber bevor wir ernsthaft „bitten“ – Wünsche haben eine unbequeme Art, wahr zu werden –, sollten wir uns vielleicht einige Fragen stellen: Verdienen wir die Hilfe, die wir suchen? Haben wir alles getan, was wir können und sollten, um die Fehler in unserer eigenen Natur und der Bühne der Weltbeziehungen zu korrigieren? Ist darüber hinaus unsere Intuition empfindsam genug, um einen wahren Boten oder Lehrer zu erkennen? Welche Sicherheit gibt es umgekehrt, dass ein Mensch das ist, was er zu sein behauptet, und dass seine Lehren mit der Natur und mit den ursprünglichen Wahrheiten – die unserer innersten Essenz, als die Menschheit jung war, eingeprägt wurden – übereinstimmen? Falsche Propheten sind immer gegenwärtig, während die echten oft schlecht gemacht werden; manchmal erkennen wir intuitiv, dass eine große Seele unter uns gelebt hat, erst dann, wenn sie die Weltenbühne verlassen hat. Sicherlich ist ein hohes Maß an Auffassungsgabe, an Reinheit der Aspiration und an gesundem Menschenverstand nötig.

Wirkliche Scharlatane stellen keine anhaltende Gefahr dar, denn sie werden recht schnell durchschaut. Es sind die charismatischen Menschentypen mit ihrem überzeugenden Gemisch aus Halbwahrheiten, die für ihre Anhänger die größte Versuchung darstellen – und für sich selbst. Viele von ihnen beginnen möglicherweise zunächst mit guten Absichten, um den Millionen, die nach etwas mehr als der engen Orthodoxie kirchlichen Glaubens hungern, eine Botschaft der Hoffnung zu bringen. Einige von ihnen sind vielleicht durch irgendeine besondere Erfahrung oder Vision davon überzeugt, dass sie einen ‘Ruf’ empfangen haben. Das kann der Fall sein – oder auch nicht. Wo die Aspiration stark und zielgerichtet ist, mag ein einzelner Mensch für einen Augenblick einen Kanal für das Licht im Innern öffnen und eine zeitweilige Verschmelzung der Seele mit seinem höheren Selbst erleben. Für ihn ist die Vision real. Die Frage ist: Hat eine entsprechende Reinigung des Charakters, eine parallel laufende Schulung und Kontrolle der leidenschaftlichen und mentalen Natur stattgefunden, um die Vision aufrechtzuerhalten? Wenn er nicht rücksichtslos bemüht war, sich von Stolz und Geiz zu befreien, macht ihn die momentane Öffnung zu inneren Welten verletzlich für fremde Kräfte aus den niederen Astralreichen, die – wenn nicht durch den höheren Willen kontrolliert – dämonisch werden können.

Wir rufen uns eine scharfsinnige Beobachtung von William Law (1686-1761), einem Theosophen, christlichen Geistlichen und tiefsinnigen Schüler der Schriften Jakob Böhmes, ins Gedächtnis:

Weißt du …, woher es kommt, dass so viele falsche Geister in der Welt erscheinen, die sich und andere mit falschem Feuer und falschem Licht täuschen, die Anspruch erheben auf Inspiration, Erleuchtungen und Eröffnungen des göttlichen Lebens, indem sie vorgeben, unter außergewöhnlichen Anrufungen Gottes Wunder zu bewirken? Es ist so: Sie haben sich Gott zugewendet, ohne sich von sich selbst abzuwenden; sie wollen in Gott leben, bevor sie für ihre eigene Natur tot sind …

In den Händen des Selbst oder einer korrupten Natur dient die Religion nur der Aufdeckung von schlimmeren Lastern, als sie in einer sich selbst überlassenen Natur existieren.80

Beachten Sie den Satz: „Sie haben sich Gott zugewendet, ohne sich von sich selbst abzuwenden.“ Die menschliche Natur hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht viel verändert! Wenige der Menschen, die sich nach verändernden Erfahrungen höherer Art sehnen, sind willens, den ersten Schritt der Selbstdisziplin zu tun, und noch weniger ertragen ein langes und anstrengendes Training und Erproben der Integrität und der Motive, viele Leben lang. „Übung geht den Mysterien voraus“ ist ein Grundsatz von erwiesener Gültigkeit.

In historischen Zeiten und auch heute geschieht es, dass der eine oder andere selbst ernannte Guru zu glauben beginnt, er sei unfehlbar: Ist er nicht von Gott gesandt, ein Apostel des Messias oder ein Überbringer einer Botschaft direkt vom Herrn Maitreya? Seine oder ihre Anhänger sind teilweise mitschuldig, denn permanente und unkritische Vergötterung kann wie Gift wirken. So heimtückisch ist das Gift der Schmeichelei, dass der Möchtegernlehrer nur zu bald sowohl sich selbst als auch seine Verehrer davon überzeugt, dass er von der strengen, für andere geltenden Moralität befreit ist: Welche Übertretung des ethischen Kodex er auch immer begehen mag – sie wird zu einem ‘heiligen Akt’ und so geheiligt. Es ist unmöglich, die tragischen Konsequenzen eines solchen Verrats – an sich und an denjenigen, die uneingeschränkt ihre Hingabe und ihr Vertrauen geben – abzuschätzen.

Offensichtlich ist Vollkommenheit weder möglich noch wird sie erwartet, und es ist so anmaßend wie unfair, diejenigen streng zu beurteilen, die ernsthaft danach streben, ihren Mitmenschen spirituell und moralisch zu helfen. Dennoch haben wir das Recht und die Pflicht zu erwarten, dass diejenigen, die für sich beanspruchen, Lehrer zu sein, Worte der Wahrheit und des Mitleids durch ehrbares und altruistisches Denken und Handeln bestätigen. Was wir alle brauchen, ist ein klareres Wissen über uns selbst und dazu eine gesunde Dosis Skeptizismus – nicht Zynismus, sondern intelligenten Skeptizismus. Das Wort ist treffend: von griechisch skeptikos, „gedankenvoll, reflektierend“. Wir müssen daran erinnert werden, dass die Essenz unseres Wesens unsterblich ist und dass jeder von uns nicht nur das angeborene Vermögen und den Willen, sondern auch die Verpflichtung hat, sich selbst zu ‘erlösen’ – das heißt, unsere Seelen von den Fesseln selbstsüchtigen Verlangens zu befreien.

Das zyklische Auftreten von Erlösergestalten soll uns an unsere göttlichen Möglichkeiten erinnern – nicht unseren Drang rauben, zu wachsen und ihnen gleich zu werden. Wir können jetzt damit beginnen, indem wir alles aus unserer Natur über Bord werfen, das äußerlich ist und geringfügiger, als wir es an menschlichem Verhalten schätzen. Das ist keine Aufforderung zu übertriebenen physischen oder mentalen Entsagungen: Die Ausübung der alten und universal verehrten Vorschriften – wir wollen sie Gebote, Seligpreisungen, Pāramitās oder Tugenden nennen – ist unser Sesam-öffne-Dich für die Zukunft. Trotz des Zugs zu materiellen Belangen während des absteigenden Zyklus im Kali Yuga müssen wir uns in unserem Denken und unserer Aspiration nicht abwärtsneigen. Die Geschichte des Menschen bestätigt seit Anbeginn, dass in jedem Zeitalter – ob es ein Zeitalter spiritueller Klarheit und aufwärtsgerichteten Strebens oder eines von spiritueller Finsternis und einer abwärtsgerichteten Tendenz war – Pioniere ruhig an der Arbeit sind, vorwärtsdenkende Männer und Frauen, welche die Feuer der Aspiration lebendig halten. Je stärker der Zug zum Materiellen ist, umso mächtiger schwimmen sie dagegen an, um die erforderliche Gegenströmung zu bewirken.

Offenkundig sind wir mitten in einer kritischen Phase, in der die Lichtenergien in direktem Kampf mit den dunklen Kräften stehen– nicht nur auf der nationalen und internationalen Bühne, sondern auch in unserer eigenen Natur. Wenn wir nicht jetzt, individuell und kollektiv, beginnen, uns auf unsere eigene innere Stärke zu verlassen, werden wir wenig haben, auf das wir in künftigen Krisen zurückgreifen können. Jetzt ist nicht die Zeit, um sich an große Führer zu lehnen; es ist nicht die Zeit, auf einen Boten zu warten. Wenn wir empfinden, dass die Umstände mehr als ungünstig für unsere unerschütterlichen Bemühungen sind, die Fackel der Hoffnung hochzuhalten, wollen wir uns an Mutter Theresa erinnern. Als sie gefragt wurde, wie sie angesichts des Ausmaßes an Leid – dessen Zeuge sie täglich wurde, ohne irgendeine Möglichkeit, sich spürbar gegen die Flut zu stemmen – ausharren könnte, antwortete sie: „Eins nach dem anderen: Ich schaue nur auf das Kind oder den alten Mann oder die Frau, die ich pflege; würde ich an die Abermillionen denken, die meiner Hilfe bedürfen, könnte ich nichts tun.“

Es scheint, dass jeder Mensch in sich die Kraft hat, das zu tun, was erforderlich ist: insgeheim und unbemerkt der Führung seines höheren Selbst zu folgen. Aber wir müssen in dieser Praxis durchhalten; vor allem müssen wir vorbehaltlos auf die Fähigkeit unseres inneren Lichts zur Erleuchtung unseres Lebens vertrauen. Wenn jeder von uns unerschütterlich seiner Führung Beachtung schenkt, werden wir mit der Zeit eine Verkörperung von Mitleid, Verständnis, Wissen und Hilfsbereitschaft werden – und doch werden wir paradoxerweise den größten Segen von allen empfangen haben, wir werden ‘in den Augen der Welt zu einem Nichts geworden sein’. Auf diese Art werden wir die Lichtimpulse stärken, die an Zahl und Schwungkraft gewinnen, und dementsprechend die mitleidsvollen Taten jener verstärken, die unentwegt für alle Nationen und für die Ungeborenen arbeiten und die auch gegenwärtig den Weg für die Morgendämmerung eines helleren Zeitalters vorbereiten.


16 – Die tägliche Initiation

Jedes Volk hat den heiligen Kern des Göttlichen in seinem tiefsten Herzen hervorgebracht. Wie seltsam ist es angesichts dieses wunderbaren Erbes, dass wir uns jemals ‘der Gegenwart der Götter beraubt’ fühlen sollten, als wäre das Band mit unserer göttlichen Quelle geschwächt und nicht länger sicher. Wir sind nicht die erste Zivilisation, die sich verloren und verwirrt fühlt, noch werden wir die letzte sein, aber das bedeutet nicht, dass es kein Heilmittel gibt. Immer war Hilfe in unserer Reichweite: Hilfe, unser ganzes Wesen mit den aufbauenden Energien des Universums zu vereinen und sich zu weigern, die – natürlich nicht absichtlich, aber womöglich durch ein Versäumnis wirkenden – zerstörerischen Kräfte zu stärken, die stets bereit sind, eine unentschlossene Seele anzugreifen. Dennoch müssen wir durchhalten, denn sobald wir einmal die Wahl treffen, werden all die ‘Teufel’ in der Unterwelt unserer Natur anscheinend auf uns losgelassen, um unsere Integrität zu prüfen. Je ernsthafter wir sind, umso so feiner und hartnäckiger wird der Widerstand sein – nicht von anderen zuwege gebracht, sondern von unserem eigenen höheren Selbst.

Darin liegt nichts Mysteriöses. Wahrscheinlich hat jeder die Erfahrung gemacht, dass – wenn wir uns entscheiden, unser gewohnheitsmäßiges Denken zu ändern – sich anscheinend alles und jeder gegen uns verschwört. Das ist unvermeidlich, denn die Intensität der Aspiration fordert die Götter heraus, die ‘eifersüchtig’ auf uns Menschen sind, die sich unvorbereitet in ihre Domäne wagen. Nur diejenigen, die beinahe gottgleich geworden sind, dürfen eintreten. Und da die Götter in einem tiefen Sinn wir selbst sind, kann das Eingehen auf unsere aufdringlichen Forderungen eine Lawine von Karma aus vergangenen Leben, das sich noch nicht ausgewirkt hat, auslösen. Das kann für das persönliche Selbst schockierend sein, aber nicht für den Teil von uns, der tief im Innern weiß, dass wir uns bis zur Erschöpfung unseres Durchhaltevermögens nach der Prüfung gesehnt haben.

William Q. Judge gebraucht die kryptische Formulierung „karmische Ausdauer“ im Zusammenhang mit Aspiranten, die vorübergehend in „einen psychischen Strudel oder einen Wirbel des Okkulten“ geraten, in den selbst andere hineingezogen werden können und in dem „die Samen des Guten oder Bösen zur Aktivität heranreifen“.81 Das Ergebnis wird nicht nur von unserer Willensbeständigkeit und Selbstlosigkeit des Motivs abhängen, sondern auch von der Reserve unserer moralischen und spirituellen Beständigkeit, unserer eigenen Ausdauer. Das Wort „Ausdauer“, englisch „stamina“ – vom lateinischen Wort für „Kette, Faden, Gewebe“ – passt hier gut, denn die Kettenfäden auf dem Webstuhl werden gewöhnlich fester gezogen als der Schuss, da sie die Grundlage bilden, auf welche die Querfäden gewebt werden. Die täglichen Begegnungen und Wechselwirkungen mit anderen und die Einwirkungen der Ereignisse auf uns sind alle Karma: Die Kette stellt das Hervorfließen vergangener Erfahrung dar, während unsere Reaktionen, die wir gewählt haben, der Schuss sind, den das Schiff der Seele trägt, wenn wir unsere Vergangenheit und Zukunft auf der Kette der Vergangenheit weben.

Nicht alles ist Mühsal und Versuchung. Unser innerer Gott kann ein strenger Lehrmeister sein, aber er ist unendlich gerecht und deshalb unendlich mitleidsvoll. Welche Saaten der Disharmonie wir auch immer gesät haben – die Stärke unseres Sehnens bringt sie ganz gewiss zum Keimen, aber ebenso belebt sie die Samen des Edlen im Charakter, so dass wir innerlich gestützt und ermutigt werden. Sie kann wahrlich eine Flut von Licht auf unseren Pfad werfen. Eine solche Entschlossenheit findet in unserem innersten Selbst einen Widerhall, und wenn wir Leben um Leben wiederkehren, führt sie uns weiter und weiter, um die Verantwortung erneut aufzunehmen. Jeder Tag, jedes Jahr, jedes Leben beseelen wir die alte Entschlossenheit mit neuer Kraft. Katherine Tingley spricht darüber sehr gekonnt in ihrem Buch Theosophy: The Path of the Mystic [Theosophie: Der Pfad des Mystikers]:

Ein Gelöbnis ist eine Tat, die sich wie ein Stern über den Maßstab der gewöhnlichen Handlungen des Lebens erhebt. Es ist ein Zeuge, dass der äußere Mensch in diesem Augenblick sein Einssein mit dem Innern und dem Zweck seines Daseins erfasst …

In diesem Augenblick wird der strahlende Pfad des Lichts mit dem Auge des reinen Schauens erblickt; der Jünger wird wiedergeboren, das alte Leben wird zurückgelassen, er betritt einen neuen Weg. Einen Augenblick lang fühlt er die Berührung einer führenden Hand, die sich aus der inneren Kammer immer nach ihm ausstreckt. Für einen Augenblick erhascht sein Ohr die Harmonie der Seele.

Dieses und mehr noch erfahren diejenigen, die ihr Gelöbnis mit ganzem Herzen ablegen, und in dem Maße, wie sie das Gelöbnis und auch ihre Anstrengungen beständig erneuern, kehren die Harmonien wieder und wieder und der klare Pfad wird aufs Neue überschaut.

… Jede Anstrengung bahnt den Pfad für die nächste und in kurzer Zeit wird ein Augenblick der Stille dem Jünger durch die Stärke seiner Seele Hilfe bringen.

– S. 53-54

Ein solches Gelöbnis ist ein Anklopfen an das Tor unseres höheren Selbst. Wenn das Anklopfen aufrichtig ist, können die Erleuchtung und die Stärke, die in uns fließen, zu einem transformierenden Einfluss werden, der uns helfen kann, die Absicht des höheren Selbst für unser gewöhnliches Selbst intuitiv zu erfassen. Wenn das Motiv, der Menschheit zu dienen, willentlich verstärkt wird, nimmt das höhere Selbst unser Leben an die Hand und wir bemerken, dass wir in Situationen geführt werden, die uns bis in das Innerste prüfen, damit wir unseren Wert und die Tiefe unseres Bemühens unter Beweis stellen – nicht zum eigenen Nutzen, sondern damit wir anderen Licht und Inspiration bringen können.

Das höhere Selbst ist unser wirklicher Lehrer, unser innerer Buddha. Das ist eine altbewährte Wahrheit: Sie legt die Verantwortung für Wachstum und inneren Fortschritt direkt in unsere Hände. Wir können niemand als uns selbst für unsere Dummheiten tadeln, es gibt niemanden, dem wir unsere Lasten aufladen können. Wir sind unser eigener Erwecker, unser eigener Erlöser, denn wir sind die Stufen, die wir steigen müssen, und die Wahrheit, die zu finden wir uns so sehnen. Dennoch fühlen sich wenige von uns ausreichend dafür gerüstet, die Anforderungen Dharmas zu erfüllen, oder selbstdiszipliniert genug, um mit Gleichmut der Wirkungsweise des täglichen Karmas zu begegnen. Vertrauen ist der Schlüssel: Karma zu vertrauen, bedeutet, uns selbst zu vertrauen und darauf zu vertrauen, dass wir die inneren Mittel haben, zu erledigen, was anfällt. Wenn wir die Wahl getroffen haben, achtsam zu leben, gibt es keinen Weg zurück. Allerdings wird nicht verlangt, mehr als einen Schritt auf einmal zu machen; das ist unser Schutz, denn durch die Begegnung mit den Herausforderungen des Lebens sammeln wir Tag für Tag Stärke und ausreichend Weisheit für den täglichen Bedarf.

Sobald wir die Tatsache erfassen, dass wir der Pfad vor uns sind, werden wir nie mehr jene schmerzliche Einsamkeit der Verzweiflung fühlen, denn wir werden mit unserer Lichtquelle in Berührung gekommen sein – wie flüchtig auch immer. Sollten Phasen des Verzagtseins zurückkehren, werden sie keinen festen Halt finden, denn ein Teil von uns, der in Gemeinschaft mit unserem höheren Selbst getreten ist, bleibt in gutem Kontakt mit der größeren Bruderschaft des Geistes, die jeden Aspiranten auf dem Pfad berührt. In dem Maß, wie wir es unserer Buddha-natur erlauben, unser gewöhnliches Selbst zu erleuchten, wird das Tathāgata-Licht, die Christos-Sonne, unser Wesen und den Pfad vor uns erstrahlen lassen. Da wir eine Menschheit sind, lässt der beleuchtete Pfad eines einzigen Individuums den Pfad aller anderen Menschen in diesem Maß heller werden.

Es ist eine Binsenweisheit, dass niemand andauernd auf den Höhen leben kann. Wir sind gezwungen, in die Täler der täglichen Erfahrung zurückzukehren, wo wir noch Lektionen zu lernen haben. Aber das aus den Höhen erblickte Panorama ist, wenn es auch noch so kurzlebig war, unsere Stütze. Es braucht Mut, dem höheren Selbst zu gestatten, uns in jene Umstände zu führen, die alte karmische Ursachen zum Erblühen bringen, deren Wirkungen auf uns und andere wir nun begegnen müssen. Hat man sich jedoch einmal darauf eingelassen, ist die Sache erledigt. Wenn mitunter alles schiefzulaufen scheint und jede Anstrengung, die wir unternehmen, mit Gegenwehr beantwortet wird, ist das zu erwarten.

Die von uns getroffene Wahl, dem Weg des Mitleids zu folgen, ist ihrem Wesen und Ziel nach eine stromaufwärts gerichtete Bemühung. Es ist keine einfache Sache, gegen die Strömung zu schwimmen; es erfordert Mut, Jahr um Jahr einen Kurs zu halten, der – selbst wenn wir tief im Innern wissen, dass es für uns der richtige Pfad ist – manchmal unserem persönlichen Selbst ziemlich entgegengestellt zu sein scheint. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, werden wir durch eine innere Bestätigung erwärmt und gestärkt, dass wir uns keine großartigere Gelegenheit hätten wünschen können. Von Karma wurde es uns gestattet – in welch geringem Ausmaß auch immer –, im mitleidsvollen Orden des Universums mitzuhelfen: Das ist ein Segen, nach dem sich die Seele während vieler Leben im Stillen gesehnt hat.

Wir lernen früh, dass jede Aspiration durch Selbstdisziplin aufrechterhalten werden muss. Heute strapazieren die Menschen ihre Seelen, sie sehnen sich danach, sich über ihr gewöhnliches kleines Selbst zu erheben und eine Vision dessen zu erhaschen, was jenseits und innerlich ist. Viele von uns sind jedoch so sehr von ihren eigenen Ideen über den Sinn des Lebens erfüllt, dass wir wie der Schüler sind, der auf der Suche nach Wissen zu dem Zenmönch kam: „Lehre mich, Roshi, was Zen ist.“ Der Zenmeister lud ihn zum Tee ein. Er begann Tee in die Tasse zu gießen und er goss und goss und goss, bis der Schüler es nicht länger ertrug und beinahe schrie: „Aber die Tasse ist voll. Siehst du das nicht?“ Der Roshi sagte ruhig: „So wie dein Denkvermögen. Du bist so erfüllt von deinen eigenen Ideen und Meinungen, dass es nicht einmal für einen Tropfen Weisheit Platz gibt. Leere dich selbst, leere dein Denken von all deinen vorgefassten Meinungen, leere dein Herz und deine Seele von allen unpassenden Gedanken und Gefühlen, und du wirst in Überfluss gefüllt.“

Wir alle wissen, was an uns wertlos ist. Das Bemühen, die ungezähmten Neigungen in unserem Charakter zu besänftigen, ist eine Art Reinigung, eine Reinigung, die wir jeden Tag durchführen können. Das ist es, was Paulus meinte, als er zum Volk von Korinth sagte: „Ich sterbe täglich“ – Tag um Tag versuchte er, innerlich „wiedergeboren“ zu werden. Das ist die ‘tägliche Initiation’, von der W. Q. Judge sprach – das Leben selbst mit seinen vielfältigen Freuden und Sorgen. Beide haben ihre Versuchungen und Prüfungen, wobei der Umgang mit Glück oft schwieriger ist als die tagtäglichen Frustrationen und Enttäuschungen. Die ständige Forderung an uns, zwischen dem Größeren und dem Geringeren zu wählen, zwischen dem Selbstlosen und dem Selbstzentrierten, bringt uns von Angesicht zu Angesicht mit uns selbst.

Es geht darum, zu den ersten Prinzipien zurückzukehren: Wir beginnen von innen, von unserem zentralen Selbst. Was ist unser Motiv? Wir neigen dazu, uns Initiation als etwas weit Entferntes von den täglichen Ereignissen vorzustellen, aber jedes Mal, wenn wir eine Schwäche besiegen, jedes Mal, wenn wir den Mut haben, uns selbst so zu sehen, wie wir sind, prüft unser höheres Selbst unser niederes Selbst; wir prüfen die Wesensart unseres Charakters. „Feuer prüft Gold, Widrigkeiten prüfen starke Seelen“, schrieb Seneca, ein römischer Staatsmann und Philosoph des 1. Jahrhunderts nach Christus.82 Jede Art von intensivem Leiden, besonders wenn – durch Willensschwäche, emotionale Instabilität oder ein Gefangensein in einem Strudel von Gedanken unterhalb unseres eigenen inneren Maßstabs – selbst verursacht, kann eine Initiationserfahrung werden. Das Wort Initiation bedeutet „Anfang“, das bewusste Umblättern zu einer neuen Seite in unserem Lebensbuch. Die Finsternis unserer individuellen Hölle durchdrungen zu haben und – mit der Fähigkeit, seinen Forderungen zu begegnen – zum Licht unseres strahlenden Selbst emporgetaucht zu sein, ist eine Art von Initiation.

Wenn wir innerlich gefestigt sind, sind wir gegen alles gewappnet, was geschieht; wenn wir das nicht sind, sind wir – sobald wir tatsächlich ernsthaften Herausforderungen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – nicht darauf vorbereitet, verantwortlich zu handeln. Wir können das Rad als eine Metapher verwenden: Wenn wir in Gedanken und Aspiration so nahe wir können an der Nabe des Seins leben, wird uns das sich drehende Rad Karmas nicht zermalmen; aber wenn wir am äußeren Rand und Umfang unseres Lebens leben, gehen wir das Risiko ein, unter das karmische Rad zu geraten. Das kann geschehen und geschieht häufiger als nötig; und es ist grausam, Zeuge davon zu sein – und es zu erfahren. Dennoch lernen wir unschätzbare Lektionen an Demut und Mitleid: Wir gewinnen nicht nur unermesslich, sondern wir werden dadurch hoffentlich auch ausreichend empfindsam, um anderen bei der Erkenntnis zu helfen, dass sie – wenn sie den Radius ihres Wesens zu ihrer Nabe emporsteigen – Führung, Stärke und ein Licht auf ihrem Pfad finden werden.

Eine unserer edelsten Gelegenheiten besteht darin, unseren Mitmenschen Vertrauen zu schenken, so dass wir alle – egal wie schwach wir sind oder zu sein glauben – genügend Kraft haben, unser Leben auf eine ehrenhafte, gedankenvolle und selbstdisziplinierte Weise zu leben. Wir müssen zulassen, dass unser höheres Selbst die Verantwortung für das Schicksal unseres Lebens übernimmt. Gibt es irgendein größeres Geschenk, das man anbieten kann, als dem anderen zu versichern, dass er das besitzt, was nötig ist, um mit seinem Karma zurechtzukommen – erhobenen Hauptes, gleichgültig wie oft er vielleicht strauchelt? Wir sind nicht allein in unseren Kämpfen. Jeder hat irgendein Kreuz zu tragen, irgendeine Charakterschwäche zu überwinden; genauso hat jeder Mensch seine oder ihre Stärke, um darauf aufzubauen. Einfach gesagt: Wenn wir die innere Stärke haben, ‘durchzuhalten’, ungeachtet wie oft wir straucheln oder wie tief wir fallen, gibt es kein Versagen, sondern nur Triumph.

Wir sind transzendente Wesen, kosmisch an Vermögen und benutzen menschliche Vehikel zum Wachstum und zur Bewusstseinserweiterung. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind ist hier auf Erden als Ergebnis äonenlanger Erfahrung, jeder von uns betritt das irdische Leben als eine alte Seele für einen göttlichen Zweck. Es gibt nicht eine einzige Straße der Erfahrung oder Pflicht, die nicht mit den Augen unseres kosmischen Selbst betrachtet werden kann. Das verleiht unserer Erfahrung hier auf Erden eine gänzlich neue Perspektive. Von nun an wissen wir, unabhängig von unseren Lebensumständen, dass wir niemals von unserem Karma verschluckt werden können, weil die lange Perspektive vieler Leben eine überzeugende Erinnerung an die unbegrenzten Hilfsquellen ist, auf die wir uns verlassen können.

Die Natur verlangt von ihren Kindern das Äußerste, um ihr vollständiges Potenzial zur Blüte zu bringen. Jeden Augenblick, Tag für Tag, tragen wir Menschen mit unseren wunderbaren Denkfähigkeiten und unserer Intuition entweder zum Wohl oder Weh der menschlichen Rasse bei und prägen damit die noumenalen oder verursachenden Bereiche. Natürlich sollte niemand von sich oder anderen Vollkommenheit erwarten. Unser Ziel liegt nicht darin, Selbstvollkommenheit zu erlangen; es liegt vielmehr darin, dem Leben des Dienens jener nachzueifern, die von Zeit zu Zeit als Lichtbringer, als neuerliche Träger der alten Weisheitslehren erscheinen. Was auch immer unsere Rolle, ob nun Arbeiter, Hausfrau oder Fachmann, ist – wenn wir unser Bestes geben, um unser besonderes Dharma zu erfüllen, um das Ganze anzuheben, sind unsere Schwächen zweitrangig. Wir müssen sie zwar immer noch anpacken, aber es gibt keinen Grund, ihnen übertriebene Aufmerksamkeit zu widmen.

Wir und die gesamte Menschheit müssen unser Bewusstsein aus dem herausnehmen, was für die Ebene des kreativen und konstruktiven Teils unserer Natur zerstörend und zerstreuend ist. Der wirkungsvollste Weg zu Wachstum ist Selbstvergessen, während wir unseren Verantwortungen nachgehen. Das klingt recht gewöhnlich und dennoch funktioniert es, weil wir – wenn wir von der völligen Aufmerksamkeit auf die naheliegende Aufgabe eingenommen sind – für diesen Zeitraum automatisch unsere Sorgen beiseitelegen. Wenn wir zu ihnen zurückkehren, haben wir oft zu unserer Überraschung eine klarere Vorstellung, wie wir sie angehen sollen.

In seinen Yoga Sūtren riet Patañjali aus dem alten Indien zur Kontrolle des Denkvermögens und der Myriaden Gedanken und Bilder, die wohl oder übel durch unser Bewusstsein ziehen: Wenn wir die Flüssigkeit unseres Denkens in ein Gefäß gießen, nimmt es seine Form an, was darauf hindeutet, dass wir achtsam darauf sein müssen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Ein verwandter Gedanke wird einem anderen indischen Weisen, Yāska, zugeschrieben: yadyad rūpaṃ kāmayate devatā, tattad rūpaṃ devatā bhavati, „Nach welchem Körper (oder Form) sich ein göttliches Wesen sehnt, zu genau diesem Körper (oder Form) wird das göttliche Wesen“.83 Unvermeidlich wird unser Bewusstsein in das Gefäß des Denkens oder der Emotionen fließen, zu dem wir die größte Affinität haben. Um unsere momentanen Normen zu ändern und zu erweitern, müssen wir die vorhandenen Gefäße verändern und vergrößern oder aus ihnen ausbrechen. Das erfordert Mut und Willen. Wenn wir uns für das Licht im Innern öffnen, strömt das Licht durch uns. Da jeder Mensch auf seine oder ihre Weise ein Lichtbringer ist, bringt jeder, in dessen Herzen die Flamme der Bruderschaft brennt, Hoffnung und Mut in diese Welt.

Wenn wir über den Gehirnverstand hinausgehen zum Herzen jener, mit denen wir Differenzen haben, kommt es zu einem Geben und Nehmen des Empfindens und der Einstellung von beiden Seiten, und in kurzer Zeit wird es möglich, selbst die schwierigsten Situationen zu lösen. Das trifft auch auf den ganz gewöhnlichen Umgang mit unserer Familie oder in der Arbeit zu: Wenn wir spontan die Größe des anderen Menschen von der Größe in uns selbst aus ansprechen, sind wir natürlich hellsichtig und erkennen das innere Bedürfnis des anderen. Darin liegt Schönheit und Magie, denn die Natur selbst hilft uns. Katherine Tingley erinnert uns daran:

Unsere Stärke liegt darin, positiv zu bleiben; eine beständige Freude in unserem Herzen zu bewahren; jeden Augenblick über all die umhertreibenden großen Ideen zu meditieren, bis wir sie erfasst und zu den unsrigen gemacht haben; zu meditieren mit der Imagination über das Leben der Menschheit in der Zukunft und dessen Erhabenheit; bei der Vorstellung der Bruderschaft zu verweilen.

Theosophy: The Path of the Mystic, S. 21

Diese umhertreibenden großen Ideen, die ständig in und durch das Gedankenbewusstsein der Menschheit zirkulieren, sind die Quelle unserer angeborenen Weisheit. Wir müssen sie nur neu entdecken, uns an unser innewohnendes Wissen über sie erinnern, und sie werden zu unserer Inspiration.

Jeder Mensch hat das uneingeschränkte Recht auf seine individuelle Art des Fühlens und Empfindens, auf seine Eigenartigkeiten. Wir müssen die innere Qualität des anderen so respektieren, wie wir unsere eigene respektiert wünschen. Sicherlich ist der dauerhafteste Beitrag, den wir zur Anerkennung der Würde jedes Menschen leisten können, der stille Anfang in unserer eigenen Seele. Jeder Mensch, der jeden anderen nicht nur als seinen Bruder ansieht, sondern als sein eigenes Selbst, trägt seinen Anteil an spiritueller Kraft zu der moralischen Stärke des Bruderschaftsideals bei. Wir sind nicht getrennt – wir sind eine Lebenswoge, eine Menschenfamilie.

Wie und wo beginnen wir? Jeder von uns hat seine Verantwortlichkeiten zu Hause und im Beruf. Sie kommen zuerst: Wir schulden unserer Familie unsere ganze Liebe, Hingabe, Intelligenz und Unterstützung. Wir nehmen jeden Tag an und vertrauen, dass wir dessen Karma mit ausreichender Klarheit lesen werden, so dass es uns möglich ist, voranzuschreiten, wie wir sollen. Alles beginnt als ein Same. Und doch besteht das Wunder darin, dass der Baum schon im Samen als Muster existiert. Jede Wachstumsphase ist in der Samenessenz, in dem unsichtbaren Raum (Ākāsā) im Herzen als Matrix enthalten, die ebenso im Herzen eines Sterns wie im Kern eines Atoms lebendig ist.84 Wir müssen jeden Augenblick vollständig leben und jedem Menschen und jeder kleinsten Begebenheit die Gesamtheit unseres Herzens und Denkens widmen, so dass sich nur die reinste und wahrhaftigste Qualität von Karma verwirklicht. Nur dann können wir auf den inneren Ruf jedes Individuums oder Ereignisses antworten. Damit haben wir nicht nur Reue vermieden oder das Gefühl, jemand anderen durch Unachtsamkeit oder Gedankenlosigkeit enttäuscht zu haben, sondern es gibt nur den konstruktiven, vitalisierenden Fluss von Energie zwischen uns und jenen, mit denen wir Umgang haben. Wenn wir die Wirklichkeit von Gedanken und ihren Kreisläufen im Astrallicht berücksichtigen, würde das spirituelle und mentale Bewusstsein der Menschheit von Licht berührt, wenn sich jeder von uns in jedem Augenblick eines jeden Tages pflichtbewusst vollkommen hingäbe und am Ideal des Dienens festhielte.

Wir sind Teil eines spirituellen Unternehmens, das weit größer ist, als es unser begrenztes Denkvermögen erfassen kann – Verbündete in den äußersten Bereichen, aber dennoch Verbündete in einer Bruderschaft, aus deren zentraler Heimat die spiritualisierenden Magnetismen hervorströmen, die unseren Planeten und seine Menschheiten auf Kurs halten – insofern es das Weltkarma gestattet. Der Gedanke ist unendlich inspirierend, dass jeder Aspirant an einem unaufhörlichen Staffellauf von Strebenden teilnimmt. Jeder ermöglicht es dem ihm Folgenden, die Hoffnung und Energie zu haben, jene Errungenschaften des Geistes zu vollenden, die auf eine günstige Zeit und die richtigen Bedingungen für die Reife warten. Die Fackel von Mut, Durchhaltevermögen und Hingabe weiterreichen: jede für sich von geringem Wert, aber gemeinsam jede ein goldenes Glied in der buddhischen Kette des Mitleids und der Liebe, deren innerste Bereiche jenseits von Sonne und Sternen liegen.


17 – Ein neuer Kontinent des Denkens

Jeder zählt. Intuitiv wissen wir das, aber erfassen wir die tiefgreifenden Implikationen dieser mächtigen Wahrheit wirklich? Es ist offenkundig, dass Denken und Fühlen zu unseren Handlungen führen, dennoch sind wenige von uns überzeugt, dass unsere eigenen Gefühle und Gedanken für die Gesamtheit der Menschheit von Bedeutung sind. Das ist nicht richtig. Dass unsere leiseste Emotion oder unser kleinster Gedanke in einem bestimmten Ausmaß nicht nur unsere Brüder in jedem Naturreich, sondern auch das Universum beeinflusst, ist nicht von geringer Relevanz. Der magnetische Austausch von Verantwortung und Schicksal zwischen allen Lebewesen eines Sonnenreichs ist wirklich eindrucksvoll: Während des ganzen Tages oder (wenn auch auf eine andere Art) des Schlafs gibt es nicht einen Moment, in dem wir nicht irgendeine Art von Einfluss auf die unseren Globus umgebende aurische Atmosphäre, an der die gesamte Menschheit teilhat, ausüben.

Wie ist das möglich? In seinem ersten Brief an A. O. Hume im Jahr 1880 schrieb KH:

Jeder Gedanke eines Menschen fließt, sobald er evolviert ist, in die innere Welt und wird eine aktive Wesenheit, indem er sich mit einem Elemental verbindet – verschmilzt, könnte man sagen; das heißt mit einer der halb intelligenten Kräfte der Naturreiche. Er lebt als eine aktive Intelligenz weiter, als ein vom Denkvermögen gezeugtes Geschöpf für eine längere oder kürzere Periode proportional zu der ursprünglichen Intensität der Gehirntätigkeit, die ihn hervorbrachte. So wird ein guter Gedanke als eine aktive, wohltätige Kraft erhalten; ein schlechter als ein übelwollender Dämon. Und so bevölkert der Mensch ständig seinen Strom im Raum mit seiner eigenen Welt, erfüllt mit den Sprösslingen seiner Fantasie, seiner Wünsche, Impulse und Leidenschaften – ein Strom, der auf jegliche empfängliche und/oder nervliche Struktur im Verhältnis zu ihrer dynamischen Intensität reagiert, die mit ihm in Kontakt kommt.85

Wir „bevölkern tatsächlich ständig unseren Strom im Raum“ mit der Summe dessen, was wir sind. Mit jedem vergehenden Augenblick senden wir Gedanken- oder Wunschimpulse aus, welche – indem sie sich mit elementalen Energien wie und wann sie wollen verbinden – die Seele nähren oder behindern können. Aufgrund der ständigen Zirkulation der Lebensatome beeinflusst das, was wir denken und tun, nicht nur uns selbst, unsere Familie und unsere Umgebung, sondern ebenso jedes Lebewesen auf unserem Globus.

Außerdem werden unsere Gedanken und Emotionen automatisch sowohl im Astrallicht, das unseren Globus umgibt, als auch in unserer eigenen Astralsubstanz registriert. Da das Astrallicht sowohl Empfänger als auch Sender (und ebenso Aufzeichner) der Gedanken und Emotionen jedes Menschen ist, der jemals gelebt hat, entlädt es zu beliebigen Zeiten, wenn eine Öffnung vorhanden ist, sowohl seine niedrigeren als auch seine höheren Emanationen in das Gesamtbewusstsein der Menschheit. Das bedeutet, dass das, was wir jetzt sind, seine Spur auf zahllosen noch ungeborenen Leben hinterlassen wird – deshalb, weil jeder Gedanke, jede Emotion und Aspiration, die dem irdischen Astrallicht eingeprägt sind, mit der Zeit auf uns und andere zurückgespiegelt werden. Daher ist das, was jemand ist, von ungeheurer Bedeutung.

Die Trennlinie zwischen dem Astralen und dem Physischen wird gegenwärtig dünner, was von zweischneidigem Wert ist. Vieles hängt davon ab, womit wir uns zu identifizieren entscheiden. Gegenwärtig scheint das Astrallicht mehr als üblich von seinem niedrigsten Inhalt auszugießen; andererseits reagiert eine größere Zahl von Menschen auf Energien von höheren Ebenen und empfängt mitunter Ideen und Inspirationen von so hohem Wert, dass sie viele Leben zum Besseren wenden. Umso mehr ein Grund, eine ausgewogene Sichtweise beizubehalten und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit – entweder in Bezug auf uns selbst oder die Zukunft der Menschheit – keinen Platz einzuräumen. Der schwächende Einfluss, den solche Stimmungen auf uns haben, infiziert die vitalen Zirkulationen der Gedankenenergien durch unseren Planeten. Zu viel steht für jeden von uns auf dem Spiel, um dem Weltkarma leichtfertig negatives Denken hinzuzufügen.

Wer wiederholt Depressionen unterliegt, ist weit empfänglicher als andere für zyklische Höhen und Tiefen in der Natur und schwankt vielleicht eher zwischen Begeisterung und Verzweiflung. Es ist möglich – nein: unbedingt notwendig –, unsere Reaktionen zu zügeln und die Aufmerksamkeit auf den goldenen Mittelpunkt zwischen den Extremen auszurichten. Jeder Weise und Rishi vor und nach Buddha kannte und beachtete die alte Regel: Wenn „unwürdige Bilder“ das Denken erfüllen, rufe sofort „würdige Bilder“ hervor. Wenn Hass, Böswilligkeit und selbstsüchtige Begierde besiegt sind, dann „wird das innere Herz standhaft und ruhig, geeint und stark“.86 Katherine Tingley verstand das gut; sie kannte die Kraft der Veranschaulichung und drängte ihre Schüler, wenn sie düstere Stimmung und Verzagtheit beschlichen, sofort die Gegenpole heraufzubeschwören und so eine neue Energiequalität zu erwecken. Der Einfluss dieser neuen Gedankenströmung würde mit der Zeit die Oberhand gewinnen und die Schüler würden einen neuen Sinn, eine neue Freude bei der Erfüllung ihrer Pflichten empfinden. In ihrem Buch Die Götter warten zitiert sie eine bemerkenswerte Aussage ihres Lehrers:

Du weißt, dass normalerweise die Atome des menschlichen Körpers durch die Lasten der Gedanken niedergedrückt werden – die unnötigen Ideen, die Vorurteile und die Ängste. Sie durchlaufen von einer Sekunde zur anderen eine Reihe von Veränderungen, da sie von den Gedanken des Gehirnverstandes beeinflusst werden. Der Mangel an Vertrauen, der Mangel an Inspiration, worunter die Menschen leiden – die Hoffnungslosigkeit – führen diese Atome fast in den Tod. Sie können jedoch durch das Feuer des göttlichen Lebens zu einer Art Unsterblichkeit wiederbelebt und mit der universalen Harmonie in Einklang gebracht werden.

– Seite 120-121

Wenn es mitunter unmöglich erscheint, unser Bewusstsein aus der Fallgrube zum Sonnenlicht im Innern anzuheben, können wir das Nächstbeste tun: der vor uns liegenden Pflicht unsere völlige Aufmerksamkeit schenken. Binnen Kurzem werden die Atome, die wir „fast in den Tod“ niedergedrückt hatten, zu Lichtatomen des Selbstvergessens und der Großzügigkeit des Empfindens transformiert worden sein. Wir werden die komplette Anzahl unserer – physischen, mentalen und spirituellen – Atome mit Licht und Leichtigkeit aufgeladen haben. Und noch wichtiger: Eine solche persönliche Veränderung der Einstellung ist in ihrer wohltätigen Wirkung global, strahlt weit über unseren begrenzten Einflusskreis hinaus und bringt anderen Hoffnung und erneuerten Ansporn.

Der Gedanke reicht für die verbindliche Zusicherung aus, dass jede unerschütterliche Bemühung, für die Wahrheit einzustehen, zählt und ihr Potenzial zum Guten unvorstellbar vergrößert wird – wenn sie selbstlos aufrechterhalten wird. Ich frage mich, ob wir uns darüber bewusst sind, wie sehr wir andere durch ruhige, beständige Reaktion auf das Edelste in uns stärken; und wie wir andererseits diejenigen, die von Angst und Schwäche befangen sind, zum Schlechten beeinflussen, wenn wir unwürdigem Denken und Verhalten nachgeben.

Die Zeitalter hindurch haben die Lehrer und Erlöser unter uns geweilt und dieselbe herausfordernde Wahrheit verkündet: dass wir die Selbstsucht und den Geiz, welche die Seele der Menschheit ersticken, nicht ausradieren können, solange wir sie nicht samt den Wurzeln aus unserem eigenen Charakter herausreißen. Natürlich ist das nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen, aber allein die Tatsache, dass das Zustandebringen ein ganzes Leben oder viele Leben dauern kann, ist kein Grund, nicht zu beginnen. Unter den in Nag Hammadi gefundenen gnostischen Dokumenten passt hierzu eine Aussage, die Jesus zugeschrieben wird:

… Wer auch immer
Ohren hat, der höre. In einem Menschen aus Licht
ist Licht
und er erhellt die gesamte Welt (Kosmos). Wenn er
nicht scheint, dann herrscht Finsternis.

Das Evangelium nach Thomas, 24

Die Entschlossenheit, dem mystischen Pfad des Mitleids zu folgen, öffnet einen Kanal zwischen der persönlichen Natur und dem intuitiven, höheren Selbst, und deshalb wird die Verantwortung sich selbst und allen anderen gegenüber hundertfach vergrößert. Jedes Mal, wenn wir uns kleinlichen oder unfreundlichen Empfindungen hingeben, schließen wir uns selbst vom inneren Licht aus und werfen damit einen Schatten auf das Leben anderer; andererseits hilft jeder schimmernde Strahl aus dem Buddhischen im Innern so viel, dass unsere Umgebung erleuchtet wird.

Wenn wir im Fernsehen Bilder der schrecklichen Zustände sehen, die überall auf der Welt herrschen, etwa der Millionen von kranken und verhungernden Kindern, geht uns das sehr zu Herzen. Wer auch immer von uns in der Lage ist, zur Linderung von Kummer und Hunger und Schmerz beizutragen, sollte natürlich alles tun, was möglich ist – „wenn Barmherzigkeit Not tut, wird Untätigkeit zu einer Tat der Todsünde“.87 Aber bei all unserer Sehnsucht, den Hunger der Menschen in sehr fernen Ländern zu stillen, wollen wir nicht unsere Familie zu Hause oder die Bedürftigen in unserer Nachbarschaft vergessen. Unsere Verantwortung ist es, unser Dharma, unsere innere Pflicht dort zu erfüllen, wo sie liegt.

Zwar sehnen wir uns alle nach dem Tag, an dem sich der Zustand der Verzweiflung bei Millionen unserer Mitmenschen bessert. Aber wie können wir sicher sein, dass es eine wohltuende Wirkung auf das Karma der Gruppe hat, wenn die dominierende Qualität eines Lebens mit dem Schrei der Herzen aller anderen schwingt? In gute Erde ausgesäte Samen keimen, schlagen Wurzeln und erblühen allmählich zur rechten Jahreszeit. So führen auch das Denken und die aus der selbstlosen Sehnsucht, das Leid der Menschen zu lindern, geborene Aspiration zu Taten – wenn nicht durch uns selbst, dann durch andere, die karmisch bevorzugt sind, um das zur Blüte zu bringen, was wir uns vorgestellt haben.

Das Werk des Heilens und des Mitleids muss erst auf der Ebene der Ideenbildung vollbracht werden, wenn es eine dauerhafte Wirkung auf der physischen Ebene hervorbringen soll. Wir müssen im Weingarten des Denkens und des Herzens arbeiten und unsere Energien darauf ausrichten, die inneren Ursachen der erbärmlichen Zustände auf unserem Globus auszumerzen. Während viele von uns womöglich nicht in der Lage sind, viel Praktisches beizutragen, um die materiellen Zustände zu verbessern, gibt es doch nicht einen einzigen Menschen, der nicht zur Selbstlosigkeit in der Welt beitragen, der nicht die Kräfte des Lichts stärken kann.

Wenn wir durch das Ausmaß des von so vielen Menschen ertragenen Leids überwältigt sind, können wir den Globus im Geiste umrunden und auf die heroische Arbeit von einzelnen Menschen und Gruppen achten, die aktiv an philanthropischen Projekten mitarbeiten, um Erleichterung und neue Hoffnung zu bringen. Diese Übung ist nicht nur gut für unser eigenes Denken, sondern wir verleihen ihren altruistischen Bemühungen damit entlang der inneren Linien vor allem auch Stärke. Wir können denjenigen nicht dankbar genug sein, die unter großem persönlichem Opfer und oft unter Einsatz ihres Lebens diese helfende Arbeit ausführen.

Lichtpunkte scheinen an verschiedenen Stellen – sie sind die Brennpunkte der mitleidsvollen Helfer, die in der Welt wirken. Sie posaunen ihre Namen oder ihre Errungenschaften nicht hinaus, sondern verharren unerschütterlich auf ihrem Posten, der mehr ein innerer als ein äußerer Posten ist. Wir haben über das Netzwerk einzelner Menschen gesprochen, die existierten, seit unser selbstbewusstes Denkvermögen vor langer Zeit erweckt wurde. Diese Bruderschaft erleuchteter Individuen arbeitet in der Stille, um die kreativen Impulse in empfänglichen Menschenherzen anzuregen. Was wir sehen, ist nur die Spitze einer riesigen spirituellen Bemühung, die seit vielen Millionen Jahren existiert und auch davor in früheren Weltzyklen bestand. Jenes Netzwerk besteht noch, und die Verwirklichung einer universalen Bruderschaft bleibt zusammen mit der spirituellen Erleuchtung der Menschheit „die Aspiration des wahren Adepten“ …

Und wir werden mit dieser unserer periodischen Arbeit fortfahren. Wir werden uns in unseren philanthropischen Bemühungen nicht hindern lassen bis zu dem Tag, an dem die Fundamente eines neuen Kontinents des Denkens so fest errichtet sind, dass kein Maß an Opposition und unwissendem Hass … zur Vorherrschaft gelangen kann.

Die Mahatma-Briefe an A. P. Sinnet, Band 1, S. 69 und 191

Heute sind wir Zeuge einer Wiederbelebung des alten Traums von der Einheit allen Lebens unter einem repräsentativen Querschnitt von Menschen, die sich verpflichtet haben, sie zu einer Wirklichkeit in menschlichen Beziehungen zu machen. Es wird tatsächlich eine Kraft, eine dynamische Energie erzeugt, wo immer hingebungsvolle Menschen in Übereinstimmung mit dem Herzen des Seins – selbst wenn nur vorübergehend – danach streben. Vielleicht ist kein Einzelner von uns, spirituell oder sonst wie, von besonderer Bedeutung; aber kollektiv sind wir es, wenn jeder Mensch spontan von seiner einzigartigen Seelenqualität zur Erhebung der Menschheit beiträgt – wer kann sagen, welch unvorhersehbare und mächtige Wirkung das nicht entlang innerer Linien haben kann? Jesus wiederholte nur das alte Gesetz: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …“ Spirituelle Lehren haben die Kraft, die Menschen zu erheben; edle Ideale stellen in der Gedankenatmosphäre ein Potenzial dar, doch wenn sie von Individuen, die nach diesen Idealen leben, untermauert werden, kann eine bestimmte Magie entstehen.

Die Annahme, unsere Zivilisation sei dazu bestimmt, in ihren selbstsüchtigen und zerstörerischen Gewohnheiten fortzufahren, bedeutet, kostbare Gedankenkraft für negative Ziele zu missbrauchen. Wenn wir uns dagegen so sehen, wie wir wirklich sind, bedeutet das eine völlige Veränderung unserer Perspektive: Wir sind nicht getrennte, einander bekriegende Persönlichkeiten, sondern Abkömmling des Kosmos, göttliche Wesen, die gegenwärtig die menschliche Phase durchlaufen, um unsere Erfahrung zu erweitern und zu bereichern. Während niemand alleine das Wunder der Welterneuerung erreichen kann, können Millionen von persönlichen Siegen über das Selbst eine wunderbare Wirkung hervorrufen.

Angenommen, eine zunehmend große Anzahl altruistisch eingestellter Menschen würde ihre Aspiration auf hohes Denken und selbstloses Handeln ausrichten, brächte das unvermeidlich eine ausreichende Kraft hervor, um eine spontane Verwandlung menschlicher Lebensmuster zu bewirken – von enger Egozentrik hin zur Größe des Mitleids.

Welches Karma die Welt haben wird, können wir nicht sagen; aber wenn wir bescheiden und gänzlich unser Bestes, ganz unpersönlich, darbieten, werden wir Brücken errichten, die zu jenem „neuen Kontinent des Denkens“ führen, von dem der Meister spricht.


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Wilson, H. H., The Vishnu Purana: A System of Hindu Mythology and Tradition, Herausg. FitzEdward Hall, Trubner & Co., London, 1864.

Fußnoten

1. Die „Drei Körbe“ oder Haupteinteilungen des Pāli Kanon. [back]

2. A Record of The Buddhist Religion as Practised in India and The Malay Archipelago (a.d. 671-695), I-tsing, S. xxxvi. [back]

3. Avataṃsaka-Sutra (Flower Garland Sutra, Kegon-Sūtra in Japan). Siehe Japanese Buddhism von Sir Charles Eliot, S. 108-10. [back]

4. Siehe Bhagavad-Gītā, 4:1-3 (Judge recension, S. 23). [back]

5. William Q. Judge, Das Meer der Theosophie, S. 15. [back]

6. Siehe „Avataṃsaka-Sūtra“, Japanese Buddhism, S. 109-10. [back]

7. Das monadische Leben oder der göttliche Funke, der jedes Atom innerhalb des Kosmos belebt. [back]

8. Siehe SD 2:487, GL 2:511. [back]

9. G. de Purucker, Quelle des Okkultismus, 1:133. [back]

10. The Descent of Man, S. 155. [back]

11. Siehe Francis Hitching, The Neck of the Giraffe: Where Darwin Went Wrong, Kapitel 8, „Monkey business“, S. 199-224; und Eldredge und Tattersall, The Myths of Human Evolution, S. 45-6. [back]

12. Hitching, S. 221. [back]

13. Prometheus Bound, Aeschylos, Übers. Gilbert Murray, Zeile 445-6. [back]

14. The Secret Doctrine, 2:16-21, Strophen iii-xii; GL 2:18-22. [back]

15. Reincarnation: The Phoenix Fire Mystery, zusammengestellt und herausgegeben von Joseph Head und Sylvia Cranston, S. 159 ff. [back]

16. The Secret Doctrine, 2:80, GL 2:83-4. [back]

17. Der mystische Punkt, an dem eine Energie oder ein Ding von einer Ebene verschwindet, um sich auf einer höheren oder niedrigeren Ebene zu manifestieren. [back]

18. Nachzuschlagen in The Esoteric Tradition und Quelle des Okkultismus von G. de Purucker. [back]

19. Siehe H. P. Blavatsky, The Key to Theosophy, S. 162-3, und G. de Purucker, Quelle des Okkultismus, 3:101-108. [back]

20. Selbstbetrachtungen, Buch 10, § 15, Reclam Verlag. [back]

21. Siehe Jane Harrison, Prolegomena to the Study of the Greek Religion, „Critical Appendix on the Orphic Tablets“, von Prof. Gilbert Murray, S. 659-60. [back]

22. Pausanias: Description of Greece, Übers. W. H. S. Jones, 4:351. [back]

23. Inscriptiones Graecae Insularum Maris Aegaei, 1:789; zitiert von Harold R. Willoughby, Pagan Regeneration: A Study of Mystery Initiations in the Graeco-Roman World, S. 44. [back]

24. Thomas Taylor, The Mystical Hymns of Orpheus: Translated from the Greek, and demonstrated to be the Invocations which were used in the Eleusinian Mysteries, S. 146. [back]

25. Pausanias: Description of Greece, 4:355. [back]

26. Siehe Thomas Verny, m.d., mit John Kelly, The Secret Life of the Unborn Child. [back]

27. Edward Vernon Arnold, Roman Stoicism, S. 161. [back]

28. Visuddhi Magga, Buddhaghosa (5. Jahrh. n. Chr.), World of the Buddha, herausgeg. von Lucien Stryk, S. 159 ff. [back]

29. H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente: 1888-1891, S. 70-1. [back]

30. Bhagavad-Gītā 3:35 (W. Q. Judge recension, S. 21). [back]

31. Hamlet, 5. Akt, 2. Szene, Übers. August Wilhelm Schlegel. [back]

32. The Zohar (iii:98 b), Übers. [engl.] von Harry Sperling, Maurice Simon und Dr. Paul P. Levertoff, 3:300. [back]

33. Der Leser wird auf folgende Quellen verwiesen: Major Trends in Jewish Mysticism von Gershom G. Scholem, besonders das Kapitel mit der Überschrift: „The Zohar II: The Theosophic Doctrine of the Zohar“, S. 202 ff.; The Zohar, übersetzt von Harry Sperling und Maurice Simon, 5 Bände; Qabbalah von Isaac Myer; Kabbalah: New Perspectives von Moshe Idel. [back]

34. Matthäus 17:2, Maha-Parinibbana-Sutta, iv, §§ 48-50. [back]

35. Man mag darüber spekulieren, wie mächtig ein Einfluss war, der von asiatischen Pilgern auf die Schreiber der jüdischen Evangelien ausgeübt wurde. Neben kommerziellem Verkehr zwischen dem indischen Subkontinent und der hellenistischen Welt – als Folge der Eroberungen Alexanders im 4. Jahrhundert v. Chr. – waren ungefähr 700 Jahre lang danach die Bibliothek und das Museum von Alexandria Zentren für spirituellen und intellektuellen Austausch unter Buddhisten, Persern, Arabern, Hebräern, Griechen, Römern und natürlich Ägyptern und anderen Völkern, die rund um das Mittelmeer lebten; vermutlich auch Hindus und Chinesen. [back]

36. Havamal, § 137, Die Masken Odins von Elsa-Brita Titchenell, S. 140. [back]

37. G. de Purucker, The Esoteric Tradition 2:1104-5. [back]

38. Ebenda, 2:1105-7. [back]

39. Petrus 3:19. [back]

40. Maha-Parinibbana-Sutta, Kap. 3, §§ 3-4, Sacred Books of the East, 11:41. [back]

41. Ebenda, Kap. 3, § 7, S. 43. [back]

42. Ebenda, Kap. 3, §§ 9-10, S. 44. [back]

43. Ebenda, Kap. 3, §§ 49-50, S. 54. [back]

44. Die Autorin ist G. de Purucker zu Dank verpflichtet, The Esoteric Tradition 1:69-75; ebenso Ralston Skinner, The Source of Measures, S. 300-301, and „No Error“ von JRS (Skinner) in H. P. Blavatsky, Collected Writings 9:276-9, mit einer bestätigenden „Anmerkung“ von HPB auf S. 279. [back]

45. Siehe Bhagavad-Gītā 9:2, die erste Zeile dort lautet: Rajāvidyā rājaguhyaṃ – wörtlich „königliches Wissen, königliches Mysterium“. [back]

46. Ebendort, 4:1 (Judge recension, S. 24). [back]

47. Sheldon Cheney, Men Who Have Walked with God, S. 194; siehe Meister Eckhart, A Modern Translation, Übersetzung Raymond Bernard Blakney, S. 14. [back]

48. The Secret Doctrine 1:104, GL 1:130. [back]

49. Cullavagga, V, 8:1-2, Sacred Books of the East, 20:78-81. [back]

50. Pāli-Form des Sanskrit-Wortes Siddhi. Diese sind von zweierlei Art: Die eine „umfasst die niederen, einfachen psychischen und mentalen Energien; die andere … erfordert die höchste Schulung spiritueller Kräfte“. – H. P. Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 97. [back]

51. E.S. Instructions III:4-5, S 21-2; Wiedergabe in H. P. Blavatsky, Collected Writings, 12:488, 495. [back]

52. H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente. 1888-1891, S. 38, 39. [back]

53. Siehe IV, 1 §§ 20-27, Übers. T. W. Rhys Davids, Sacred Books of the East 35:155-62 [Deutsch: Die Fragen des König Milinda, Ansata Verlag, 135-136]. [back]

54. Ebenda, S. 158. [back]

55. Visuddhi Magga (Way of Purity) von Buddhaghosa; zitiert in World of the Buddha: A Reader, Herausg. Lucien Stryk, S. 159 ff. [back]

56. Siehe Compassion in Tibetan Buddhism von Tsong-kha-pa, Herausg. und Übers. Jeffrey Hopkins, S. 102-9. [back]

57. Saddharma-Puṇḍarīka (The Lotus of the True Law), xv, §§ 22-3, Übers. H. Kern, Sacred Books of the East 21:310. [back]

58. Der Pāli-Text ist knapp attadīpa attasaraṇaatta (Sanskrit ātman) bedeutet „Selbst“, dīpa, „Laterne“; „Licht“; saraṇa (Skt. śaraṇa), „Zuflucht“. [back]

59. Mahā-Parinibbāna-Sutta, ii, § 33, Übers. T. W. Rhys Davids; Sacred Books of the East 11:38. [back]

60. Siehe Die Mysterienschulen, S. 45-63. [back]

61. Compassion in Tibetan Buddhism, S. 101. [back]

62. Siehe The Sutra of Hui-neng, engl. Übers. von Thomas Cleary, S. 20. [back]

63. Buddhaghosa, zitiert in World of the Buddha, S. 160. [back]

64. Siehe HPB, Leben und Werk der Helena Blavatsky von Sylvia Cranston, Adyar Verlag; H. P. Blavatsky and the Theosophical Movement von Charles J. Ryan, 2. überarb. Auflage; H. P. Blavatsky, Collected Writings, 1874-1878, Herausg. Boris de Zirkoff, 1:xxv-lii; und H. P. Blavatsky, Tibet and Tulku von Geoffrey A. Barborka, S. 6-41. [back]

65. The Golden Book of The Theosophical Society: 1875-1925, S. 19; H. P. Blavatsky, Collected Writings 1:94. [back]

66. Siehe Die Mahatma-Briefe, Band 1, S. 220 ff. (M. L. 26). [back]

67. Die Mahatma-Briefe, Band 2, S. 36-7 (M. L. 47). [back]

68. Siehe The Secret Doctrine 1:xlvi, Die Geheimlehre 1:29. [back]

69. Diese Sammlung holographischer Briefe wurde 1939 von Sinnetts Testamentsvollstreckerin, Maud Hoffmann, dem Britischen Museum (jetzt Britische Bibliothek) angeboten, wo sie von der Öffentlichkeit eingesehen werden können. [back]

70. Siehe Proceedings of the Society for Psychical Research, London, England, Teil IX, Dezember 1885, S. 201-400. [back]

71. Die Kritik von Dr. Harrison wurde veröffentlicht in einem Buch mit 13 Farbtafeln: H. P. Blavatsky und die SPR: Eine Untersuchung des Hodgson Berichts aus dem Jahr 1885, Theosophischer Verlag GmbH 1998. [back]

72. The Original Programme of The Theosophical Society, S. 6; Nachdruck, H. P. Blavatsky, Collected Writings, 7:148. [back]

73. Ebenda. [back]

74. Siehe 2 Timotheus 3:1-5 und 2 Petrus 3:3-13. [back]

75. Siehe Die Masken Odins von Elsa-Brita Titchenell, „Völuspá“ (Die Prophezeiungen der Sibylle), S. 97-112. [back]

76. Hermetica, engl. Übers. Walter Scott, 1:344-7, „Asclepius - III“, § 26a. [back]

77. The Vishṇu Purāṇa, engl. Übers. H. H. Wilson, 4:224-9; Buch 4, Kap. 24. [back]

78. Die Mahatma-Briefe, Band 2, S. 123 (M. L. 14). [back]

79. Siehe G. de Purucker, Quelle des Okkultismus, 3:246-257. [back]

80. William Law, The Spirit of Prayer: or The Soul Rising out of the Vanity of Time, into the Riches of Eternity, Prayer 2.1-32; siehe Aldous Huxley, The Perennial Philosophy, S. 243. [back]

81. Briefe, die mir geholfen haben, S. 35-36. [back]

82. Moral Essays, „On Providence“, 5,9 [Vom glückseligen Leben, „Über die Vorsehung“]. [back]

83. G. de Purucker, The Esoteric Tradition 2:701. [back]

84. Siehe Chāndogya Upanishad, viii, 1, 3. [back]

85. Margaret Conger, Combined Chronology, S. 33 [back]

86. Majjhima Nikāya, zitiert in Quelle des Okkultismus, G. de Purucker, S. 42 [back]

87. Die Stimme der Stille, „Die Zwei Pfade“, S. 47. [back]