Zeit der Erneuerung
- Sunrise 2/1983 Sonderheft: Der stille, schmale Pfad
Mit jedem erwachenden Frühling vermittelt die Natur allen in gleicher Weise ihre Botschaft: die Lehre von der Wiedergeburt, vom Erwachen zu einem neuen Leben und von der Tätigkeit der inneren, alles überdauernden Seele, dargestellt im Gleichnis der Blumen. Wenn wir uns vorstellen, daß - ungeachtet der Schranken, die wir zwischen uns Menschen errichtet haben - Sonnenschein und Regen für uns alle gemeinsam da sind, dann kann auch ein tieferes Verständnis für die Bedeutung des Osterfestes in uns aufgehen, ein besseres Erfassen der Wahrheit, die es für die gesamte Menschheit enthält, und es kann auch unsere Freude am Frühling vertiefen.
Wenn wir die Religionen der Völker dieser Erde studieren, sehen wir, daß jede Religion bestimmten Symbolen und Wahrheiten große Bedeutung beimißt. Die Kreuzigung, die Grablegung, die Auferstehung und die Verherrlichung Christi sind in der einen oder anderen Form in den überlieferten Lehren oder Mythen zu finden, von denen auch die christliche Religion herkommt. Wir werden unwiderstehlich in eine weltweite Gemeinschaft einbezogen, der durch viele Menschheitslehrer Inspiration und Licht aus einer universalen Quelle der Weisheit übermittelt wurden.
Wenn wir die Bedeutung dieser Symbole verstehen wollen, müssen wir zuerst an die Dualität denken - die Dualität von Geist und Materie. Der Zweck, weshalb die Welten in Erscheinung treten, ist, die Materie dieser Welten mit Geist zu erfüllen, ihr zur Erkenntnis ihrer göttlichen Essenz zu verhelfen. Alles in dem großen Erfahrungszyklus wird in diese Dualität mit einbezogen. Jeder von uns ist ein göttlich-geistiges Wesen, welches beschlossen hat, Körper um Körper aus Materie anzunehmen, um allmählich in den Wesenheiten des Körpers das Feuer des höheren Bewußtseins anzufachen. Leben bedeutet, daß das Geistige so lange in der Materie begraben ist, bis die Göttlichkeit des Geistes seine dunkle Umgebung besiegt und den Weg zum Licht wiederfindet, wobei das Geistige dann die Frucht der irdischen Erfahrung in sich trägt.
Nach dem, was die Weisheitslehre aller Zeiten berichtet, ist die Kreuzigung nicht der Todeskampf eines einzigen Helfers der Menschheit, namens Jesus, der Christus. Sie ist das Ringen der gesamten Menschheit um die Oberherrschaft zwischen Geist und Materie. Es ist der zeitalterlange Kampf, in dem die Wünsche und Begierden der niederen Natur nach und nach gereinigt und auf das höhere Leben hingelenkt werden, bis die spirituelle Meisterschaft erreicht ist. Der gekreuzigte Christus ist das Symbol dafür; während der reuige Dieb, zu dem Christus sagt: "Heute wirst du noch mit mir im Paradiese sein", den Teil der niederen Natur darstellt, der den göttlichen Einfluß angenommen hat und eins mit ihm geworden ist. Der Dieb auf der anderen Seite symbolisiert dagegen die ungezähmte Leidenschaft und das Verlangen, die nicht mehr mit der Seele verbunden sind, die sich vom Körper gelöst hat. Das Grab stellt die Fesseln dar, in denen die Seele leidet, die noch von den animalischen Wünschen festgehalten wird. Die Auferstehung bedeutet, daß sich die triumphierende Seele über die Begierden des Fleisches aufschwingt. Sie ist das Symbol des inneren Gottes, der über die Sinnenwelt triumphiert. Die Kreuzigung bezieht sich somit auf jeden Teil der menschlichen Familie, und nicht nur auf die älteren Brüder der Rasse, die zu bestimmten Zeiten als Lehrer kommen.
Im Leben dieser Lehrer kann man dieselben heiligen Mysterienvorgänge finden: Den Tod, den Abstieg in den Hades, die Grablegung und die Wiederauferstehung. Jedes einzelne Ereignis weist auf unseren göttlichen Ursprung hin, auf die Dualität der menschlichen Natur, auf den Kampf mit der Materie, in die die Göttlichkeit sich gekleidet hat. Die Erde und der Mensch sind eng miteinander verbunden, und selbst in den Zyklen, in denen die Geheimnisse des Daseins notwendigerweise verschleiert wurden, weist die Natur alljährlich auf die großen Wahrheiten in bezug auf den schließlichen Endsieg des Menschen hin.
Die Auferstehung symbolisiert den zyklischen Höhepunkt der Anstrengungen, die von den höheren Kräften im Universum gemacht werden. Sie deutet auf das Ende des Weltzyklus hin, auf die Zeit, in der die Menschen im vollen Bewußtsein ihrer eingeborenen Göttlichkeit leben werden, und alles, was die freie Ausübung ihrer edelsten Ideale verhindert hat, gänzlich bemeistern. Die Auferstehung deutet auch auf den Triumph des Christusprinzips im einzelnen Menschen hin, wenn die göttliche Natur den Sieg über das Fleisch gewinnt, während sie im Fleisch ist. Es hat immer Lehrer gegeben, um die Menschen zu inspirieren, deren Beweggrund rein und deren Wille so stark ist, daß sie die niederen Leidenschaften beherrschen, die geistigen Fähigkeiten wecken, und damit das ganze Leben dem Dienen widmen.
Während der christlichen Ära wurden die universalen Wahrheiten stark verdunkelt, denn die Begrenzung der Kreuzigung auf einen tatsächlich stattgefundenen Todeskampf eines einzelnen Lehrers verhinderte das Verständnis für die wahre Beziehung des Menschen zum Universum und zu seiner eigenen göttlichen Natur. Vor langer Zeit, in einem lichteren Zeitalter, gab es die göttlichen Mysterien. Ihre Riten kennzeichneten die stufenweise Reinigung des Menschen, bis die Seele von ihren niederen Impulsen nicht mehr behindert, und der Kandidat "wiedergeboren" wurde. In den griechischen Mysterien wurde zum Beispiel die heilige Lehre, die begründet, daß der Mensch im Inneren ein Gott auf Erden ist, zu bestimmten Zeiten des Jahres mitgeteilt: Zu Beginn des Frühjahrs wurde denjenigen, die vorbereitet waren, klar und unverschleiert das große Drama vom Wachstum der Seele und auch die Wahrheit in bezug auf die Geheimnisse des Lebens und des Todes gezeigt, wodurch es dem Aspiranten hinfort möglich war, den Faden des spirituellen Bewußtseins nicht abreißen zu lassen. Das war der Tag der Auferstehung für die Erleuchteten, das Erheben des Christusgeistes, des Höheren Selbst, vom Tode - wie es von Jesus und den Weisen und Eingeweihten jedes Zeitalters gelehrt wurde. H. P. Blavatsky schrieb darüber folgendes:
Wir können aus dem Lukas-Evangelium erfahren, daß die "Würdigen" diejenigen waren, die in die Mysterien der Gnosis eingeweiht waren, und "für würdig befunden" wurden, die "Auferstehung von den Toten" in diesem irdischen Leben zu erlangen, ... und diese Worte beziehen sich auf alle, die, ohne Initiierte zu sein, danach streben, und denen es durch persönliche Anstrengung gelingt, das Leben zu leben, um die daraus auf natürliche Weise folgende spirituelle Erleuchtung zu erlangen, indem sie ihre Persönlichkeit - den "Sohn" mit dem "Vater" - ihrem individuellen göttlichen Geist, dem Gott in sich, vereinigen.1
Die Seele zu befreien - nicht sie vom Körper zu trennen, sondern so zu leben, daß die Göttlichkeit der Seele in den Taten, die wir mit dem Körper und mit dem Geist ausführen, Ausdruck finden kann! In einem Körper zu leben, wie es ein Gott tun würde, ihm das Göttliche einzuprägen und sich, verklärt, zur richtigen Ausübung der erforderlichen Taten zu erheben! Das ist die Auferstehung, die von der menschlichen Rasse vollbracht werden muß.
Die Botschaft der Hoffnung, das Versprechen, alles erreichen zu können, ist die Botschaft der Natur zur Osterzeit - die Gewißheit der Wiedergeburt. Die Wiedergeburt der Seele in der Aufeinanderfolge von Leben auf dieser Erde, bis das Werk der Kreuzigung vollbracht ist. Die Wiedergeburt der spirituellen Impulse, die in der Blütezeit der Rasse andauern - ein fortwährendes Sicherheben von dem Dasein auf Erden und ein Zurückkehren zu ihm mit dem Bewußtsein, daß ein Faden ununterbrochen durch alles hindurchläuft, durch Schlafen und Wachen, durch das, was wir Geburt und Tod nennen, weiter, weiter, bis schließlich der vergöttlichten Seele der Sieg gewiß ist.
Fußnoten
1. "Esoteric Character of the Gospels" - 1, ursprünglich veröffentlicht in Lucifer, 1:3, November 1887; vgl. Studies in Occultism, S. 145. Die Esoterik der Evangelien, Verlag von Paul Raatz, Berlin, 1906, S. 13. [back]