Stirb und werde
- Sunrise 2/1982 Sonderheft: Schlaf, Tod und Wiedergeburt: Pforten des Lebens
In vergangenen Zeiten wußten alle Menschen, daß es in ihren Ländern bestimmte Institutionen gab, die Mysterienschulen genannt wurden. Jedes Land hatte solche Zentren. Die Unterweisungen sollen in zwei Abteilungen stattgefunden haben. In Griechenland waren es z. B. (1) die Kleineren Mysterien, in denen die Schüler nach vorhergehender Reinigung des Charakters, durch symbolische Spiele und Zeremonien über Sinn und Zweck des irdischen Lebens und die Bestimmung des Menschen belehrt wurden; und (2) die Größeren Mysterien, die eine direktere Instruktionsform für jene darstellten, deren altruistische Absichten und Fähigkeiten einen so mühsamen Weg wagen zu können, bereits geprüft worden waren. In der zweiten Abteilung wurden sehr wahrscheinlich die Lehren über die Zusammensetzung und die Entwicklung des Sonnensystems und der Menschheit erteilt und auch über die Geburt und den Tod, die als zwei Phasen im fortdauernden Zusammenhang mit dem Leben angesehen wurden. Solche schriftliche Erwähnungen, die bis in unsere Zeit erhalten blieben, bezeugen, daß in den Mysterienzentren dem selbstbewußten Menschen gezeigt wurde, wie er durch die vielen Phasen, die die Stufen im Wachstum der Seele darstellen, hindurchgehen kann.
Der Hauptteil der Unterweisung in den Größeren Mysterien erreichte den Höhepunkt in einer "Prüfung", Initiation genannt, in welcher der Charakter des Kandidaten in jeder Hinsicht geprüft wurde.1
Die Lehren über den Tod, die vor diesem bedeutenden Stadium im Drama der Seele erhalten worden waren, wurden nun bewußt erlebt. Der Körper war in Trance versetzt worden, während alle Sinne des inneren Wesens für die stattfindenden Vorgänge wach waren. In gewissem Sinne wurde die Seele von den sie umgebenden Schleiern des materiellen Lebens befreit. Sie konnte nicht nur die vor sich gehenden Veränderungen empfinden, sondern auch die Realität hinter den Erscheinungen der irdischen Existenz wahrnehmen. Gelang es dem Kandidaten während der Prüfungen, die er auf einer solchen inneren "Reise" in sein tiefstes Wesen bestehen mußte, Unversehrtheit und volle Kontrolle zu behalten, dann wurde der ehemalige Neophyt, wenn am dritten Tag die "zurückkehrende" Seele ihr Vehikel, den Körper, wiederbelebte, zu einem Initiierten, von dem man sagen kann, daß er die Autorität der direkten Erfahrung erlangt hat. Ein solcher Initiierter wurde auf Bildern mit einer ihn umgebenden leuchtenden Aureole dargestellt. Diese umgab entweder den Kopf als "Heiligenschein" oder umhüllte den ganzen Körper, wie es in verschiedenen orientalischen Darstellungen zu sehen ist.
In den alten ägyptischen Mysterien waren die Lehren und ihre Bedeutungen in den Mythen und in den geographischen Beschreibungen des transzendentalen Gebiets verborgen - das irdische Gegenstück ist sein Spiegelbild.2 Ersteres wurde durch den "Himmlischen Nil" oder "Himmelsfluß" bewässert, von dem der irdische Strom nur das Symbol war. Das "Heilige Land", worauf im Pert-em-Hru und in anderen alten Schriften in Wirklichkeit hingewiesen wurde, war in drei Regionen eingeteilt, analog zu den drei Hauptstufen der Instruktion (1) Restau, das Territorium der Initiation; (2) Aahula (oder Elysium im griechischen System), das Territorium der Erleuchtung, wo der Kandidat die Weiße Krone empfing; und (3) Amentet, der Ort der Vereinigung mit dem unsichtbaren Vater oder der Quelle unseres planetarischen Lebens.
Dies wurde von Dr. T. M. Stewart erkannt und wie folgt ausgedrückt:
Die sichtbare Schöpfung stellte man sich als das Gegenstück oder die Reflexion des Heiligen Landes oder der Unsichtbaren Welt vor, und diese Unsichtbare Welt wurde nicht nur als vager Glaube angenommen. Der "Weg oben" zeigt, wie der Gerechte, nachdem er die Portale des Grabes durchschritten hatte, (1) eine Initiation erfährt, die ihm (2) Erleuchtung bringt und (3) auf ihn eine unendliche Harmonie mit dem LICHT, dem großen Schöpfer überträgt.3
Diese letzte gewaltige Erfahrung wird im Pymander, einer Schrift der Hermetica beschrieben - eine Übersetzung des alten ägyptischen Gedankengutes in das alexandrinische Griechisch, unter Verwendung der Ausdrucksweise dieser Sprache. Der Erzähler, als ein "Sohn" - d. h. Schüler - der Weisheit (Thoth) beschrieben, tritt kurz in das "grenzenlose Licht" des Universums ein. Dieses vorübergehende Eintauchen ist für ihn ein freudiges und gewaltiges Ereignis, dessen Nachwirkung für immer bei ihm bleibt.
Bildtext: Vignette, eine ägyptische Initiation darstellend. Der Körper des Kandidaten ist "begraben", die Falkenmaske deutet darauf hin, daß die Seele sich ihres höheren Selbst - Horus - bewußt ist. Die sieben Stufen beziehen sich auf die sieben Einweihungsgrade; die Figur auf dem Thron ist der Initiierte, der, nachdem er die siebte Stufe überwunden hat, jetzt "gerechtfertigt" oder "osirifiziert" ist. Er ist, wie Osiris, Meister der himmlischen Kräfte und jener Kräfte, die sich im Menschen widerspiegeln.
Die ägyptische "Verhaltensweise" unterscheidet zwischen zwei Temperamenten: dem "leidenschaftlichen Menschen" und dem Selbstdisziplinierten, dem sogenannten "stillen Menschen." Dr. H. Frankfort beschreibt ihn folgendermaßen: Der leidenschaftliche Mensch ist zu allen Zeiten zu finden; egozentrisch, materialistisch, häufig mitleidslos. Der stille Mensch ist geduldig und Meister seiner selbst in allen Situationen des täglichen Lebens. Der alte Weise Amenemope vergleicht die beiden Typen:
Der leidenschaftliche Mensch im Tempel gleicht einem Baum, der ungeschützt im Freien wächst. Plötzlich verliert er seine Blätter und sein Ende ist die Schiffswerft [oder] er wird weit von seinem Platz hinweggeschwemmt und eine Flamme ist sein Leichentuch.
Der wahrhaft stille Mensch [aber] hält sich beiseite. Er gleicht einem Baum, der in einem Garten wächst. Er blüht, er verdoppelt seine Früchte, er [steht] vor seinem Herrn. Seine Frucht ist süß, sein Schatten spendet Freude und sein Ende erreicht ihn im Garten.4
Frankfort meint, daß wir in unserer westlichen Kultur dazu neigen, das Ideal, den stillen Menschen, nicht richtig zu verstehen. Es bedeutet nämlich nicht, daß er weltfremd, im Sinne von unpraktisch, sei oder anderen gegenüber derart fügsam und unterwürfig wie ein Schwächling. Der stille Mensch ist in Wirklichkeit der erfolgreichere Mensch, weil er sich vollständig in der Gewalt hat und daher jede ihn betreffende Situation beherrschen kann. Die hohen Beamten des alten Ägypten bezeichneten sich selbst als "wirklich still." Diese Ausdrucksweise enthält eine charakteristische ägyptische Weisheit. Die wahre Erkenntnis der Bedeutung des Ausdrucks "stiller Mensch" liegt in dem Schulungssystem, das in den ägyptischen Mysterien angewendet wurde, in dem Disziplin der Instruktion vorausging und immer aufrecht erhalten wurde.
Die bereits erwähnten drei Hauptgrade bezogen sich auf (1) Sterbliche oder unterwiesene Prüflinge, die "die innere Vision noch nicht verwirklicht hatten"; (2) Intelligenzen, "die sie verwirklicht haben ... und den "Geist" [mind] empfangen hatten"; und (3) "Wesen (oder Söhne) des Lichts, die eins mit dem Licht" des göttlichen Elements in ihnen geworden sind.5 In gewissem Sinne entsprechen diese Klassen der gnostischen Einteilung des Menschen von Paulus in Körper, Seele und Geist. Und geradeso wie diese drei Aspekte der menschlichen Essenz aus ihren eigenen Elementen zusammengesetzt sind, wie z. B. Energie, emotionelle und mentale Wesenheiten, so besaßen die Grade ihre eigenen Unterteilungen.
Die bekannte Vignette im Pert-em-Hru, genannt das "Wiegen des Herzens" veranschaulicht, wie die Seele des Kandidaten (gewöhnlich als das "Herz des Verstorbenen" beschrieben), das ab oder ib auf der Waage gegen das Federsymbol von Mâat ("Wahrheit") abgewogen wurde. Ab ist nicht nur ein Ausdruck für das lebenswichtige Organ Herz, sondern bedeutet auch die bewußte Wesenheit, die in gewissem Sinne unabhängig von der äußeren Form der Persönlichkeit, der "Gott im Menschen" ist. Es gibt ein besonderes Gebet, das sich während des Wägens an das "Herz" richtet und folgendermaßen lautet:
O mein Herz, mein ererbtes Herz, notwendig für meine Wandlungen, ... verlasse mich nicht vor dem Hüter der Waage. Du bist meine Individualität in meiner Brust, göttlicher Begleiter, der über meine Körper wacht.
Diese Anrufung war eingraviert auf einem heiligen Skarabäus, Kheperu, dem Symbol der solaren Geburt oder der Wiedergeburt im Menschen. Sie konnte aber auch kosmisch angewendet werden, dargestellt durch den Sonnenaufgang zur Morgendämmerung.
Dr. M. W. Blackden hat das Ritual der letzten Pert-em-Hru-Initiation folgendermaßen dargestellt: Die "Seele" oder der Kandidat steht vor der "Säulenhalle der Zwei Wahrheiten", in der die leuchtenden Formen der "Götter" oder Initiierten verschwommen sichtbar werden. Anubis verkündet, daß der Initiand vor dem Tor steht und darum bittet, ihn für die Prüfung seines Charakters anzumelden. Dann wird er nach dem Namen des Tores gefragt. "Öffner zum göttlichen Licht", lautet die Antwort. Die Namen der Türangeln sind "Herr der Wahrheit" für die obere und "Herr der Stärke, das Tier zu bezwingen" für die untere. Für die Ägypter sind die Namen wichtig: Kannte die Person ihre volle Bedeutung, dann besaß sie Herrschaft über das, was sie darstellten.
Es gibt eine schöne Stelle im Pert-em-Hru, mit der Überschrift
Das Kapitel über das Eintreten in und Herauskommen aus Amentet:
... der Schreiber Nebseni, der Siegreiche, sagt: "Sterbliche, ... ich gehe hinein gleich dem Falken, und ich komme heraus gleich dem Bennu Vogel ..."6
Der Falke ist das Symbol des Horus, ein hoher Bestandteil in der Konstitution des Menschen und des Kosmos. So bedeutet dieser Text unter anderem, daß der Kandidat, wenn er in die Erfahrung eintritt, sich seiner inneren Spiritualität bewußt ist, und sie als Träger der Göttlichkeit verläßt, gereinigt von den Schlacken, die in der reinigenden Flamme des Einsseins mit dem inneren Gott verzehrt worden sind. In einem anderen Text sagt der erfolgreiche Kandidat:
Ich bin wie die Sterne, die keine Müdigkeit kennen.
Ich bin auf dem Boot, das Millionen Jahre zählt.
Für die Ägypter der frühesten Dynastien bedeutete Initiation die Förderung der in uns allen existierenden höheren Fähigkeiten. Das Schulungssystem basierte auf "rechtem Leben" und "rechtem Denken", um modernere buddhistische Ausdrücke zu gebrauchen.
Bildtext: Das Symbol der Vernunft treibt das Schwarze Schwein des Set (die Materie) aus der Initiationskammer, der Gerichtshalle des Osiris, hinaus - nach dem Buch der Tore.
Diese ethischen Prinzipien waren auf der menschlichen Gesetzesebene die Verkörperung der Göttin Mâat, welche kosmische Ordnung, Gerechtigkeit und Pflicht, ausgedrückt als Verantwortlichkeit, verkörperte. Die vierte Initiation war nicht die belanglose Zeremonie, wie sie von einigen gegenwärtigen Möchtegern-Lehrern dargestellt wird. Sie schloß vielmehr vorübergehend den "Horizont der Sonne" mit ein, d. h. die Begegnung oder das Einssein mit dem solaren Glanz und das vorübergehende Versunkensein in diesen Glanz, der im Herzen eines jeden wohnt. Dies kann nicht als leichtes Unternehmen gesehen werden, denn die niedrigen, sich selbst erhöhenden Neigungen in unserem Wesen müssen allein durch uns selbst überwunden werden. Wenn die Tore des "Himmlischen Nils geöffnet worden sind", dann wird nicht nur die Atef-Krone der Erleuchtung verliehen, sondern die erleuchtete Person kann nun auch den höheren Geist zum Ausdruck bringen und sein ganzes Wesen und seine Bemühungen für die Veredelung seiner Gefährten einsetzen. Auf dieser Stufe hat der Hierophant die spiritualisierte Intelligenz dieser Person berührt, der daraufhin sozusagen eine neue Geburt von oben gegeben wird.
Wenn das geschieht, dann wird alles im Universum, sogar der Kosmos, als ein Organismus durch alle Bewußtseinsstufen und bis herab zum kleinsten seiner Atomteilchen als Embryo in einem Ei gesehen. Nichts ist voll ausgereift - gemeint ist beendet, fertig, "perfekt" im absoluten Sinne: vollendet oder nicht veränderbar -, wir brüten alle oder werden ausgebrütet. Bewußtsein durchdringt die Unendlichkeit, deshalb kann "Geburt" in einem ihrer Aspekte, und der "Tod" oder das "Weggehen" aus jener besonderen Phase nicht ein allererstes Beginnen oder ein ewiges Ende bedeuten. Leben und Tod auf diese Weise als ein Paar miteinander zu verbinden, wie wir es gewöhnlich tun, ist ein Fehler, denn die Tore zu den Erfahrungen des Erdenlebens und aus diesen heraus sind Geburt und Tod.
Der gesamte Prozeß ist ein endloses Werden, wie der Same stirbt, wenn er ein Sämling wird, der ebenso seinen ersten hilflosen Zustand verläßt, um mit der Zeit eine kraftvolle Pflanze zu werden. Seine inneren Eigenschaften reifen und entfalten sich, bringen Blüten, die seine innewohnende Schönheit und die zukünftigen Möglichkeiten zum Ausdruck bringen. Diese unterschiedlichen Fähigkeiten entwickeln sich auf ihren verschiedenen Stufen aus der unsichtbaren Essenz im Herzen eines winzigen Samens, aus etwas - einem Körnchen -, das aus den weiten Bereichen der Möglichkeiten im RAUM geboren wird, wobei der RAUM von den alten Völkern als die Mutter aller Wesenheiten betrachtet wurde.
Bibliographie:
Blackden, M. W.: übersetzt und herausgegeben Ritual of the Mystery of the Judgment of the Soul, From an Egyptian Papyrus, Bernard Quaritch, London, ohne Datum.
Blavatsky, H. P.: The Secret Doctrine / Die Geheimlehre, Theosophical University Press, Pasadena, Faksimile Ausgabe 1977.
Brelich, Angelo: "Symbol of a Symbol" ein Essay in Myths and Symbols, Studies in Honor of Mircea Eliade, Chicago University Press, 1971.
Budge, Sir E. A. Wallis: From Fetish to God in Ancient Egypt, Oxford University Press, London, 1934.
Frankfort, Henri: Ancient Egyptian Religion: An Interpretation, Columbia University Press, Ney York, 1949.
Rossiter, Evelyn: Commentaries on THE EGYPTIAN BOOK OF THE DEAD: Reu Nu Pert Em Hru, Or The Chapters of Coming Forth by Day: Papyri of Ani, Hunefer, Anhaï, Miller Graphics, herausgegeben von Crown Publishers, N. Y., ohne Datum.
Stewart, Thomas Milton: The Symbolism of the Gods of the Egyptians and the Light They Throw on Freemasonry, Baskerville Press, London, 1927.
Fußnoten
1. Dr. Angelo Brelich wies darauf hin, daß "bei fast allen Völkern, die die Initiation praktizierten, die "Novizen" vor der (rituellen) Geburt des Initiierten (rituell) sterben mußten. Der initiierende Tod erfolgte auf verschiedene Weise, angefangen von einer sehr realistischen Dramatisierung bis zu den symbolischen Licht-Andeutungen." [back]
2. Das erklärt, warum Orte, die im Pert-em-Hru oder "Buch des Heraustretens ins Tageslicht" (fälschlich "Totenbuch" genannt) erwähnt werden, seitenverkehrt zu ihrem Standort auf der üblichen Landkarte erscheinen. Übrigens wird die "Himmlische Erde" - 'alam al-mithâl - im neozoroastrischen Platonismus auf dieselbe Weise beschrieben (siehe The Man of Light in Iranian Sufism von Dr. Henry Corbin). William Blake, der englische Mystiker, unterscheidet zwischen dem Himmlischen Jerusalem und der Stadt gleichen Namens in Judäa. [back]
3. Symbolism of the Gods of the Egyptians, S. 11, passim. [back]
4. Ancient Egyptian Religion, Seite 65-66. [back]
5. Stewart, op. cit., Seite 14. [back]
6. Papyrus des Nebseni, in The Book of the Dead, E. A. Wallis Budge, S. 61. [back]