Reinkarnation in der afrikanischen überlieferten Religion
- Sunrise 2/1982 Sonderheft: Schlaf, Tod und Wiedergeburt: Pforten des Lebens
Universalität muß unbedingt ein Schlüssel sein, den wir für die Wahrheit jeglicher Lehre besitzen. Überall in der Welt finden wir den festen Glauben an eine spirituelle Realität hinter den Verworrenheiten des täglichen Lebens, obgleich das Verständnis für die genaue Beziehung zwischen den Sphären des Geistes und der Materie sehr unterschiedlich ist. Die meisten Gesellschaften nehmen an, daß es einen Bewußtseinsstrom gibt, der beide Prinzipien verbindet. In vielen Religionen und Philosophien wurde dieser verbindende Strom im Sinne einer konstanten Ebbe und Flut der Manifestation ausgedrückt - "Geburt" in der einen Welt ist der "Tod" in der anderen - mit dem ewig dauernden Bewußtseinsprinzip.
Dieser Glaube an die periodische Wiederverkörperung oder Reinkarnation ist natürlich ein Hauptthema vieler östlicher Religionen. In den Tempeln und unter der Bevölkerung Indiens wird an die Reinkarnation als einen der "ewigen Wege" der Natur geglaubt. In China und in Japan sprachen die Taoisten und die Zen-Meister in ihren esoterischen Lehren davon. Unter den Philosophen des Westens, die sie in alten Zeiten lehrten, waren Plato und Pythagoras, die Kirchenväter Origenes und Clemens Alexandrinus, und in noch nicht allzulang zurückliegenden Zeiten fesselte die Reinkarnation hervorragende Geister wie Goethe, Leibniz und Schopenhauer. Sie entflammte auch den poetischen Genius von Wordsworth, Masefield, Whitman und Browning.
Es ist jedoch kaum bekannt, daß die Reinkarnation eine grundsätzliche Lehre vieler traditioneller afrikanischer Religionssysteme und Philosophien ist. Der Glaube an die Wiedergeburt ist unter den Völkern, die über den mächtigen Kontinent verstreut sind, festgestellt worden: Akamba (Kenya), Akan (Ghana), Lango (Uganda), Luo (Zambia), Ndebele (Zimbabwe), Sebei (Uganda), Yoruba (Nigeria), Shona (Zimbabwe), Nupe (Nigeria), Illa (Zambia), und viele andere. Das Verständnis für die Vorgänge der Wiedergeburt ist natürlich sehr unterschiedlich. Man glaubt an eine "teilweise" Reinkarnation eines Vorfahren in einer Person oder in verschiedenen Personen derselben Familie, aber auch an einen endlosen Zyklus von Wiedergeburten, verbunden mit der Vorstellung von Reinigung und Verfeinerung der inneren Natur.
Da es endlose Schattierungen der Erkenntnis gibt, ist die Reinkarnation unter vielen Namen bekannt: unter den Yoruba in Nigeria wird auf die Wiedergeburt in verschiedener Weise hingewiesen, einschließlich Yiya omo, das als "Hervorschießen eines Zweiges" oder zum "Kind werden" übersetzt wird, und Â-tun-wa, das ein "anderes Kommen" bedeutet. Die Aboh sprechenden Stämme der Ibofamilie in Nigeria sprechen von Inua uwe oder "ins Leben zurückkehren", da sie glauben, daß der Tod nur das Ende für ein Leben, und ein Tor zu einem anderen Leben sei. Der Mensch muß wiedergeboren werden, denn die Reinkarnation ist eine spirituelle Notwendigkeit.
Die alte Theosophie, die den traditionellen afrikanischen Religionen zugrunde liegt, wird noch sichtbarer, wenn wir der faszinierenden Verschlungenheit ihrer Interpretation der Lehre von der Wiedergeburt nachgehen. Unter ihnen scheint allgemein der Glaube zu herrschen, daß die Woge der menschlichen Seelen seit einer bestimmten Weltperiode zahlenmäßig begrenzt ist; allein schon deshalb ist Reinkarnation logisch. Zum Beispiel glaubt der Illa-Stamm von Südzambia, daß eine bestimmte Zahl von Geistern erzeugt wurde, und ihnen zu Beginn der Manifestation Körper verliehen wurden. Wenn die Körper im Verlauf eines Lebens verbraucht sind, leben die Geister in ihrer eigenen Bewußtseinssphäre weiter und haben dann andere Körper, die für sie zur geeigneten Zeit vorbereitet wurden. Damit ist der Glaube an die Unvermeidbarkeit der Wiedergeburt für die Mehrheit der Menschen verbunden. Es gibt nur zwei Ausnahmen, die von den Stammesältesten der Illa vorgebracht werden - die mizhimo oder "Stammesgötter" und jene unglücklichen Menschen, deren spirituelle Evolution irgendwie durch Zauberer unterbrochen worden ist. Die Illa glauben auch, daß der reinkarnierende Geist geschlechtslos ist und die Manifestation im Körper eines Mannes oder einer Frau sucht, ohne Rücksicht auf sein Geschlecht in einem früheren Leben. Sie sagen auch in Übereinstimmung mit den esoterischen Lehren vieler anderer religiösen Überlieferungen, daß der inkarnierende Geist, das wahre Selbst jedes Menschen dem neugeborenen Kind keine Erinnerung an vorhergehende Leben - weder in den Welten des Geistes noch in denen der Materie - überträgt. Während des Lebens gibt der Geist dem Körper Leben, er bleibt aber von den Wechselfällen des täglichen Lebens unberührt. Man wird an die alten griechischen Mythen erinnert, die von dem Fluß Lethe oder des Vergessens in der Unterwelt erzählen, von dem jene, die reinkarniert werden, eine bestimmte Portion tranken, die sie ihre frühere Existenz vergessen ließ.
Tief verschlossen in diesen Traditionen können wir den verborgenen Mechanismus der Natur und die ewige Ebbe und Flut der Manifestation wahrnehmen, wie sie überall in der Welt in den Überlieferungen der gesamten Menschheit beschrieben werden. In der Geheimlehre1 z. B. lesen wir, daß die Zahl der Wesenheiten in jeder Lebenssphäre zu jeder festgesetzten Zeit durch karmische Umstände begrenzt ist. Wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl der Menschen in dem weltlichen Gefängnis der materiellen Attraktionen kämpft, um wahres Selbstbewußtsein der inneren spirituellen Natur zu erringen, dann ist die Reinkarnation wirklich eine Notwendigkeit. Während in den verschiedenen Evolutionsstufen die dafür geeigneten Körper abgenutzt werden, überdauert das ewige spirituelle Selbst jedes Menschen von Geburt zu Geburt und kleidet sich jeweils in das geeignete Vehikel ein, durch das es seine Möglichkeiten zum Ausdruck bringen kann, die durch die Erfahrung vieler Leben entwickelt werden. Die einzigen Ausnahmen in diesem "Zyklus der Notwendigkeit" sind jene Wesen, die durch ständiges Streben nach den höheren Realitäten der endlosen Runde der Reinkarnationen entronnen und für uns Götter geworden sind, und genau entgegengesetzt jene, die bewußt das Naturgesetz der spirituellen Evolution mißachtet haben. Die Führer des Illa-Stammes erzählen uns auf ihre Weise, daß das spirituelle Selbst zu verschiedenen Zeiten auf seiner langen Wanderung versucht, sich in einem Körper des einen oder anderen Geschlechts zu manifestieren, und sehr wenige Wesenheiten sind von der unaufhörlichen Runde der Wiedergeburt ausgenommen.
So wie in anderen religiösen Überlieferungen sind Einzelheiten der afrikanischen Lehre, die die Verkörperung des spirituellen Selbst betreffen, von geheimnisvollem Schleier umhüllt. Wir wissen jedoch, daß viele afrikanische Völker auffallend ähnlich an die zusammengesetzte Natur der Menschen glauben, wie die bekannteren religiösen Lehren des fernen und des nahen Ostens. Für die alten Ägypter bestand der Mensch aus einer Zusammensetzung von neun Teilen, die vom physischen Körper khat bis zur Wohnstätte der spirituellen Natur, dem sahu, reichte. In den alten jüdischen Lehren der Qabbâlâh wird vom Menschen als einer zehnfachen Wesenheit gesprochen, und die esoterischen Überlieferungen Indiens, die viel zur Terminologie der modernen Theosophie beigetragen haben, lehren verschiedentlich von vier, fünf oder sieben Aspekten oder Teilen. Alle diese Überlieferungen stimmen darin überein, daß nur die todlose Essenz des Menschen ewig dauert, während die materielleren "Körper" dem Tode verfallen, wenn die Lebenskraft entzogen wird.
Auf der Übersicht auf Seite 68, die die Überlieferungen von vier afrikanischen Völkern mit den theosophischen Lehren von der zusammengesetzten Natur des Menschen vergleicht, sind bemerkenswerte Parallelen sichtbar.
Alle stellen sich als höchsten Grad einen spirituellen Körper (eine Lebensessenz oder einen "Lebensatem") vor, mit Abstufungen über die Herz-Seele, den Mentalkörper oder Willen und das Lebensprinzip bis zum "Schatten" und dem physischen Körper, die die niederen Vehikel sind. In allen vier Beispielen wird die reinkarnierende Wesenheit als die spirituelle Essenz betrachtet, die nach dem Tod in ihren eigenen Daseinssphären verweilt und die materielleren "Körper" während des irdischen Lebens mit Leben erfüllt.
Unter den Yoruba in Nigeria wird dieser Vorgang insofern eingeschränkt, als bei ihnen ein okan oder die "Herz-Seele" eines Vorfahren versucht, sich unter seinen eigenen Nachkommen zu manifestieren. Es ist nicht klar, wie der "spirituelle Körper" oder emin zu diesem Vorgang in Beziehung steht, obwohl er von den Yoruba gewöhnlich als der letzte Sitz des Lebens betrachtet wird. In der Nupe-Überlieferung (Nigeria) ist es die "persönliche Seele" oder kuci, von der gesagt wird, daß sie das Kind des Nachkommen bei der Geburt beseelt. Von kuci wird angenommen, daß sie für eine bestimmte Periode vor der Inkarnation zu Soko (Gott) zurückkehrt, und die Nupe-Stammesangehörigen schildern die Unvermeidbarkeit des Prozesses der Wiedergeburt, indem sie die Wanderung von kuci nach dem Tod mit dem Flug eines in die Luft geworfenen Steines vergleichen: früher oder später muß er irgendwo niedergehen! Von der "Lebensessenz" oder rayi wird gesagt, daß sie beim Tode in den fortlaufenden Prozeß der Schöpfung wiederaufgenommen wird und die reinkarnierende Wesenheit belebt, ohne wirklich in den physischen Körper einzutreten. Von moza oder dem "Lebensatem" der Illa wird angenommen, daß er den Körper in der Form belebt, wie es in den biblischen Mythen geschildert wird.
So wie jeder Tag Herausforderungen bringt, die durch unsere vergangenen Erfahrungen gestaltet worden sind, und die mit der Zeit den Charakter formen und verfeinern, so wird die Reinkarnation in vielen religiösen Überlieferungen als Weg der Natur beschrieben, um die spirituelle Essenz im Herzen eines jeden Wesens durch die Feuer der materiellen Existenz zu größerem Selbstbewußtsein zu bringen. Die Reinigung und Verfeinerung des inneren Menschen während Myriaden von Leben ist eine spirituelle Notwendigkeit, die in bezug auf die Reinkarnation den Mittelpunkt einiger afrikanischer Überlieferungen bildet. Das ist besonders unter dem Volk der Akan in Ghana zu finden. Sie sagen, daß die Wiedergeburt unbedingt notwendig ist, damit jeder Mensch sein höchstes Maß an Mitleid entwickeln kann:
Es ist, als würde ein Mensch einen Eimer in einen tiefen Brunnen tauchen. Wenn der Eimer aus dem Brunnen herausgeholt wird, verrät sein Gewicht ob er mit Wasser vollgefüllt ist oder nicht. Ist er zu leicht und anscheinend nicht voll, wird der Eimer wieder hinuntergelassen ... bis das Gewicht dem Menschen versichert, daß der Eimer gefüllt ist. Genauso verhält es sich mit der Seele, ihrem Hervorkommen aus der Quelle und ihrer Rückkehr in diese. Sie wird nicht emporgehoben und in den Dienst der Quelle aufgenommen bevor nicht ihr Eimer von nkrabea [individuelle Essenz oder Bestimmung, die von Nyankopan, einem Aspekt Gottes, erteilt wurde] vollständig mit Gutem gefüllt ist - bis die Bestimmung der Seele voll verwirklicht worden ist. Dann ist es eine glückliche Heimkehr für die vollkommen gewordene Seele. Die Rückkehr einer Seele zur Erde gleicht deshalb nicht einem verdammten Verbrecher, der gehängt werden soll, sondern sie gleicht vielmehr einem kleinen Kind, das bereit ist mehr zu lernen und Besseres zu tun.
- The Akan Doctrine of God, S. 82
Gleich einem goldenen Faden, der im rauhen Gefüge der menschlichen Erfahrung verborgen ist, kann die Tatsache der inneren spirituellen Natur des Menschen, die durch die aus alten Zeiten stammende Weisheit verkündet wurde, in den Religionsphilosophien der ganzen Welt gefunden werden, wenn man ernsthaft danach forscht. Die geheimen Lehren in bezug auf die Ebbe und Flut der spirituellen Manifestation in der Materie, die einstmals in den Hallen der Mysterienschulen von Asien, Europa und Amerika von Ohr zu Ohr geflüstert wurden, finden ihr Echo in den geheimgehaltenen Gesängen der Stammes-Ältesten bei flackerndem Feuerschein während einer Initiationszeremonie irgendwo im tiefsten Afrika.
Bibliographie:
Chegwe, Austin Onwuka, "Reinkarnation: ein sozio-religiöses Phänomen unter den Ibo-sprechenden Flußanwohnern des unteren Niger", Cahiers des Religions Africaines, Band 7, Nr. 13, 1973, S. 113-137.
Danquah, J. B., The Akan Doctrine of God: a Fragment of Gold Coast Ethics and Religion, Frank Cass, London, 1968.
Idowu, E. B., Olodumare; God in Yoruba belief, Longmans, London, 1962.
Mbiti, John S., African religions and philosophy, Heinemann, London, 1969.
Nadel, S. F., Nupe religion, Kegan Paul, London, 1954.
Smith, E. W., und Dale, A. M., The Illa speaking peoples of Northern Rhodesia (2 Bände), Macmillan, London, 1920.