Von gleicher Art
- Sunrise 1/1982
Zu versagen würde nichts bedeuten, aber aufzuhören für die Menschheit und für die Bruderschaft zu arbeiten, wäre verhängnisvoll.
- William Q. Judge
In einem alten Schriftstück des chinesischen Buddhismus, das wahrscheinlich ein oder zwei Jahrhunderte nachdem Buddha der Herr verschieden war, verfaßt wurde, heißt es: "die Weisheit seiner goldenen Worte" lebt weiter; der Leitelefant stirbt, ein junger Elefant übernimmt die Führung: "eine Lampe erlischt, aber das Licht geht nicht völlig aus, bevor die Flamme in einer anderen Lampe entzündet wurde. ... und obgleich die Flamme von verschiedenen Lampen kommt, ist das Leuchten von gleicher Art."1 Auf diese Weise wird die Übermittlung der ursprünglichen Wahrheiten über den Menschen und den Kosmos für die Nachwelt gesichert.
Es sollte daher nicht allzusehr überraschen, wenn man in den Lebensbeschreibungen der Heilsverkünder dieser Welt viele Parallelen findet, denn wie verschiedenartig ihre Schulung und ihre Unterweisung auch sein mögen, so entzündet doch jeder Träger der Flamme seine Fackel am zentralen Feuer. Nehmen wir zum Beispiel die allgemein bekannten Ereignisse im Leben Gautamas und Jesu: beide wurden auf "geheimnisvolle Weise" von einer Jungfrau geboren; beide lehnten sich gegen die Orthodoxie ihrer Priesterschaften auf, wenngleich die Inspiration auf die heiligen Überlieferungen ihrer jeweiligen Heimatländer zurückzuführen ist. Beide durchbrachen alle Barrieren der Religions- und Klassenunterschiede, indem sie jeden als Schüler aufnahmen, der aufrichtigen Herzens war. Sie legten Nachdruck auf das "Licht" im Innern eines jeden Menschen, und daß deshalb für jeden die Möglichkeit besteht, Gott ähnlich zu werden - ganz gleich, ob sie Brahmanen oder Kastenlose, Sadduzäer oder Aussätzige, Könige, Kurtisanen oder Fischer sind. Bedeutungsvoll ist, daß ihr Herabkommen zur Erde von unaussprechlicher Liebe zur Menschheit angetrieben wurde - gesandt von Gott, als eine göttliche Inkarnation oder im Falle Jesu als ein Avatâra; im Falle Gautamas als Folge eines Gelübdes in zurückliegenden Leben -, das kennzeichnet sie als Glieder in der Kette der mitleidsvollen Wächter, die über uns wachen und auch den letzten unter uns anspornen, dem inneren Pfad zu folgen.
Offensichtlich sind die interessanten Schilderungen über ihre Geburt, ihre Heilsverkündung und über ihren Tod zum großen Teil Allegorie. Was dabei in den kanonischen Evangelien in bezug auf Jesus, oder in den buddhistischen Schriften in bezug auf Gautama noch zuverlässige Geschichte ist, ist so reichlich mit Legende ausgeschmückt, daß es schwerfällt Tatsache von Fantasie zu trennen. Nichtsdestoweniger gibt es genügend große Ähnlichkeiten, um uns zu zeigen, wie stark sich die Einflüsse der Asienpilger auf die jüdischen Evangelienschreiber ausgewirkt haben, und umgekehrt. Mit Ausnahme der Handelsverbindungen zwischen dem indischen Subkontinent und der hellenischen Welt waren nach der Eroberung durch Alexander im 3. Jahrhundert v. Chr. für mehrere Jahrhunderte das Museum und die Bibliothek in Alexandria spirituelle und intellektuelle Nachforschungszentren für Buddhisten, Hindus, Perser, Moslems und Hebräer, aber auch für Griechen und Römer.
Eine der eindrucksvollsten Parallelen ist in dem "Buch vom großen Hinscheiden"2 zu finden, eine Pâli-Schrift, die die wesentlichen Lehren Buddhas während der letzten Monate seines Erdendaseins beinhaltet. Wenngleich auch der Ort des äußeren Geschehens und andere Nebensächlichkeiten sich räumlich offenkundig unterscheiden, so ist doch eine außerordentliche Ähnlichkeit des Themas im 3. Kapitel mit der biblischen Szene von Gethsemane3 zu erkennen. Jesus hatte Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes gebeten mit ihm zu wachen, während er wegging, um weiter zu seinem Vater zu beten: "Wenn es möglich ist, so lasse diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst." Als er zurückkam fand er sie schlafend, und er sprach zu Petrus: "Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?" Betrübten Herzens ging Jesus ein zweites Mal, um zu beten: "Dein Wille geschehe." Und er kam und fand sie abermals schlafend. Sogar beim dritten Mal konnten nicht wach bleiben; aber Jesus sagte nur: "Ach wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da..." Daß seine treuesten Schüler nicht imstande waren, ihrem Meister in der Stunde seiner Prüfung beizustehen, bewegt uns noch heute zutiefst.
In den buddhistischen Schriften, die die Ereignisse darstellen, welche zu Gautamas Tod führten, wird berichtet, daß der Tathâgata (wie Buddha oft genannt wird) seinem treuesten Freund und Schüler Ânanda erklärte, daß derjenige, welcher alle Kräfte des Körpers, des Gemütes, des Denkens und des Willens vollständig bemeistert hat, um sie als Grundlage für moralische und spirituelle Entfaltung zu gebrauchen, könnte, wenn er wollte "in derselben Geburt für ein ganzes Kalpa [Weltalter] oder für den verbleibenden Rest des gerade ablaufenden Kalpas verbleiben." Nun, der Tathâgata, so fügte er hinzu, ist ein solcher, und daher könnte er, sollte er es wünschen, bis an das Ende unseres gegenwärtigen Zeitalters hier verweilen.
Das war ein Hinweis, aber Ânanda übersah ihn. Ein zweites und ein drittes Mal kam das Gespräch erneut darauf, doch Ânanda begriff die folgenschwere Bedeutung immer noch nicht, daß, wenn die Forderung an den Mitleidsvollen Einen stark genug war, er "in der gleichen Geburt verbleiben konnte ... aus Mitleid für die Welt, zum Wohle der Götter und der Menschen." Obgleich Ânanda eine aufrichtige Seele war, so war doch, soweit die Schrift berichtet, sein Herz noch nicht erwacht. Von Buddha kam nur die freundliche Antwort: "Du solltest mich für eine Weile verlassen, Ânanda, und tun, was immer du für richtig hältst."
Kurz darauf näherte sich dem Tathâgata Mâra, der Versucher - der Name bedeutet "Tod" -, und drängte ihn, nun zu sterben und in Nirvana einzutreten, worauf er zur Zeit seiner höchsten Erleuchtung verzichtet hatte, denn die Entscheidung, die er damals gefaßt hatte, sei nun erfüllt. Buddha entgegnete: In der Tat, die Brüder und Schwestern und auch die Laienschüler sind "weise geworden und wohl unterrichtet, um alle ihre größeren und kleineren Pflichten zu erfüllen", rechtschaffen in ihrem Benehmen und imstande, anderen die "Wunder wirkende Wahrheit" des Dhamma (Dharma oder Gesetz) zu erläutern. Da aber von Ânanda kein Ruf an ihn erfolgt war, könnte er, Mâra, sich nun endlich freuen: "Freue Dich! ... von heute ab nach drei Monaten wird der Tathâgata sterben!" Darauf erfolgte ein gewaltiges Erdbeben und ein Donnerschlag krachte vom Himmel - ähnlich wie es sich während der "Kreuzigung" Jesu ereignet hat, als zwischen der sechsten und neunten Stunde sich Finsternis über das Land breitete, und, nachdem er seinen Geist aufgegeben hatte, "der Vorhang im Tempel von der Decke bis zum Boden zerriß, und die Erde bebte, ..."
Als Buddha kurz danach Ânanda mitteilte, was sich zwischen ihm und Mâra zugetragen hatte, begriff Ânanda nun augenblicklich. Nachdem jetzt feststand, daß sein Freund und Mentor schon sehr bald seine Brüder und den Orden verlassen wollte, bat er ihn flehentlich, aus Mitleid und zum Segen für die gesamte Menschheit hier zu bleiben. Die Antwort war unvermeidlich: "Bitte den Tathâgata nicht! Die Zeit für ein solches Ersuchen ist vorbei." Hätte Ânanda sich wenigstens beim dritten Mal gerührt, fügte sein Lehrer hinzu, dann wäre sein Wunsch gewiß erfüllt worden. In Wirklichkeit, so wird gesagt, hatte Buddha von diesen Möglichkeiten auch bei zehn oder fünfzehn anderen Gelegenheiten gesprochen, doch jedes Mal hatte Ânanda den Wink nicht beachtet.
Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, daß, wenn Ânanda oder die Schüler von Jesus die tiefere Bedeutung des Geschehens um ihren Lehrer erfaßt hätten, sie den Lauf des Schicksals hätten aufhalten können. Dazu kommt die weitere Tatsache, daß der Tathâgata oftmals zu Ânanda und den Brüdern gesagt hatte, daß alles, was geboren ist, auch wieder stirbt, und daß alles, was uns lieb und teuer ist, eines Tages ebenso dahingehen wird, denn es liegt in der Natur der Sache, daß alle Dinge, welche ins Dasein gebracht wurden, auch die unabdingbare Notwendigkeit beinhalten, ihre Form wieder abzustreifen. Das Rad des Gesetzes dreht sich und treibt uns durch fortwährenden Wechsel unerbittlich in dem langsamen, aber mitleidsvollen Prozeß des Selbst-Erwachens voran.
Wahrscheinlich liegen sowohl der buddhistischen als auch der christlichen Erzählung wenig geschichtliche Tatsachen zu Grunde, doch das verneint die letzte tiefe Wahrheit nicht, die sie enthalten. Keine der beiden Geschichten endet mit: "Und dann glückselig für immer", auch sollte sie es nicht, denn das Leben ist eine Mischung aus Gut und Böse, aus Freud und Leid, von der wir tröpfchenweise ein Maß an Weisheit herausdestillieren können. Wenn wir hierin eine Tragödie sehen, dann deshalb, weil wir die Geschehnisse zu eng begrenzt betrachten. Von der Perspektive vieler Leben aus gesehen, gibt es weder Fehlschlag noch Erfolg, nur Unterweisung, und darin liegt sowohl Ermutigung als auch Herausforderung. Ânanda, Petrus, Jakobus und Johannes sind wir selbst; wir können uns mit ihnen identifizieren, denn ihre Schwäche ist unsere eigene. Wie oft werden wir uns der Realität einer Situation erst nach der Erfahrung voll bewußt, bemerken zu spät, wie wir in dieser verpaßten Gelegenheit hätten reagieren müssen. Gelegenheiten kommen und gehen für uns alle. Einige ergreifen wir, meist durch Intuition, und sind die Gewinner. Andere, vielleicht sehr wichtige, lassen wir vorübergehen. Doch es ist nicht alles verloren, denn gewisse Teile unseres Bewußtseins registrieren die Lektion. Wäre es anders, würde es uns anschließend nicht sofort bewußt werden, entweder einige Stunden später, oder vielleicht auch nicht bevor der angenehmere Teil eines Lebens vorbei ist. Doch erwachen werden wir unbedingt, und darin liegt der Triumph!
Als Bewohner dieser Welt gehen wir durch einen stürmischen Zyklus, in dem sich die Umwälzung der Ideale außergewöhnlich verstärkt, was aber nicht ohne Erfolg ist. So, wie in jedem Herbst das Blätterkleid des Jahres abgelegt wird, um die Rückkehr des Frühlings und das Knospen neuer Energien vorzubereiten, so geschieht es auch mit uns. Wenn wir in Harmonie mit der Seele der Natur schwingen, lernen wir, daß es keinen Fehlschlag geben kann, wenn das Herz treu und das Motiv selbstlos ist, und wir den festen Willen haben, unsere Bestrebungen in den Dienst der Menschheit zu stellen. Unerschütterlich an diesem Ideal festhalten, sollte auch der Erfolgt begrenzt sein, heißt, in die Fußtapfen der Edlen Erhabenen zu treten, die hin und wieder ins Erdendasein zurückkehren, angetrieben von tiefstem Mitempfinden mit allen, die leiden. Die Lampen mögen unterschiedlich sein, aber das "entströmende Licht ist bei allen von gleicher Art."
Fußnoten
1. A Catena of Buddhist Scriptures from the Chinese, übersetzt von Samuel Beal, Kaplan in der Flotte Ihrer Majestät, London, 1891; Seite 139-140. [back]
2. Mahâ-Parinibbana-Sutta, ins Englische übersetzt von T. W. Rhys Davids; Buddhist Suttas, Sacred Books of the East, Band XI, Oxford, 1881. - Die große Lehrrede vom endgültigen Verlöschen, deutsche Übersetzung von Paul Dahlke. [back]
3. Matthäus-Evangelium, 26:36-45. [back]