Viele Wege führen zur Stadt Gottes
- Sunrise 3/1981
Glücklich der Wanderer, dessen Herz ihm sagt, daß er auf dem Weg zu seinem Ziel ist. Den meisten von uns ist eine Wanderkarte unerläßlich, und um sicher zu sein, daß es eine angenehme Reise wird, wählen wir eine Karte, die uns über die Wegverhältnisse Auskunft gibt: wo man unterbrechen kann und wo es Sehenswürdigkeiten gibt.
Könnten wir unser Leben in biographischen Linien anlegen, wie die Straßen und Ortschaften, so würde das gewiß eine bemerkenswerte Karte ergeben! Am Rande unserer frühesten Bewußtseinsschwelle würden diese Linien als ganz schmaler, undeutlicher Pfad beginnen, und sich verbreitern, wenn wir zum ersten Mal unseren Platz in unserer Familie, in unserem Volke, in unserer Welt wahrnehmen und dann von unseren Kräften und Fähigkeiten Gebrauch machen. Dieser Weg würde nicht nur über die Grenzen unserer irdischen Leistungen hinausgehen - wobei unsere Interessen mit Sternchen versehen wären, als seien es Städte mit den Wegen unseres Kommens und Gehens - er könnte sogar wie ein leuchtender Kondensstreifen aufwärtssteigen, wenn wir über spirituelle Gedanken nachsinnen. Eine derartige Projektion unseres Lebens könnte auch anzeigen, wie oft der Kurs, den wir in Gedanken einschlagen, den Weg bestimmt, den wir dann auch wirklich gehen: Wie die Qualität unserer Gedanken, unserer Wünsche, unserer Ängste und unserer Ausdauer uns entweder zu lieblichen "Hügeln und Tälern" bringt, oder zu Hindernissen, ermüdenden Umwegen und Irrwegen.
Glücklicherweise gibt es eine Auswahl von "Tourenkarten", die uns helfen, derartige Mißlichkeiten zu vermeiden. Die Gesetze von Moses zum Beispiel, die Gebote des Manu und die des Babyloniers Hammurabi, sind Karten, deren grundlegende Anweisungen Tausenden geholfen haben, die Richtung zu finden und sicher durch die sozialen, wirtschaftlichen, gesetzmäßigen und religiösen Situationen ihres Lebens zu steuern. Auch Mythen sind Karten. Ihre Helden personifizieren jeden Menschen, der sich auf den abenteuerlichen Weg der Selbstbemeisterung wagt. Ihre Feen und Gnomen, Zauberer, Hexen und die halbmenschlichen Ungeheuer sind Kräfte, die die geheimnisvollen Gebiete unseres Unterbewußtseins bevölkern. Diesen muß man, wie den Gestalten in John Bunyans berühmter "Pilgerfahrt", ins Auge sehen, sie veredeln oder ausrotten, wenn der Pilger zur Stadt Gottes vordringen will.
Landschaftsbilder sind oftmals wie Karten ausgedacht. Chinesische und japanische Künstler zeichnen die Ereignisse unserer Reise durch die drei Welten des Kosmos geschickt auf und erklären sie als: (1) die Welt der sinnlichen und geistigen Wahrnehmungen, der Konflikte und Schmerzen. Sie wird durch die naturgetreue Wiedergabe von Menschen, Blumen, Felsen und Flüssen dargestellt. (2) Die Zwischenwelt des Denkens und Wünschens wird durch kurvenreiche Bergpässe, durch Wasserfälle und durch Brücken gezeichnet, die zu der (3) himmlischen Welt führen, die von Lohans,1 Bodhisattvas und Buddhas bewohnt ist. Obgleich durch Wolken verhüllt, sind ihre himmlischen Gefilde nur teilweise verdunkelt, denn für den Buddhisten sind die erhabenen Wesen, die dort wohnen, niemals fern. Sie steigen über dieselben Brücken herab, über die der Strebende aufsteigt. Wenn diese erhabenen Wesen sich bei uns Menschen befinden, wird ihre Bedeutung meist durch eine erhöhte Position angedeutet, und auch durch künstlerische Mittel, wie einen verlängerten Kopf, eine friedvolle Haltung und mitfühlendem, nach unten gerichtetem Blick.
Bildtext: Lohans und Steinbrücken zum Chinesischen Himmel; Malerei auf Seide, 12. Jahrhundert, Freer Kunstgalerie.
Diese Landschaften werden besonders von jenen geschätzt, die sie als eine ausdrucksvolle Beschreibung des Weges zur Vollkommenheit betrachten. Dieser Weg beginnt für manche Menschen mit Übungen: Studium und Beherrschung des Körpers, der Gefühle und des Geistes. Für andere beginnt er mit einer Pilgerfahrt zu einem heiligen Fluß, einem Tempel, oder zu einem heiligen Berg. Einige Religionen verbinden beides, Übungen und Pilgerfahrt. Der Moslem glaubt zum Beispiel, daß er jeden Ehrgeiz und alle irdischen Gedanken abtun muß, bevor er zum Ort seines geistigen Ursprungs zurückkehren kann - nach Mekka zu pilgern -, eine Reise, deren Belohnung die größten Opfer und Mühsale belanglos macht. Für einige wenige ist jedoch diese körperliche Pilgerfahrt nur ein Gleichnis für die Umkehr und Rückkehr zum "Haus Gottes" im Innern. Muhammad Abdul-Rauf, der Direktor des Islamischen Zentrums in Washington D. C., drückte es sehr klar so aus:
Wir alle tragen in unserem Herzen ein göttliches Element. Vom schützenden Mutterleib hinweggerissen und weinend in diese Welt hineingestoßen, verwenden wir unsere ganze Kraft darauf, einen Zustand des Glücks zu erreichen. Dieser unaufhörliche, ruhelose Drang ist nichts anderes als das göttliche Element in uns, das seinen Ursprung sucht. ...
Ein Moslem sehnt sich danach, wenigstens einmal in seinem Leben den Konflikten und Launen des täglichen Lebens zu entkommen und am Geburtsort seines Propheten und im Hause seines Herrn zu weilen. Dort sucht er mit seinen Brüdern geistige Nahrung und Erlösung. Die Pilgerreise symbolisiert die Rückkehr zu unserem Ursprung. Wir fühlen die Freude dieser Rückkehr, und der Drang in unserem Herzen ist bis zu einem gewissen Grad gestillt und erfüllt.2
Für die Mystiker aller Zeiten ist das Erlangen dieses Wissens um das "göttliche Element" in uns, nicht das letzte Ziel. Es bedeutet vielmehr, daß eine Stufe erreicht ist, die uns befähigt und verpflichtet, die Verhältnisse der menschlichen Familie demgemäß irgendwie zu verbessern.
Dieses altruistische Ideal stellte Raymond Lull, der christliche Theosoph des 13. Jahrhunderts, in einem Holzschnitt dar, der als Titelbild zu seiner Abhandlung De ascensu et descensu intellectus3 (Über den Aufstieg und Abstieg des Geistes) diente. Hier sehen wir den Pfad als eine Treppe angelegt, auf der ein Neophyt, geschmückt mit dem Spruchband Intellectus conjunctus (der gebundene Intellekt) - "alles einbeziehendes Verstehen" - zu seinem Schloß der Weisheit aufsteigen kann. Wer mit dem kabbalistischen Denken vertraut ist, wird erkennen, wie geschickt der Holzschnitt den Aufstieg der Seele aus den niederen Schichten des Seins nach oben durch verschiedene Arten unseres komplexen und dennoch einheitlichen Kosmos darstellt. Vom unbeweglichen, unbelebten Zustand des Steins (lapis) oder des Mineralreiches ausgehend, steigt die Seele durch die Naturreiche: von der mit Energie beseelten Flamme (flama) zu der Pflanze, zum Tier und zur menschlichen Stufe. Dann, nachdem sie Selbstbewußtsein, Denkvermögen und Intelligenz erlangt hat, steigt sie auf in den himmlischen Bereich - hier durch nebelhafte, mit Sternen besetzte Wolken dargestellt -, worauf sie das Reich der Engel, und dann das der Göttlichkeit selbst, betritt. Jetzt, nachdem sie in sich alles nur mögliche Wissen "integriert" hat, sowohl das vom äußeren, "den Sinnen und dem Verstand wahrnehmbaren" Universum, als auch das Wissen von ihren spirituellen oder "verborgenen" Fähigkeiten und Beschaffenheiten, jetzt betritt sie das sonnen-erleuchtete Schloß. In späteren Zeiten, so wird vermutet, wird sie als Lehrer und Führer zurückkehren, denn Lull erklärt:
Wir beginnen im Unvollkommenen, damit wir zum Vollkommenen aufsteigen können, so wie wir andererseits aus dem Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen können.
Der Gedanke des Aufsteigens - Absteigens - Aufsteigens wurde durch das Mandala4 noch erweitert. Die Mandalas, die zuerst bei den Hindus und später bei den Tibetern entstanden, beginnen an einem Mittelpunkt, der verschieden aufgefaßt wird: als Sinnbild für die Wohnung einer göttlichen Wesenheit, d. h. des Logos, für die spirituelle Essenz einer Person oder für die Spitze oder den Mittelpunkt der Bewußtseinswahrnehmung eines Menschen. Aus diesem Mittelpunkt kommt, so wie die Blütenblätter des Lotos sich aus der Knospe entfalten, alles Leben und alle Erfahrung hervor. Um diesen Mittelpunkt kreisen und entwickeln sich alle Stufen der ins Dasein getretenen Wesen; und zu ihm, dem Universalen Bewußtsein, kehren sie schließlich alle wieder zurück.
So gut wie alle Mandalas basieren auf heiligen Überlieferungen, ganz gleich, ob sie wie ein indianisches Medizinrad "in den Sand gemalt" werden, ob sie auf Stoff gezeichnet oder darin eingewebt sind, ob sie einer illustrierten Weltkarte gleichen oder einer geometrischen Abstraktion. Nach dieser Überlieferung ist jedes Wesen, jede Energie, jeder Gedanke und jede Handlung der äußere Ausdruck einer inneren Motivierung, und ein Teil einer göttlichen, kosmischen Ordnung, der durch Raum und Zeit zur Vergöttlichung voranschreitet. Daher spielt es keine Rolle, ob das Mandala Wesen und Orte darstellt oder ob es aus Kreisen, Rechtecken und Dreiecken besteht. Es ist die kalpa-lange Pilgerfahrt der Seele, der man folgen sollte, die von nichtselbstbewußter Wahrnehmung zur Allwissenheit führt.
Wenn die menschliche Stufe dieser Reise erreicht ist, teilt sich bei manchen Darstellungen die Straße in drei Wege auf. Der Pfad des psycho-physischen Menschen schlängelt sich, bildlich dargestellt, durch die Täler und Berge, Höllen und Paradiese der Erscheinungsform und der Erfahrung, um die Fähigkeiten und das Bewußtsein des Menschen zu entwickeln und sie geeignet zu machen, damit sie als Träger der höhermenschlichen und spirituellen Bestandteile seiner Konstitution dienen können. Der breite Weg der menschlichen oder "karmischen" Person, der immer wieder um ihr besonderes "Lebensrad" verläuft, zwingt sie wiederholt den Drohungen und Herausforderungen der "Dämonen und Devas" ins Auge zu sehen, die sie und niemand sonst erschaffen hat, bis sie ihr "Schicksal" meistert und voranschreitet - indem sie die latent in ihr vorhandenen natürlichen inneren Schätze entdeckt und reinigt. Der Höhenweg des spirituellen Wesens im Menschen - dessen Einfluß und Eingebung so weit wie möglich die psychophysischen und karmischen Individuen formen und verfeinern - führt durch himmlische Gefilde, während das spirituelle Selbst auf seiner eigenen Daseinsebene voranschreitet.
Wie das Mandala die verschiedenen und oft widerstreitenden Kräfte kennzeichnet, mit denen wir konfrontiert werden, während wir auf den drei Ebenen dieses Weges vorwärtsgehen, ist faszinierend. Die Formen, Muster und Farben sind zum größten Teil peinlich genaue Wiedergaben von Wesen und Figuren, die in Visionen und tiefer Kontemplation spontan vor dem geistigen Auge entstanden. Da gibt es Paradiese, ausgestattet mit den dazugehörenden Tempeln, Palästen und Gärten, geschmückt mit Blumen und Bäumen. Da gibt es unzählige Bodhisattvas und Buddhas, unsere Tugenden und Kräfte darstellend, die wir hervorrufen und entwickeln, wenn wir auf dem Wege vorangehen. Da gibt es auch Riesen, Dämonen und Friedhofskräfte - Kräfte in uns und in der Natur, die uns vernichten könnten, wenn wir sie unwissend gebrauchen. Die Bauwerke, Devas und Ungeheuer bedeuten auch "Hindernisse", die wir durch Fehler hervorbringen.
Neuere Mandalas stellen Yama dar, den Todesgott, der Leid und Schmerz austeilt, den König dieser Dämonen. Frühere Mandalas teilten jedoch Kâma, dem Gott der Liebe, diese Rolle zu, denn im Osten ist es Liebe - unsere Zuneigung für und Anhänglichkeit an Menschen, Orte und Dinge -, die uns wieder und wieder zur Erde herabzieht, und die nicht nur die Schönheit und Güte, sondern auch die Leiden erzeugt, die wir auf dieser Entwicklungsstufe erfahren. Sie glauben, daß Befreiung von diesem Kreislauf der Wiedergeburten erreicht wird, indem man symbolisch den Gipfel des Berges Meru "ersteigt", das heißt, indem man den Schauplatz unseres beschränkten Bewußtseins verläßt und Allwissenheit von kosmischen Ausmaßen erreicht. Der Berg Meru stellt, wie alle heiligen Berge, den Gipfel der spirituellen Errungenschaft dar.
Die erhabenen und grotesken Wesen und die Orte des Mandalas werden auch im Tibetanischen Totenbuch beschrieben. Dieser sehr alte "Reiseführer in andere Welten" wurde zur Belehrung der Menschen geschrieben; wie sie leben sollten, damit sie aufmerksam, bewußt und furchtlos im Bardo weiterbestehen könnten - in den Ländern, durch die wir gehen, wenn wir vom physischen Körper befreit sind; denn, so erklärt es, in jenen vielfältigen und verschiedenartigen Reichen wird man die Ernte der karmischen Gedankenformen einbringen, die man während des verkörperten Daseins erzeugt:
O Edelgeborener, diese Reiche rühren nicht von irgendwo außerhalb [deiner selbst] her. Sie kommen von innerhalb der vier Abteilungen deines Herzens, die, den Mittelpunkt hinzugerechnet, die fünf Richtungen ausmachen. Sie kommen von da innen heraus und scheinen auf dich. Auch die Gottheiten sind nicht von sonst irgendwo gekommen: sie existieren von Ewigkeit her innerhalb der Fähigkeiten deines eigenen Intellekts. Wisse, daß sie von solcher Natur sind.5
Und der sechste chinesische Patriarch, Hui-Neng, warnte diesbezüglich:
Wenn wir unsere Gedanken bei üblen Dingen verweilen lassen, entsteht die Hölle. Wenn wir unsere Gedanken bei guten Taten verweilen lassen, manifestiert sich das Paradies. Drachen und Schlangen sind die Transformationen von giftigem Haß; während Bodhisattvas mitleidvolle Gedanken sind, die Gestalt angenommen haben. Die verschiedenen Himmel sind Projektionen von Prajna [vollkommene Weisheit], während die Unterwelten die Transformationen von Unwissenheit und Verblendung sind.6
Wenn jemand im Leben recht lebt, wird er ebenso während des Todes leben, und das erweckt karmische Kräfte, die ihm, wenn seine Seele wieder zur Erde zurückkehrt, eine glückliche Geburt sichern. Glücklich in dem Sinne, daß ihm die Gelegenheit gegeben wird, sich selbst zu meistern, größeres Verständnis für die Geheimnisse des Lebens zu erlangen, und in der Lage zu sein, der Menschheit zu helfen. Wenn er dieser Richtung folgt, erreicht er schließlich völlige Weisheit, er wird ein dwija, ein "Zweimalgeborener", einer, der zu höheren Ebenen weitergehen kann, oder der, wie die Sonne, leuchten, nähren, und allen lebenden Wesen zur geistigen Erneuerung verhelfen wird.
Dieser Zustand ist kein weit entferntes Ziel. Der Anfang ist einfach: Zuerst folgt man den Hinweisen einer guten Tourenkarte, dann lernt man den "Weg des Herzens" zu gehen. Lebensumstände, Ausbildung, frühere Erfolge und Rückschläge sind nur wichtig wegen der Anregung, die sie geben, und wegen der Stärke, die sie vermitteln, so wie wir unsere Seile und Steigeisen wieder aufnehmen und von neuem dem Gipfel des endgültigen Zieles entgegenklettern.
Es heißt, wenn wir einmal dort sind, werden wir gewahr, daß wir schon da waren. Wir haben immer in der "Stadt Gottes" gelebt! Die langen Reisen durch die Leben sind notwendig, denn durch Kampf und Studium, Opfer und Dienst wird jede Faser unseres Wesens vervollkommnet, und wir werden unsererseits fähig, denen zu helfen, die sich verirrt haben und Führung brauchen.
Fußnoten
1. Lohan [sanskr.-chines.] = Titel buddhistischer Heiliger der höchsten Erkenntnisstufe. [back]
2. "Pilgrimage to Mecca" (Pilgerreise nach Mekka), National Geographic, November 1978, S. 589. [back]
3. Siehe The Cosmographical Glass, (Das kosmographische Glas) S. K. Heninger, Jr., The Huntington Library, 1977; S. 160-162. [back]
4. Siehe The Theory and Practice of the Mandala von Giuseppe Tucci, 1961. [back]
5. W. Y. Evans-Wentz, Das Tibetanische Totenbuch, S. 71-72. [back]
6. Dwight Goddard, A Buddhist Bible, S. 529. [back]