Apollonius, der Weise von Tyana
- Sunrise 2/1981
Während des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bestand die bekannte westliche Welt aus den Ländern um das Mittelmeer, und das Römische Reich streckte seine Fühler aus, um alle bewohnten Gebiete zu beherrschen. Es war eine entscheidende Zeit in unserer Geschichte, denn sie bereitete den Boden für das nachfolgende dunkle Mittelalter, in dem ein Nebelschleier über den menschlichen Geist gezogen wurde. In dieser absteigenden Ära behielten nur die Stärksten eine unversehrte Seele und konnten die bleibenden Werte weitergeben. In jener Zeit wurden einige hervorragende Persönlichkeiten geboren, deren Licht viele kommende Generationen inspirieren und ermutigen sollte.
Ein solcher Mensch war Apollonius von Tyana, dessen Leben einen entscheidenden geistigen Einfluß auf die Völker vieler Länder ausübte. Man nimmt an, daß er im Jahre vier oder drei v. Chr. geboren wurde und ungefähr hundert Jahre gelebt hat, obgleich Jahr und Ort seines Todes unbekannt sind. Wie Gautama, der Buddha, soll auch er nach seinem Weggang weitergelehrt haben. Es ist eigenartig, daß die zahlreichen Geschichtsschreiber, die über den außergewöhnlichen Lebensweg des Apollonius berichten, den legendären Jesus, der zur gleichen Zeit gelebt haben soll, überhaupt nicht erwähnen. Erst später wird er in den Schriften der christlichen Anhänger erwähnt, wobei viele bemüht waren, den Tyaner herabzusetzen, als ob ein spiritueller Führer an Größe gewinnen würde, wenn man den anderen abwertet. Es gibt jedoch überzeugende Anzeichen, daß beide, sowohl Apollonius als auch Jesus (wer auch immer als Vorbild für die Geschichte dieses Messias gedient haben mag) zur Hierarchie der Lichtbringer gehören, die in periodischen Zeitabständen erscheinen, um die Menschheit durch Unterweisung und Beispiel zu lehren.
Bestimmte Symbole, die unbestreitbar diesen beiden und auch anderen großen Lehrern gemeinsam sind, bilden eine Art Code, der anzeigt, daß die Beschreibung sich auf einen großen Eingeweihten bezieht. Es wird z. B. berichtet, daß Apollonius' Mutter durch einen Gott, Proteus, angekündigt wurde, daß er von ihr geboren werde. In der Erzählung heißt es, daß sie, als die Zeit herankam, auf einer Wiese einschlief, wo sie Blumen gepflückt hatte. Eine Schar von Schwänen bildete einen Kreis um sie und "schrie plötzlich laut ...", worauf sie aufwachte und gebar. Gleichzeitig schoß ein Blitzstrahl vom Himmel und stieg sofort wieder empor. Diese Wunder, die sich bei der Geburt des Apollonius, Sohn eines Gottes und einer Sterblichen, ereignet haben sollen, und auch sein weiteres Leben und seine Lehre weisen darauf hin, daß er einer aus der Reihe der spirituellen Führer war. Es gibt viele Namen für Proteus. Unter anderem stellt er das höchste Ideal dar, das im menschlichen Herzen zu finden ist, und nimmt viele unterschiedliche Gestalten an. Proteus ist eine Kraft, die ewig vorhanden ist, ein stiller Wächter an heiligen Stätten der Erde. Er verkörpert sich in würdigen Sendboten, die durch Lehre und Beispiel die Gemüter entzünden, die fähig und bereit sind, Erleuchtung zu empfangen. Durch diese gütige Kraft wurden die Retter geboren, die von Zeit zu Zeit versuchen, den menschlichen Geist aus seiner immer wiederkehrenden Trägheit wachzurütteln.
Wir müssen Flavius Philostratus für die ausführliche Lebensbeschreibung des Apollonius dankbar sein. Philostratus war ein berühmter Gelehrter, ein Kunstkenner und einer der Literaten aus dem Kreis um die gelehrte und kluge Julia Domna, der Gemahlin des Kaisers Septimius Severus, der von 193-211 n. Chr. regierte. Diese beiden und ihr Sohn Caracalla1 waren ergebene Schüler der Philosophie, und es war Julia, die Philostratus den Auftrag gab, den angeblich etwas "unbeholfenen" Bericht über das Leben des Apollonius, der von Damis von Ninive, seinem treuen Diener und ständigen Begleiter, aufgezeichnet worden war, neu zu schreiben und herauszugeben. Julias Vater, Bassianus, war in Emesa, Syrien, ein Priester der Sonne gewesen, und seine Tochter hatte eine beeindruckende Sammlung von Büchern und Manuskripten erworben, die über Philosophie und von berühmten Vertretern der okkulten Lehren handelten. Ihr war es gelungen, Material für dieses Vorhaben herbeizuschaffen, wobei sich auch Briefe befanden, die Apollonius geschrieben hatte. Sie waren von Kaiser Hadrian (117-138 n. Chr.) in Antiochien aufbewahrt worden. Philostratus besuchte auch viele Orte, durch die der Tyaner gezogen war, um seine Darstellungen zu bestätigen und, wenn möglich, herauszufinden, wo der Weise gestorben war. Viele spätere Schriften über das Leben des Apollonius basieren auf dem Bericht des Philostratus, von dem es zahlreiche Übersetzungen gibt.
Was den allegorischen Gehalt anbelangt, so fragt man sich unwillkürlich, ob Damis Schrift wirklich so ungeeignet gewesen war, oder ob die Art, wie er die klassische Mysteriensprache gebrauchte, tatsächlich zu verräterisch gewesen ist, weshalb Julia, die zweifellos genau mit der Methode vertraut war, wie man inhaltlich bedeutungsvollere Tatsachen zwischen anderen profanen Mitteilungen verbirgt, vorsichtshalber die Schrift durch einen klugen Laiengelehrten nacherzählen ließ, um gewisse Dinge vor der Entweihung zu schützen, die besser unerklärt blieben. Dieser Punkt bleibt strittig.
Im Alter von vierzehn Jahren kam Apollonius in den Tempel des Äskulap zu Ägäa, wo er in der Kunst des Heilens unterrichtet wurde. Der Tempel war eine Art Hospital. Die Lehren des Pythagoras erhielt er durch Euxenus, dessen Lebensstil jedoch mehr epikureisch als pythagoreisch war. Dennoch respektierte der Jüngling seinen Lehrer, dessen Führung er bald entwuchs. Bezeichnend ist, daß er, bevor er Euxenus verließ, seinen Vater überredete, diesem eine schöne Villa für seinen Ruhestand zu überlassen, denn Apollonius kam aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Begeistert nahm Apollonius die pythagoreische Schulung an. Er verteilte sein väterliches Erbteil unter seiner Familie und unter den Armen. Für seine eigenen bescheidenen Ansprüche behielt er nur einen kleinen Anteil und begann nun eine fünfjährige (andere sagen vierjährige) Periode des Schweigens. Er trug das Leinengewand eines Philosophen, reiste durch Pamphylien und Kilikien und versuchte dabei überall, wohin er kam, die örtlichen Verhältnisse zu verbessern. Oft war er in arger Versuchung, sein Schweigegelübde zu brechen und dem übergroßen Verlangen, zu sprechen, nachzugeben. Ablehnung und Spötteleien wegen seiner Kleidung und seiner Gewohnheiten störten ihn wenig, aber er war behindert in seinen humanitären Bemühungen, die Schwierigkeiten der menschlichen Gemeinschaften und einzelner Menschen zu beheben und mußte sich manchmal damit behelfen, seine Empfehlungen niederzuschreiben.
In Ninive wurde er mit Damis bekannt, der sich dem Meister mit folgenden Worten anschloß: "Laß uns aufbrechen, Apollonius, du folgst Gott und ich folge dir." Die Wanderer besuchten Vardan, den König von Babylon, und es gelang ihnen, diesen von seinem Lasterleben zum Leben eines Philosophen zu bekehren. Danach verbrachte Apollonius mehrere Jahre bei den Arabern und wurde zweifelsohne in geheime Bruderschaften im Gebiet südlich von Palästina aufgenommen, denn Damis glaubte, daß Apollonius auf den Wanderungen mit den Nomaden von diesen gelernt habe, die Sprache der Vögel zu verstehen. Diese Fähigkeit führte Damis darauf zurück, daß sie von den Herzen oder Lebern der Schlangen und Drachen gegessen hätten. berichtete auch von wunderbaren Dingen, denen sie auf ihren Reisen begegneten, wie zum Beispiel dem sagenhaften Einhorn. Das alles ist natürlich symbolisch und weist darauf hin, daß Apollonius (der in seinem Leben nie Fleisch zu sich nahm) esoterische Unterweisung bei den "Schlangen" - Eingeweihten - erhalten hatte, die in dieser Region wohnten. Die genau gleiche Ausdrucksweise wird für denselben Begriff von Indien bis Island gebraucht: Das Verzehren des Drachenherzens versetzt den Menschen in die Lage, den Gesang der Vögel zu verstehen, d. h. die Geheimnisse der Natur zu kennen.
Sie überquerten das Hindukusch-Gebirge, um Indien zu erreichen. Es ist kaum etwas darüber bekannt, was sich wirklich bei den Brahmanen und den Buddhisten ereignete, die Apollonius als seine Lehrer aufsuchte und von denen er später sagte: "Ich sah indische Brahmanen, die auf der Erde lebten und doch nicht auf ihr waren, und geschützt waren ohne Befestigungsanlagen, die nichts besaßen und dennoch die Reichtümer aller Menschen hatten." Daß er von ihnen Unterweisung erhielt, ist gewiß. Er ließ seine Reisegefährten in einiger Entfernung vom heiligen Bereich warten und trat allein ein. Vermutlich verbrachte er mehrere Jahre in Indien oder in Tibet, unter der Führung und Schulung der Brahmanen. Später sagte er: "Ich denke immer an meine Meister, reise durch die Welt und lehre, was ich von ihnen gelernt habe." Obwohl es keinen Hinweis dafür gibt, daß Damis an derartigen Privilegien teilnahm - er blieb stets ergeben im Hintergrund -, so ist dennoch klar, daß er ein vertrauter und ergebener Schüler war, der manche Krumen vom Tisch des Meisters erhielt. Der Lieblingsschüler von Jesus war Johannes, Buddha hatte seinen Ânanda, Damis blieb bis zum Ende der treue Diener von Apollonius.
Während der Regierung Neros verbrachte der Tyaner mit acht Schülern einige Zeit in Rom. Obwohl angenommen wird, daß Nero alle Philosophen verfolgte, scheint diese kleine Gruppe nicht nur unangefochten geblieben zu sein, vielmehr wurde Apollonius durch Neros Konsul Telesinus - mit oder ohne Wissen des Kaisers - freie Hand gegeben, in den Tempeln Reformen durchzuführen. Durch seine priesterliche Betreuung kam es zu einer Wiederbelebung der religiösen Ergebenheit, und die Menschen strömten herbei, um Apollonius von heiligen Dingen reden zu hören. Sein Freund Demetrius, der gegen die Badesitte zu heißer Bäder schimpfte, wodurch die Menschen "sich schwächten und befleckten", wurde jedoch aus Rom verbannt. Seine Kritik, die wahrscheinlich vom gesundheitlichen Standpunkt aus stimmte, erregte Mißtrauen gegen alle Philosophen, so daß Apollonius von nun an ständig überwacht wurde. Nachdem eine recht vage Prophezeiung, die er gemacht hatte, in Erfüllung gegangen war, wurde er von dem mächtigen Tigellinus, der als Kläger auftrat und eine umfangreiche Liste mit Beschuldigungen hatte, angeklagt, und kam vor Gericht. Tigellinus schwang triumphierend die Schriftrolle, doch als er sie prahlerisch öffnete, war sie vollständig leer. Apollonius war frei. Darauf schiffte er sich nach Spanien ein und kam nach Gadir (Cadiz) zu den Säulen des Herkules, wo er eine Inschrift entzifferte, die bis dahin allen Deutungen getrotzt hatte. Er machte sich auch mit den Gezeiten des Ozeans vertraut, die er teilweise dem Atem des Erdgeistes und teilweise den Phasen und Bewegungen des Mondes zuschrieb.
Innerhalb eines Jahres folgten Nero drei Kaiser, dann übernahm im Jahre 70 n. Chr. Vespasian die Macht, nachdem er Apollonius in Ägypten zu Rate gezogen und dieser ihn dazu ermutigt hatte. Vespasian erwies sich als ein vernünftiger Herrscher, aber er hob die Freiheit Griechenlands wieder auf, die Nero dem Land geschenkt hatte, und wurde deshalb von Apollonius in einer Reihe geharnischter Briefe zur Rede gestellt. Im Jahre 79 n. Chr. folgte auf Vespasian dessen Sohn Titus, der sich zwei Jahre lang als vorbildlicher Monarch bewährte, aber von seinem Bruder Domitian, der nach dem Thron trachtete, vergiftet wurde.
Apollonius reiste mit Damis und einigen anderen Schülern durch das ganze Reich. Sie besuchten Babylon, dann Ninive, Antiochien, Seleucia, Cypern, Ephesus und Smyrna, Pergamon und Troja, Lesbos und Athen. Überall lehrte Apollonius die Tempelpriester und versuchte, die Rituale zu reinigen und den religiösen Bräuchen ihre Bedeutung und ihren Sinn wiederzugeben, denn diese waren durch die Herabwürdigung der Mysterien in bedauerlicher Weise mit verfallen und sogar zu Tieropfern erniedrigt worden. In Eleusis drängten sich die Menschen um Apollonius und unterließen die Riten, derentwegen sie zusammengekommen waren. Daraufhin "forderte er sie auf, sofort den religiösen Handlungen beizuwohnen, denn er selbst würde eingeweiht werden". Um ein Beispiel zu geben, bat er dann um Einweihung, das wurde aber mit der Begründung abgelehnt, daß er als "Zauberer und Scharlatan" bekannt sei. Apollonius erwiderte:
"Du hast mein Hauptvergehen noch nicht erwähnt, nämlich, daß ich von den Einweihungsriten mehr weiß als du; dessenungeachtet bin ich zu dir gekommen, um eingeweiht zu werden, als ob du weiser wärest als ich." Die Umstehenden stimmten diesen Worten zu, ... daraufhin änderte der Hierophant seinen Ton, da er sah, daß die Menge mit dem Ausschluß des Apollonius durchaus nicht einverstanden war, und er sagte: "Du sollst eingeweiht werden, denn du scheinst ein weiser Mann zu sein, der hierher gekommen ist." Aber Apollonius erwiderte: "Ich werde ein andermal zur Einweihung kommen, und es ist der und der" - er erwähnte einen Namen -, "der mich einweihen wird!"
Seine Prophezeiung erfüllte sich nach vier Jahren. Diese Episode zeigt, wie mangelhaft der Hierophant sein heiliges Amt ausübte. Die feierliche Handlung war so entwürdigt worden, daß das, was früher eine tiefgreifende Umwandlung gewesen war, nun für viele Kandidaten nicht mehr war, als ein nichtssagendes Sakrament; jedoch für einen Mann vom Format des Apollonius war es eine schwere Prüfung, der man sich nicht leichtfertig unterzieht.
Apollonius hatte seinen Judas in der Gestalt des Euphrates. Er war ein Ratgeber des Vespasian und ursprünglich von dem Weisen dem Kaiser empfohlen worden. Wegen der subtilen Art dieser Beziehung wird sie leicht übersehen. Sie ist aber ein entscheidender Bestandteil der Mysterien-Erzählung, ein notwendiges Element im Gleichgewicht der Naturkräfte. Euphrates war ein bestechlicher Schmeichler, der um seine Stellung beim Kaiser und die damit verbundenen Einkünfte bangte. Er tat alles Erdenkliche, um den Mann zu verderben, der seine Machenschaften leicht durchschauen konnte. Hätte er nur gewußt, daß seine Vorsichtsmaßnahmen nutzlos waren! Apollonius kannte die Rolle zu gut, die er notwendigerweise spielen mußte.
Als Euphrates von der Absicht des Apollonius erfuhr, die Gymnosophen zu besuchen, die am oberen Nil wohnten, schickte er einen Boten, der "diese nackten Weisen mit Argwohn gegen Apollonius erfüllte, damit sie, wenn er kam, ihn verspotten sollten." Das wurde jedenfalls Damis von einem der Gymnosophen berichtet. Die Angelegenheit wurde bald geklärt und der Tyaner willkommen geheißen. Sie sprachen jedoch abschätzig über die Weisheit des Pythagoras und der weisen Männer in Indien, und stellten ihre eigene Philosophie über alle anderen, worauf Apollonius ihnen darlegte, daß ihre Weisheit in Wahrheit aus den Quellen stammte, die sie herabsetzten, und er fügte hinzu: "Ich möchte nichts zu meiner Verteidigung sagen, denn ich bin damit zufrieden, was die Inder von mir halten, aber ich werde nicht erlauben, daß sie angegriffen werden."
Mit Domitian begann für die Philosophen eine Regierung des Schreckens, aber Apollonius "behauptete seinen Standpunkt dem Tyrannen gegenüber - was das Wohlergehen der Untertanen anbetraf - mit derselben geistigen Haltung und mit demselben Erfolg, wie er seinen Standpunkt Nero gegenüber vertreten hatte." Er konnte das Morgenrot einer besseren Zeit im kommenden Jahrhundert voraussehen, denn während eines öffentlichen Vortrages in Smyrna wandte er sich an eine Statue des Kaisers: "Du Narr, wie sehr irrst du dich über die Gesetze des Schicksals und der Notwendigkeit; denn wenn du auch den Mann töten würdest, der dazu bestimmt ist, nach dir Despot zu werden, er wird wiederkommen, um zu leben!" Euphrates sorgte dafür, daß Domitian von diesen Worten erfuhr. Ein Befehl wurde erlassen, Apollonius festzunehmen und zum Verhör nach Rom zu bringen. Da er die Vorladung erwartete, war er bereits auf dem Wege nach Rom, um dem Kaiser entgegenzutreten. Wenn man die späteren Ereignisse betrachtet, so fragt man sich, ob der Gefangene, der vor Domitian gebracht wurde, tatsächlich der leibhaftige Apollonius war, oder ob eine "Erscheinung"2 die Gefangenschaft und den Prozeß erlitt, während der Tyaner seine Arbeit anderswo verrichtete. Wie dem auch sei, der Weise, der sein Verhör erwartete, widmete sich den anderen Gefangenen, tröstete sie und sprach ihnen Mut zu. Bei einem seiner Besuche beklagte der treue Damis die Tatsache, daß sein geliebter Meister wie ein gemeiner Verbrecher gefesselt war, worauf Apollonius ruhig seinen Fuß aus dem Fußeisen zog, um seinem Schüler die Nutzlosigkeit der Fesseln zu zeigen.
Zuerst versuchte Domitian, Apollonius mit Hilfe von Spitzeln zu belastenden Aussagen über die Philosophen Nerva, Orphitus und Rufus zu überlisten. Jeder von ihnen konnte die Worte an die Statue in Smyrna gerichtet haben. Nerva war in Tarentum gefangen, die anderen beiden waren auf verschiedene Inseln verbannt. Da es Domitian nicht gelungen war, sie oder Apollonius zu belasten, beschuldigte er Apollonius der Zauberei; als es jedoch immer schwieriger wurde, das im voraus beschlossene Urteil zu rechtfertigen, sprach er den Weisen widerstrebend von allen Anschuldigungen frei, verlangte jedoch eine private Unterredung. Darauf entgegnete Apollonius: "Wenn du das willst, dann gewähre auch mir die Gelegenheit, zu sprechen; wenn nicht, dann schicke jemanden, um meinen Körper zu töten, denn meine Seele kannst du nicht nehmen. Nein, du kannst nicht einmal meinen Körper nehmen, "denn du kannst mich nicht erschlagen, da ich - wie ich dir sage - nicht sterblich bin" [Ilias 22,13]", und mit diesen Worten verschwand er aus dem Gerichtssaal." Philostratus meinte dazu: "Das war das Beste, was er unter diesen Umständen tun konnte, ..."
Philostratus glaubte an die Vorhersage des Apollonius, daß unter Nerva, dem nächsten Kaiser, ein kleines goldenes Zeitalter der Philosophie im Römischen Reich anbrechen werde - was auch tatsächlich der Fall war. Bei zahlreichen Gelegenheiten machte Apollonius tatsächlich überraschende Enthüllungen über zukünftige Ereignisse oder warnte vor kommenden Gefahren, wie z. B. vor einer Pest in Ephesus. Bei seinem Verhör gab er dem Kaiser dafür eine Teilerklärung in Worten, die der Kaiser verstehen konnte: "Ich nehme, oh mein Herrscher, eine leichtere Nahrung als andere, und so war ich der erste, der die Gefahr spürte, und wenn du willst, werde ich die Ursachen für Seuchen aufzählen." Domitian unterbrach ihn sofort, weil er wahrscheinlich fürchtete, daß Apollonius etwas vorbringen könnte, was sein Gewissen belastete.
Nach seiner Freilassung reiste Apollonius nach Lebadea, zum Orakel des Trophonius, einem der heiligsten und am strengsten gehüteten Mysterienzentren. Vor der allgemeinen Neugier wurde das Orakel durch eine Mischung aus Ehrfurcht und Aberglauben geschützt. Man glaubte, es würde von Schlangen bewacht, die mit Honigkuchen beschwichtigt werden müssen - was beides bekannte Ausdrücke in der Sprache der Symbole sind. Pausanias gibt einen ausführlichen Bericht vom Bau eines vierten (steinernen) Tempels in einer Reihe von fünf Tempeln durch Trophonius und seinen Bruder Agamedes, in Worten, die keinen Zweifel an der esoterischen Bedeutung jeder Einzelheit zulassen. In der Erzählung sind derartige schwer verständliche Lehren eingeschlossen, wie die charakteristischen Merkmale, die die aufeinanderfolgenden Menschheitswogen kennzeichnen; anerkannte Symbole, die die Heilkunst betreffen; Unterweisungen in den Mysterien und dem Verwandlungsprozeß, der Erinnerung und Vergessen einschließt. Auch hier wurde Apollonius zuerst der Zutritt verweigert, bis Trophonius "zu den Priestern kam und ihnen nicht nur Vorwürfe machte, weil sie Apollonius so schlecht empfangen hatten; er gab ihnen auch die Anweisung, nach Aulis zu gehen, denn er meinte, Apollonius würde dort in ganz wunderbarer Weise wieder erscheinen, wie noch kein Mensch bisher." Als Apollonius tatsächlich sieben Tage später am vorausgesagten Ort erschien, bereichert durch seine Erfahrung in den heiligen Höhlen, brachte er die greifbare Antwort des Orakels auf sein Suchen nach der Wahrheit mit - ein Buch, das die Lehren des Pythagoras enthielt. Nach den Aufzeichnungen des Philostratus wurden dieses Buch und die Briefe des Weisen in Hadrians Palast aufbewahrt.
Es muß den Betrachter seltsam berühren, daß zwei spirituelle Lehrer, die nach der Überlieferung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gelebt haben, so verschieden betrachtet wurden: Der eine, der christliche Avatâra, von dem persönlich nichts bekannt ist, über den überhaupt keine unmittelbaren zeitgenössischen Erwähnungen bestehen und für dessen körperliche Inkarnation kein Beweis vorhanden ist, hat einen Einfluß ausgeübt, der noch bis in unsere Zeit anhält; der andere, Apollonius - eine bekannte Persönlichkeit -, der wegen seiner Reinheit und Weisheit verehrt wurde, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod dokumentarisch belegt ist und der in seinem Leben Kaiser und Könige, Priester und Philosophen und die einfachen Leute in allen Ländern rings um das Mittelmeer gelehrt und zum Guten beeinflußt hat, bleibt eine schattenhafte Gestalt, die hauptsächlich den Gelehrten und Historikern bekannt ist. Doch beide teilen die Ehre, als Kanal für die Inspiration und die universale Weisheit zu dienen, die stets bereits ist, die Gedanken der Menschen zu durchdringen und aus der Quelle der Wahrheit jene edlen Impulse weiterzugeben, die dem evolutionären Fortschritt der menschlichen Rasse weiterhelfen können. Es besteht kein Zweifel, daß ohne diesen erhebenden Einfluß ihr eigenes Zeitalter und die darauffolgenden Jahrhunderte viel grausamer gewesen wären, als sie es im abwärtsgerichteten Zyklus, der unvermeidbar kommen mußte, tatsächlich waren. Die Inspiration ihres Lebens und aller ähnlichen spirituellen Lichtbringer, die bestrebt sind, die Menschheit aus der Erstarrung des Materialismus wachzurütteln, stammt aus derselben Proteus-Quelle, die die tieferen Bereiche des edelsten menschlichen Denkens durchdringt.
Bibliographie:
Blavatsky, H. P., Isis Unveiled / Die entschleierte Isis, 1877; Theosophical University Press, Pasadena, Neue Auflage.
Lincoln Library of Essential Information, The Frontier Press Company, Buffalo, 1963.
Mead, G. R. S., Apollonius of Tyana, the Philosopher-Reformer of the First Century, A. D., Theosophical Publishing Society, London and Benares, 1901.
Philostratus, Flavius, The Life of Apollonius of Tyana, übersetzt von F. C. Conybeare, 2 Bände, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1969.
Shiletto, A. R. (Übersetzer), Pausanias' Description of Greece, 2 Bde., George Bell and Sons, London, 1904.
Tredwell, Daniel M., A Sketch of the Life of Apollonius of Tyana, Frederic Tredwell, New York, 1886.