Krishna – Logos und höheres Selbst
- Sunrise 2/1981
Vor mehreren tausend Jahren wurden die Verse der Bhagavad Gîtâ in Indiens große epische Dichtung das Mahâbhârata eingefügt, um abermals auf den zeitlosen Pfad der Selbstentfaltung aufmerksam zu machen. Die Episode ereignet sich während eines großen Krieges. Die feindlichen Heere stehen bereit zur Schlacht auf der Ebene der Kurus, und Arjuna - der Mensch - in seinem Kampfwagen zwischen den beiden Heeren ist nicht in der Lage, seine Truppen in den Kampf zu führen, weil seine Verwandten und Freunde auf beiden Seiten gewiß umkommen werden. In Wirklichkeit ist der Kampfplatz der Mensch selbst, der die Möglichkeit hat, sich von seinen materiellen Lebensgewohnheiten abzuwenden und den Weg der Erleuchtung zu gehen. In diesem entscheidenden Augenblick spricht Krishna, sein höchstes Selbst, mit Arjuna über den Zustand des menschlichen und des göttlichen Daseins.
In den Gesprächen, aus denen die achtzehn Kapitel der Gîtâ bestehen, werden die verschiedenen Methoden der Schulung (Yoga) und Philosophie von Krishna diskutiert, und es wird gezeigt, daß schließlich alle den Schüler zu ihm, dem höchsten spirituellen Wesen, führen. Dann wird die eine umfassende Methode entwickelt, ein Weg des Verhaltens, der der Menschheit zur Annahme empfohlen wird - vollkommene Kontrolle über sich selbst zu erlangen. Und schließlich zeigt er in einem Gespräch über die Eigenschaften von Geist und Materie - Purusha und Prakriti -, wie alle Dinge ins Dasein kamen; Karma wird in Übereinstimmung mit den Eigenschaften der mentalen, moralischen und gefühlsmäßigen menschlichen Natur erzeugt. Auf diese Weise führt Krishna Arjuna dazu, den wirklichen Zustand des Seins zu erkennen.
Über diese Schrift gibt es fast unzählige Abhandlungen, die ihre Bedeutungen von jedem Gesichtspunkt aus betrachten; doch die Notes on the Bhagavad Gita (Anmerkungen zur Bhagavad Gita) von T. Subba Row1 bieten eine besonders wertvolle Auslegung. Das Buch basiert auf einer Reihe von Vorträgen, die in den Jahren 1885-1886 gehalten wurden, und beschäftigt sich eingehend sowohl mit dem Wesen Krishnas und seiner Stellung im Plan der kosmischen Schöpfung, als auch mit seiner Relation zur endlichen Rettung des Menschen. Der Verfasser weist darauf hin, daß die grundlegende Philosophie hinter den Worten der verschiedenen Gespräche nicht direkt erwähnt wird, und bespricht nur die eigentliche Lehre, indem er die wirkliche kosmische Beziehung zwischen Arjuna und dem Avatâra Krishna darlegt. Dabei bringt er die Gîtâ mit den gesamten vedischen Schriften in Verbindung und sagt:
Das Hauptziel der Bhagavad Gita - eine der wichtigsten Quellen der Hindu-Philosophie - ist, die im Kosmos wirkenden höheren Prinzipien zu erklären, die allgegenwärtig und ewig und allen Sonnensystemen gemeinsam sind.
Das Hauptziel der Upanishaden ist, auf die Beschaffenheit dieses manifestierten Kosmos hinzuweisen, und welche Gesetze und Kräfte darin wirken.
In den Brahmasutras wird außerdem versucht, eine klare und folgerichtige Theorie über die Zusammensetzung des Geschöpfes, das wir Mensch nennen, zu geben, welche Verbindung zwischen der Seele und den drei Upadhis besteht, was diese sind und welche Verbindung einerseits mit der Seele und andererseits untereinander vorhanden ist. Diese Bücher sind jedoch nicht nur diesen Themen gewidmet. Jedes Buch beschäftigt sich vielmehr in erster Linie mit einem dieser Themen, und nur wenn man alle drei zusammen betrachtet, kommt man zu einer folgerichtigen Theorie der gesamten Vedanta-Philosophie.
- S. 108-109
Es ist nicht möglich, auf sämtliche Verzweigungen der Lehre einzugehen, die in diesen Vorträgen vorgebracht werden. Man kann nur darauf hinweisen, daß der Hauptbeitrag in der klaren Beschreibung Krishnas als kosmische Gestalt besteht. Da der Verfasser, ein geborener Brahmane, zu einer überwiegend indischen Zuhörerschaft spricht, verwendet er in diesen Vorträgen viele Ausdrücke aus ihrer religiösen Philosophie, ohne weitere Erklärungen dazu zu geben. Wenn der Schüler jedoch den wunderbaren Gedanken, die vor ihm ausgebreitet werden, sorgfältig folgt, wird er eine logische Lehre vorfinden, die tief und allumfassend ist. Die Ausführung beginnt mit einer Betrachtung der ersten kosmischen Entfaltung. Um unser Denken den Hinduvorstellungen anpassen zu können, müssen wir uns sämtliche Erscheinungen als eine Form des Bewußtseins vorstellen. Bewußtsein und Selbst sind überall vorhanden. Wenn wir einen bestimmten Kosmos als Ausdruck des Kosmischen Wesens (Brahman) erkennen, in der gleichen Weise wie der menschliche Körper sein eigenes Spiegelbild ist, dann können wir daraus schließen, daß die Gesamtheit von allem Bestehenden, das außerhalb dieses speziellen Kosmos oder Brahmans ist, "jenseits von Brahman" oder Parabrahman genannt werden kann. Aus der Grenzenlosigkeit von Parabrahman treten die unzähligen Brahmans oder Welten ins Dasein, um ihr Leben in bestimmten zyklischen Zeitabschnitten zu leben und dann wieder zu verschwinden. Subba Row stellt fest, daß Brahman oder der Logos das unaussprechliche Parabrahman durch seine Erscheinung oder durch den Schleier der ursprünglichen Substanz erkennen kann - "die ungeheure Ausdehnung der kosmischen Materie", die vor oder über ihm ausgebreitet ist. Diese ursprüngliche oder "Wurzel-Materie" wird Mûlaprakriti genannt.
Am Anfang der Zeit war der Logos oder das Selbst der erste individualisierte Brennpunkt in Parabrahman. Dieser Logos hatte in Parabrahman in latentem Zustand existiert, ungeboren und ewig, so ähnlich wie die selbstbewußte Egoität des Menschen ruht, während er schläft. Als dann das Wort ertönte, wurde der Logos ein "Zentrum bewußter Energie" - der Logos erschien als das erste "Ego im Kosmos". In allen Manifestationen ist jedes weitere Ego und Selbst nur sein Abbild. Subba Row drückt es folgendermaßen aus: "... das Licht [des Logos] kommt herab, wird reflektiert und wieder reflektiert, bis zur Ebene der niedersten Organismen" (S. 91).
Krishna, als der Logos oder das Wort, sendet sein göttliches Licht, Daivîprakriti, aus und seine Kraft oder Bewegung, Fohat; und der Kosmos breitet sich dann abwärts durch die verschiedenen Ebenen aus; so, wie Stoff in die richtige Form gegossen und geformt wird, spiegeln sich das Ego und das Selbst in jedem Stück und Teil. Weiterhin wird erklärt, daß das "Universum als Idee im Logos vorhanden ist; es existiert als unerklärliche Einwirkung im Bereich der Kraft [Fohat] und wird dann, wenn diese Kraft ihr eigenes Bild oder ihren Impuls auf die kosmische Materie überträgt, in den objektiv in Erscheinung getretenen Kosmos umgewandelt" (S. 93). Hier wird das ganze Pantheon der Götter lebendig und tätig, einige als Architekten, andere als Baumeister, um den riesigen Tempel der universellen Erscheinungen zu erschaffen.
In der Bhagavad Gîtâ spricht Krishna:
Obgleich ich selbst ungeboren bin, der Veränderung nicht unterworfen und der Herr von allem, was existiert, so werde ich doch zufolge meiner Vorherrschaft über der Natur - die mein ist -, durch meine eigene Mâyâ [Illusion], die mystische Kraft der Selbst-Ideenbildung, durch den ewigen Gedanken im ewigen Geist geboren. Immer dann, wenn ein Verfall der Tugend und ein Überhandnehmen des Lasters und der Ungerechtigkeit in der Welt stattfinden, verkörpere ich mich unter den Geschöpfen, O, Sohn Bharatas. Auf diese Weise trete ich ins Dasein, von Zeitalter zu Zeitalter, um die Gerechten zu bewahren, die Bösen zu Fall zu bringen und der Rechtschaffenheit Geltung zu verschaffen.
- 4. Kapitel
Hier bezieht er sich auf seine Tätigkeit als Avatâra, ein Wort, das "heruntersteigen" oder "herabkommen" bedeutet - also das Herniedersteigen des Logos. Subba Row bespricht diesen Punkt ausführlich und beschreibt die beiden Wege, mit dem Logos erfüllt zu werden: Es sind einzelne Menschen, die ihr Bewußtsein kraft ihres spirituellen Vermögens auf die zum Logos gehörende Daseinsebene emporheben, und solche, die ein Vehikel für den Logos werden, indem dieser in sie hinabsteigt. Zum ersten Beispiel gehören Menschen wie Buddha und Lao-Tse, zum zweiten gehören Krishna, Christus und Sankarâchârya.
Es ist interessant zu beobachten, daß der Verfasser, da er Brahmane ist, seine Philosophie nicht über einen bestimmten Punkt hinaus öffentlich darlegen will, und da er sich weigert, über bestimmte Seiten der Lehre zu sprechen, fragt sich der Leser, wie er die Lücken ausfüllen soll. Wenn er über die Manifestation des Logos als Avatâra spricht, so erklärt er zum Beispiel nicht, daß es für den Logos unmöglich ist, sich in dieser materiellen Welt unmittelbar durch das göttliche Licht, das von ihm ausstrahlt, zu verkörpern, es sei denn, er hat einen Vermittler, durch den er wirken kann. Die tiefgründige Philosophie, die der Verfasser bereits dargeboten hat, macht sein Versäumnis, hierüber nicht zu sprechen, zu einer wohlüberlegten Unterlassung. Mehr als einmal verweist er auf Die Geheimlehre, die damals von H. P. Blavatsky geschrieben wurde, und sagt, daß sie Erklärungen enthalte, die er mit Gewißheit nicht geben wollte. Später, als er die Manuskripte ihres Werkes durchsah, war er dagegen, daß so viel von der zu jener Zeit unbekannten oder geheimen Weisheit aller Zeiten veröffentlicht werden sollte. In der Tat brachte er in diesen Vorträgen deutlich zum Ausdruck, daß nach seiner Meinung bestimmte Lehren nur bei der Einweihung mitgeteilt werden und daß die Beziehung zwischen Arjuna und Krishna eine Initiation ist. Er berichtet, daß derartige heilige Riten den "Zweck haben, den Menschen eine klare Vorstellung vom Logos [Krishna] zu geben, auf das Ziel hinzuweisen und die Regeln festzulegen, durch die es möglich ist, das Ziel leichter zu erreichen, auf das die Natur beständig hinarbeitet" (S. 48). Jetzt, nach hundert Jahren, sind diese Weisheitslehren in großen Zügen veröffentlicht, hauptsächlich durch die Bemühungen von Frau Blavatsky.
Subba Row erläutert viele schwer verständliche Aspekte der Avatâra-Lehre, woraus sein tiefes Verständnis ersichtlich wird. Er spricht von den Prajâpati, den Vätern der verschiedenen Lebensreiche, die sich auf der Erde in den zyklischen Anfängen der Zeit verkörperten; von Manu, Wurzel und Same dieser Lebenswogen; von den Mânasaputras, den Wesenheiten, die für das Erwachen des menschlichen Geistes verantwortlich sind und von anderen Dingen, die viel zu zahlreich sind, um sie hier anzuführen. Er äußert sich auch eingehend über die innere Beziehung von Krishna oder dem Logos zum einzelnen Menschen und zu den verschiedenen egoischen Zentren der menschlichen Konstitution.
In den Notes on the Bhagavad Gita werden auch die mehr praktischen Lehren nicht außer acht gelassen. Der Verfasser geht kurz auf die verschiedenen Yogasysteme ein und weist auf Krishnas Aussage gegenüber Arjuna hin, daß "in welcher Weise die Menschen sich mir auch nähern, in der gleichen Weise stehe ich ihnen bei; aber welchen Pfad die Menschheit auch immer wählt, dieser Pfad ist mein Pfad" (Kap. 4). In dieser Hinsicht sind seine Ausführungen über strenge Askese von großer Bedeutung, denn die Lehren der Gîtâ sind gewiß nicht nur für einige wenige Schüler nützlich. Es stimmt, die meisten Menschen sind nicht in der Lage, ihre Pflichten als Bürger und Familienangehörige aufzugeben, aber Subba Row sagt, daß Krishna
eindeutig festlegt, daß diese Pflichten, auch wenn sie mit einem asketischen Leben im Walde nicht vereinbar sind, doch zweifellos mit der geistigen Selbstverleugnung übereinstimmen, die weit wirksamer ist und Ergebnisse auf höheren Ebenen erzielt, als es durch eine physische Isolation von der Welt möglich ist. Denn, wenn auch der Körper des Asketen im dichten Wald sein mag, so können seine Gedanken doch dabei in der Welt verweilen. ... Jedermann, der Pflichten zu erfüllen hat, muß ihnen seine Gedanken widmen. ... Es ist völlig klar, daß es in der Macht des Menschen liegt, ob er in der Entwicklung seiner höheren Fähigkeiten entscheidende Fortschritte macht, während an seiner Lebensweise nichts zu bemerken ist, das ihn von seinen Gefährten unterscheidet. ... Das ist die sittliche Lehre, die durch die gesamte Bhagavad Gita hindurchzieht.
- S. 5-6
Die Natur arbeitet auf praktische und natürliche Weise, und so muß auch das sich entfaltende menschliche Leben in dem von der Natur gegebenen karmischen Milieu stattfinden. Jeder ist ein Ausdruck des Logos, und doch existiert in ihm sein eigener Krishna, der er selbst ist. Das ist sein eigentlicher Erlöser, und er muß lernen, diesem Licht zu folgen.
Fußnoten
1. Neue Auflage bei Theosophical University Press, Pasadena, 1978; gebunden DM 15,-; kartoniert DM 9,-. [back]