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Auf den Schwingen der Imagination

Ich ruhe nicht aus von meiner großen Aufgabe,

Zu öffnen die ewigen Welten, zu öffnen die unsterblichen Augen

Der Menschen für die inneren Welten des Denkens, in alle Ewigkeit

Die menschliche Imagination im Busen Gottes erweiternd.

- William Blake, Jerusalem

 

 

 

Vor langer Zeit wurde in der frühen Menschheit die Eigenschaft des Denkens erweckt und damit die Tür zur Selbsterkennung und zur Wahrnehmung von Raum und Zeit geöffnet. Die Fähigkeit, bestimmte Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Wesenheiten zu erkennen, die die Erde bewohnen, war eine Sternstunde im Leben der Menschheit. Im Alten Testament kommt das symbolhaft an der Stelle zum Ausdruck, wo Adam die Pflanzen und Tiere mit Namen bezeichnet, denn die Menschen waren die erste Art irdischer Wesen, die das Charakteristische an jeder einzelnen Gattung und Art bemerkten. Dies war der Anlaß, daß die menschliche Sprache entstand, die sich ganz und gar von den ohne Überlegung oder Denkvorgang hervorgebrachten Lauten, die von den nicht-selbstbewußten Tieren ausgestoßen werden, unterscheidet, denn unsere menschliche Sprache setzt sich aus Vokalen und Konsonanten zusammen. Unsere Sprache ist meßbar, ein Zeichen der unterscheidenden Intelligenz als beherrschendes Element.1 Gedanken müssen den Worten vorausgegangen sein, die dazu zwangen, Worte zu schaffen, um diese Gedanken ausdrücken zu können.

Alte Lehren besagen, daß die potentiell vorhanden gewesene Fähigkeit zu denken in der frühen Menschheit durch Wesen entfacht wurde, die bereits entwickelte spirituell-mentale Eigenschaften besaßen, Wesen, die in einer vorhergegangenen planetarischen Lebensperiode hochentwickelte Menschen waren. Vielleicht sollten wir unsere Vorstellung in bezug auf den Verstand über den Aspekt des Begreifens hinaus - der heute so hoch geschätzt wird - erweitern, weil er sehr viel mehr mit einschließt - wie zum Beispiel den Teil, der die Quelle der Intuition ist. Eine weitere Eigenschaft, die wir besitzen, die mit unserer schöpferischen Fähigkeit eng verbunden ist, hängt ebenfalls damit zusammen.

Unsere Imagination oder Vorstellungskraft ist eine natürliche Gabe, die sich einer genauen Definition entzieht, denn ihre Eigenschaften sind offenkundig immateriell. Mit ihrer Hilfe können wir vielerlei Dinge und Wesen erdenken und gestalten. Charles Darwin schreibt in The Descent of Man (Die Abstammung des Menschen): "Die Imagination ist eines der höchsten Vorrechte des Menschen; durch diese Fähigkeit verknüpft er unabhängig vom Willen frühere Bilder und Vorstellungen, woraus hervorragende und überraschende Ergebnisse erzeugt werden."2 Die mittelalterlichen Mystiker Hugh und Richard aus dem St. Victor-Kloster in Paris, bezeichneten "Imagination, Vernunft und Intellekt" als verschiedenartige Seiten unserer inneren Natur, wobei sie vielleicht die dreifache Paulinische Einteilung des Menschen in ein Wesen aus Geist, Seele und Körper zugrunde legten.

Man kann eine langsame Weiterentwicklung der westlichen Ansicht über die Imagination feststellen. So schrieb zum Beispiel Iamblichus, der Ende des dritten und anfangs des vierten Jahrhunderts n. Chr. lebte: "Imagination ist der gesamten Natur und Schöpfung überlegen. Durch sie sind wir imstande über die weltliche Ordnung hinauszugehen und am ewigen Leben und an der Kraft des Überhimmlischen teilzuhaben. Durch dieses Prinzip werden wir daher einmal von den Banden des Schicksals befreit sein." Ein Kommentator interpretiert Iamblichus so, daß wir durch den "Kontakt" mit Inspiration und Einsicht das "'Schicksal' unseres Charakters überwinden können, indem wir uns durch die Probleme und Begrenzungen der Persönlichkeit hindurcharbeiten." Die Imagination kann in der Tat unsere Seelen weitgehendst formen und beeinflussen, zumindest hat uns eine Autorin, die diese innere Schau hat, ermutigt zu "schauen", weil wir dadurch "in unserer Vorstellungskraft ein Bild von großartigen Dingen erzeugen", wodurch sich in uns "ein Tor zu neuen Kräften" öffnet.3 Dieser Aspekt der Imagination wird als zweifach beschrieben. Er kann in seiner niederen Erscheinungsform so stark zerstörend wirken, wie er in seiner höheren Phase schöpferisch sein kann. Mit anderen Worten, wir werden zu dem, was wir uns vorstellen.

In der heutigen Zeit hat das Wort Imagination verschiedene Bedeutungen angenommen, die gewöhnlich auf die Literatur und andere Künste beschränkt sind. Man war zum Beispiel der Meinung, durch sie könne ein Schauplatz, die "Atmosphäre" oder der Hintergrund und die Symbolik in einer eindrucksvollen Dichtung oder in einem Kunstwerk dargestellt werden. Das heißt, sie wurde so behandelt als käme sie einer Einbildung oder phantasievollen Darstellung gleich. Allmählich hat sich jedoch die Bedeutung der Begriffe grundlegend geändert. Zwei Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert, die viel zur Erweiterung der Unterscheidung beigetragen haben, waren Wordsworth und Coleridge. Beide empfanden, daß das Schreiben eines Gedichtes strenggenommen kein intellektueller Vorgang sei. Als Coleridge anfing, sich mit Wordsworths Ansicht zu befassen, daß die Imagination ein "Element des inneren Selbst der Natur" sei, setzte er sie einer schöpferischen Kraft gleich, als die bedeutendste Gabe, mit der Erfahrungen in bildliche Darstellungen umgesetzt werden. Die Imagination nimmt die Gestalt oder Form und die Anordnung wahr, wobei verschiedenartige und selbst entgegengesetzte Elemente der Empfindung, der Vision und des Denkens benützt werden, um daraus ein einheitliches Ganzes zu erzielen. Mit anderen Worten, sie verschmilzt und assimiliert die täglichen Erfahrungen in eine größere Einheit. Während Carlyle meinte, Imagination stünde auf der Skala unter dem Intellekt, betrachtete Coleridge sie als "das Organ des Göttlichen". Andererseits sah er in der Phantasie lediglich die Fähigkeit, Dinge und Ereignisse zu kombinieren. Wordsworth brachte die "höhere Dichtkunst" mit der "Weisheit des Herzens" und der "Größe der Imagination" in Verbindung. Er war auch der Ansicht, daß "wo immer diese Dinge in Erscheinung treten, es einfach ganz natürlich geschieht".

Shelley befaßt sich ebenfalls ausführlich mit diesem Thema. Als Platoniker stellt er den Verstand auf eine niedrigere Ebene als die anderen Aspekte der geistigen Fähigkeiten. Der Verstand besitzt ein Führungsprinzip, die Imagination, die er sich als einen "Thron vorstellt, der sich in der unsichtbaren Natur des Menschen befindet". Ferner deutet er an, es bestehe eine

göttliche Ordnung, Wahrheit und Schönheit in der immateriellen Welt der Ideen, eine Welt, zu der der schöpferische oder dichterische Geist gelegentlich Zugang hat. Im Lichte der Mitteilungen aus dieser Welt - Intuitionen [müssen wir sie nennen] - werden dem schöpferischen Geist in seiner Wahrnehmung bildhafte Vorstellung und die Beziehungen zu den tatsächlichen Erfahrungen aufgedrängt, was dazu beiträgt, das Tatsächliche in ein Abbild des Göttlichen umzuformen.4

Nach der Erkenntnis Shelleys benötigt die Welt nicht noch mehr Tatsachen, sondern am meisten die schöpferische Imagination. Er analysiert die schlimme Lage unserer materialistischen Zivilisation, die nur auf wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Wissen begründet ist und sich nur hierauf erstreckt. Für ihn, wie auch für Plato, wird die wirkliche Welt durch die Welt der materiellen Phase des Lebens, die nur eine Widerspiegelung oder ein "Schatten" der ersteren ist, teils verdunkelt und teils enthüllt. Während der Augenblicke, in denen wir uns erleuchtet fühlen, werden wir uns des "Herzens der Dinge" bewußt. Das bedeutet, daß wir die Gegenwart der ewigen Lebensessenz spüren, von der alle kurzfristigen Erscheinungen und die Routinen unseres täglichen Lebens nur Symbole sind. Deshalb scheint sich der Dichter ständig in einem Zustand der Verwunderung über die feineren Aspekte des Lebens zu befinden - er ist empfindsam für die unsichtbare Wirklichkeit.

Man hat Shelley vorgeworfen, er sei nicht lebensnah; aber er sah die Grausamkeit, die Ungerechtigkeit und den Egoismus, die nicht nur in seiner Welt herrschten, sondern auch in unserer Welt festgestellt werden können! Seine Diagnose für die Grundursache allen Leides und der Unmenschlichkeit war der Wunsch nach Glück, den wir alle haben, und unsere Ratlosigkeit, wo wir dieses Glück suchen sollen. "Der Verstand führt nirgendwohin, außer zu Sinnlosigkeit, wenn er nicht von Imagination geleitet wird. Wir erlangen Kenntnisse, materielle Dinge und gebieten über die Naturkräfte. Das alles ist für sich allein jedoch nichts, wenn wir sie nicht, angeregt durch die Intuition aus dem Göttlichen [Element in uns], mit unserer Imagination für eine freiere und weniger egoistische gesellschaftliche Ordnung gebrauchen." Professor Carl Grabo schreibt in seinem Kommentar: "Dies ist nicht die Analyse und Lehre eines Visionärs, sondern Realismus nüchternster Art. Es ist inspirierter Menschenverstand. Nicht Shelley ist ein Phantast und Verrückter, sondern die Welt der "praktischen" Menschen."5

Wenn die Imagination die Kraft des Erfindens oder die Einmaligkeit in sich birgt, wie kann sie dann auf die Nachahmung und die Arbeit eines Handwerkers angewendet werden? In einer einfachen, diese Dinge überblickenden Übersetzung eines Lehrspruchs von Ptah-hotep, einem hohen Regierungsbeamten im alten Ägypten, der die Weisheit des Alters besaß, kommt dies wie folgt zum Ausdruck: "Der Gipfel der Schöpfungskraft eines Künstlers wird nie erreicht. Der Handwerker kann nie Perfektion erreichen." So wie die volle Blüte der künstlerischen Inspiration nicht so vollständig wiedergegeben werden kann, wie sie in der Imagination existiert, so kann die Fertigkeit eines Künstlers kein absolut vollkommenes Werk schaffen. Philostratus berichtet, daß Apollonius von Tyana in einer Diskussion mit Thespesion über die großartigen griechischen von Pheidias und Praxiteles geschaffenen Götterstatuen sagte, daß diese Künstler bei der Darstellung der Götter nicht nur ihrer Imagination oder ihrer Phantasie folgten, wie Thespesion meinte, sondern vielmehr "Einen Einfluß erfahren haben, der mit Weisheit und Genialität erfüllt war, ... die Imagination schuf diese Werke, ein viel weiserer und feinerer Künstler als die Imitation; denn die Imitation kann nur als ihre eigene Schöpfung das schaffen, was sie gesehen hat; aber die Imagination auch das, was sie nicht gesehen hat, denn sie stellt sich das Ideal mit Bezugnahme auf die Wirklichkeit vor, und während die Imitation oft durch schreckliche Angst [oder Ehrfurcht] aus dem Konzept gebracht wird, bleibt die Imagination unbeeinflußt und kann so auf das Ziel zugehen, das sie sich selbst gesetzt hat."6 Der griechische platonische Philosoph Longinus sagt, daß "die Imagination oft die Grenzen des Raumes übersteigt, so daß wir, wenn wir unser Leben von allen Seiten betrachten, sehen, wie Größe, Schönheit und Vortrefflichkeit überall Vorrecht haben und sofort das Ziel erkennen, für welches wir geschaffen wurden."7

Wir wenden uns jetzt einem anderen Dichter-Künstler des neunzehnten Jahrhunderts zu, der dem Begriff Imagination eine neue und umfassendere Bedeutung verlieh. William Blake war ein Mystiker, der sich größtenteils autodidaktisch gebildet hat und sowohl in den graphischen Künsten wie auch in der Dichtkunst gleichermaßen begabt war. Er war in den Gedankenstrom eingetreten - der in den Sumpf der finsteren Jahrhunderte Europas hineingeflossen war -, der von Plato, den Neuplatonikern und einigen Mystikern ausging, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in dieses lebenspendende Wasser eingetaucht waren. Durch das Dunkel des zeitgenössischen Dogmas und der Unwissenheit entdeckte Blake das Glimmen des geistigen Lichts, das aus einer sehr alten Weisheitstradition kam. Indem er aus seinen verschiedenen Quellen Begriffe über die Beseelung des Universums und über die zusammengesetzte Natur des Menschen entnahm, schuf er seine eigene Sprache, in der vielleicht der wichtigste Begriff die Imagination ist, den er ganz unterschiedlich anwandte.

Blake stellte sich die Menschen als geistige Wesen vor, die vor langen Zeiten und sich ihrer wahren Identität unbewußt, in die rauchigen Feuer des materiellen Lebens gezogen worden waren. Die "vom Himmel gefallenen" Seelen oder ihr Zustand der jungfräulichen Reinheit bleiben "rauch"-gebunden, gefangen vom falschen Glanz der auf der physischen Ebene des irdischen Seins angebotenen Vergnügungen. Ihr Appetit auf Besitz und auf die Freuden, die das Ego und seine niedere Natur ernähren, wächst, während jede Befriedigung schal wird. Jede Steigerung bringt nur weitere Betäubung mit sich.

Würden die Tore der Wahrnehmung gereinigt,

würde dem Menschen alles erscheinen, wie es ist, unendlich.

Denn der Mensch hat sich selbst eingeschlossen, bis er alle

Dinge durch schmale Ritzen seiner Gruft erkennt.8

Der einzige Erlöser ist die Imagination, die, wie er es ausdrückt, in Wirklichkeit die schöpferische Seele des Universums ist. In seinen Schriften, Illustrationen, Zeichnungen und Stichen stellt er die Imagination den trockenen mechanischen Aspekten des Verstandes gegenüber. Die Mythologie, die er erfand, symbolisiert diesen Prozeß. So warnt er zum Beispiel mit den "satanischen Mühlen" vor den schlimmsten Merkmalen der industriellen Revolution: Den Abstieg der menschlichen Wesen von spirituellen Individuen in rein materielle Geschöpfe, die wie Zahnräder das Räderwerk der Maschinen in Bewegung halten. Die Namen des englischen Wissenschaftlers Newton und des Philosophen Locke vertreten in seiner Dichtung die vernunftbegabten Elemente in der menschlichen Natur. Sie symbolisieren die übermäßige Abhängigkeit vom mechanischen Teil des Denkens - jenes Teiles, der nur den "Computer" oder das Gehirn in Bewegung setzt, und nicht das höhere Element, das ihn programmiert. Sein Standpunkt ist, daß dies auf Kosten der edleren Eigenschaften des menschlichen Wesens erfolgt. Der Schöpfer der physischen Welt, der "Arbeiter", könnte nur ein maschinenähnliches Universum herstellen, das nur ein Schattenbild des weit erhabeneren Reiches darstellt, in dem die wahrhaft schöpferischen Aspekte des Göttlichen in größerem Maße zum Tragen kommen.

Wir Menschen sind nur die Abbilder der spirituellen Wesen, die wir in den Anfängen der Welt waren und eigentlich sind wir das noch heute, obgleich wir diese Tatsache nicht erkennen können. Da wir uns jedoch einen Schimmer unserer wahren Natur bewahrt haben und dem Ideal zustreben und uns zu ihm erheben, werden wir wieder der Logos, von dem wir wesentliche Teile waren (und noch sind!). Dieser Logos, die Göttliche Vernunft der griechischen Philosophen und der Gnostiker, das "Wort" des Neuen Testaments, nannte Blake "Jesus, die Imagination". Dieser Ausdruck bezieht sich nicht auf die Persönlichkeit vor 2000 Jahren, sondern auf die universale "Göttliche Menschheit", von der die irdische Menschheit ein unvollkommenes Vehikel ist. Ein indisches Symbol dieser "Göttlichen Menschheit" ist der Banyan-Baum, bei dem unsere irdische Menschheit die Ableger bildet, die in dem kosmischen Boden schließlich Wurzeln schlagen, um ihrerseits Stämme für ein neues Wachstum zu werden.

Heute gibt es mehr Literatur über die gnostischen Gemeinschaften als zur Zeit Blakes. In ihr würde er Hinweise gefunden haben, die die Bedeutung seiner Vorstellung abgerundet und erweitert hätte. Er hätte gefunden, daß die Menschen am Anfang reine und durchsichtige Essenzen der Gottheit waren - unter Hinzufügung des Schlüsselwortes: nicht-selbstbewußt. Für die Tibeter ist der Funken dieser Essenz im Herzen aller Wesen das "Juwel im Lotos". Die Lebensprozesse tragen dazu bei, das Juwel zu schleifen, bis die potentiellen inneren Eigenschaften voll zum Bewußtsein gelangt sind. Dann wird die Menschheit für die nächste Phase der Evolution oder für die Entfaltung von latenten Fähigkeiten bereit sein - für eine weitere Stufe des Seelenwachstums, denn die Körper sind nur die Hüllen, die es ermöglichen, die innewohnenden Eigenschaften, die bis jetzt noch nicht zum Ausdruck kamen, hervorzubringen.

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Bildtext: Der Baum der Seele – Diese Zeichnung eines Baumes beschreibt das Wachstum der Seele. Das Licht entsteigt dem Bewußtsein, dringt in die "dunkle Welt" des Unbewußten ein, in dem der Baum der inneren Entwicklung des Menschen verwurzelt ist. Es durchläuft die "Feuerwelt" des Leids und der Erfahrung und taucht in das Licht des göttlichen Bewußtseins ein. Die Illustration stammt von Rev. William Law (1686-1761), einem Übersetzer und Anhänger von Jakob Böhme. Die Werke beider Männer haben Blake stark beeinflußt.

Blake spürte die ungeheure Verantwortung des Künstlers, wenn er durch Worte oder graphisch für die Menschen zwischen den materiellen und den subtileren Reichen des Geistes vermittelt. Er zitierte gern Shakespeares Vision:

Des Dichters Aug, in schönster Ekstase rollend,

Blickt auf zum Himmel, blickt zur Erd' hinab;

Und während die Imagination den Formen

Unbekannter Dinge Körper gibt

Verwandelt des Dichters Feder sie in Formen

Und gibt den luftgen Phantasiegebilden

Ein' feste Wohnstatt und einen Namen,

Solche Tricks ermöglicht starke Imagination.9

Gegen die letzte Zeile dieses Zitats hatte Blake jedoch etwas einzuwenden. Ein Biograph schreibt, daß Blake selbst

geistige Erscheinungen wahrnehmen konnte, indem er eine besondere Fähigkeit anwendete - die der Imagination -, wenn man das Wort in dem damals ungewöhnlichen, aber wahren Sinn einer Fähigkeit gebraucht, die sich mit den subtileren Dingen befaßt, nicht mit Erdichtungen... Die Dinge, die die Imagination sah, waren genauso Realitäten wie grobe und greifbare Tatsachen... Sein Rat an einen jüngeren Maler lautete: "Du mußt nur die Imagination bis zu einer Vision verstärken, dann ist alles da."10

Für Jakob Böhme, den deutschen Mystiker, dessen Schriften eine von Blakes Lieblingsquellen war, aß Adam mit seinem "äußeren Mund" und sah daher nur den physischen Baum der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse. Er muß wieder essen lernen, und zwar diesmal mit seinem "inneren Mund", was Blake dahingehend interpretierte, daß damit "eine Reinigung der Wahrnehmungskanäle" gemeint ist. Kathleen Raine kommentiert vielsagend, daß der Baum des Lebens im Garten Eden "die Welt der Imagination" darstelle, während der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sich auf die materielle Seite der Schöpfung beziehe - den "Verstoß" gegen den "Baum der Schöpfung". Sie sieht den Baum des Lebens als Adams "Baum des Geheimnisses" und daß die Natur, als die "magia" oder "die Wunder Gottes" gesehen, nicht länger ihre "zerstörerische Macht" über den Menschen ausübt, wie sie durch die Verlockungen des materiellen Lebens dargestellt wird.11 Der ursprüngliche Akt des Eintauchens in die Materie, symbolisiert durch den Fall der Engel, war jedoch kein Irrtum im Schöpfungsprozeß. Sein Zweck war, die innere Kraft in den Eigenschaften der spirituellen Individualität in allen Wesen zu erwecken. Der Verstoß liegt in der bewußten Wahl einer fortwährenden Bindung in verkörpertes physisches Leben, anstatt mit dem jetzt in Gang befindlichen Zyklus der Verfeinerung aufzusteigen.

Wenn Blake jedoch die volle Bedeutung seiner Vision eines beseelten Universums erkannt hätte, eines Universums, in dem alle Seelen mit der Tinktur des Göttlichen durchdrungen sind, würde er den Begriff eines persönlichen Gottes, wie großartig dieser auch sein mag, nicht hervorgehoben haben. Die Unendlichkeit kann durch kein Wort charakterisiert werden, denn dadurch würden ihr Grenzen auferlegt.

Die Imagination läßt erahnen, was vor der Schöpfung des Kosmos mit seinen Himmelskörpern und unserer gegenwärtigen Heimat, der Erde, existiert hat. "Wie eine Spinne ihr Netz ausbreitet und wieder zerstört, wie Kräuter aus dem Boden hervorsprießen ..., so hat das Universum seinen Ursprung im Unvergänglichen."12

Wie aber der Winter dem Frühling vorausgeht, so enthält jeder Tod in sich die Saat eines neuen Lebens. "Ein unaufhörliches Überschreiten der Schwellen, ein endloses Sein durch Werden ... endlos ... endlose Zeit ... kein Anfang, kein Ende ..." Denn das Universum "ist ein werdender Gott" und Blakes "Imagination" ist der göttliche Aspekt der Menschheit, auf dessen Schwingen wir fliegen und so unsere edelsten Möglichkeiten verwirklichen können.

Fußnoten

1. H. P. Blavatsky weist in The Secret Doctrine (II, 198-199) Die Geheimlehre (II, 208-210) darauf hin, daß die erste Sprache tatsächlich nur Vokale ohne Konsonanten verwendete. Vielleicht kam diese Sprache in musikalischer Form zum Ausdruck, mit abwechselnder Tonhöhe, wie das bei einigen orientalischen Sprachen auch heute noch der Fall ist. [back]

2. Verbesserte und erweiterte Auflage, 1896, Seite 74. [back]

3. Katherine Tingley, Theosophy: The Path of the Mystik (Theosophie: der Pfad des Mystikers) Seite 46-47. [back]

4. Siehe: Carl Grabo, The Magic Plant: The Growth of Shelley's Thought (Die magische Pflanze: Das Wachsen des Shelleyschen Gedankenguts), 1936, Seite 354-355. Es handelt sich hier um eine gute und anregende Untersuchung der Shelleyschen Begriffe über dieses Thema und die zwingende Logik, die Shelley zum Aufbau seiner Philosophie und seiner intuitiven Schau anwendet. Professor Peter Butter berührt in Shelley's Idols of the Cave (Shelleys Idole der Höhle), 1954, auch den Einfluß von Plato und der Neuplatonischen Philosophie auf Shelleys Gedanken seit der Zeit, als der Dichter das Symposium (Das Gastmahl) in Eton las, bis zum Jahr 1817, als er Altgriechisch fließend lesen konnte und die Originaltexte zur Grundlage seiner Philosophie machte. [back]

5. Siehe: Shelleys A Defence of Poetry (Eine Verteidigung der Poesie), das einen scharfsichtigen Abschnitt über diesen Gegenstand enthält. [back]

6. Life of Apollonius (Das Leben des Apollonius), VI, XIX, Loeb Library Edition. [back]

7. On the Sublime (Über das Erhabene), XXXV. [back]

8. The Marriage of Heaven and Hell (Die Vermählung von Himmel und Hölle). [back]

9. A Midsummer Nights Dream (Ein Sommernachtstraum), V, 1. [back]

10. Alexander Gilchrist, Life of Blake (Das Leben Blakes), J. M. Dent & Sons, 1942, Seite 318-319. [back]

11. Siehe: Blake and Tradition (Blake und die Tradition), Band 2, Anhang 1, Seite 49, Princeton University Press, 1968. [back]

12. Mundaka Upanishad, I, 1, 7. [back]