Gebrauch machen von der Leere
- Sunrise 4/1979
Hat schon irgendwann einmal jemand zu Ihnen gesagt: "Oh, stecken Sie keine Blumen in diese Vase! Sie ist so schön, wenn sie leer ist!"? Natürlich muß man die sogenannte Leere mit einer Form oder Gestalt umgeben, damit man die Schönheit des Hohlseins richtig einschätzen kann. Es gibt in unserem Leben viele Beispiele, wie wir - bewußt oder unbewußt - "ein Stück Leere" einzufangen scheinen und von ihrer Schönheit, ihrer Gestalt, ihrer Harmonie, oder was immer es sein mag, Gebrauch machen.
Wenn jemand ein Zimmer einrichtet, dann wird er, wenn er Geschmack hat, es nicht von oben bis unten mit Gegenständen vollstopfen, sondern er wird wohlüberlegt den Raum zwischen den Dingen benützen und damit heitere Ruhe, Wohnlichkeit oder sonst irgend etwas, das er beabsichtigt, erreichen. Man muß nur in ein gutes Museum oder in eine Kunstausstellung gehen, um zu sehen, wie geschickt so etwas gemacht werden kann. Vollstopfen ist vorbei; Geräumigkeit ist in. Warum nicht? Die Welt ist groß, und es steht so viel Platz zur Verfügung!
Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir eine anscheinende Leere benützen. Zum Beispiel in der Musik: Der betonte erste Schlag eines Taktes mit einer nachfolgenden Pause ergibt die aufregende Wirkung so manchen Rocksongs. Inmitten einer turbulenten Symphonie kann eine plötzliche G. P. (Große Pause) wie ein Hauch von Frühlingsluft wirken! Heutzutage werden wir fortwährend mit Geräuschen bombardiert, so daß wir selten gewahr werden, wie viele Pausen es gibt, die die besondere Art des Tones erst ermöglichen. Ein Sänger (oder ein Schauspieler) muß vor jedem Satz Atem holen, und diese kurze Pause gestattet ihm nicht nur die körperliche Handlung des Übermittelns, sie macht es auch möglich, daß der Zuhörer etwas verstehen kann.
Keiner von uns möchte weder äußerlich noch innerlich ein "leeres Leben" führen (in Wirklichkeit gibt es so etwas gar nicht). Gibran fordert deshalb eindringlich: "Laßt Zwischenraum in eurem Miteinander sein"; und wir müssen uns fragen: "Finden wir in der rasenden Hetze unseres täglichen Lebens Große oder auch nur kleine Pausen?" "Nimm dir Zeit zum heilig sein", lautet ein altes Kirchenlied. Nehmen wir uns Zeit? Es gibt so viel davon, wie es Raum gibt! Die Versenkung während eines Augenblicks, die "Leere" während einer kurzen Zeitspanne, kann unseren geistigen und spirituellen Muskeln neue Lebenskraft und Spannung verleihen. Dennoch sind wir anscheinend nur darauf bedacht, jeden Augenblick mit Geschäftigkeit auszufüllen, und dabei ist vieles davon so überflüssig und bedeutet letztlich gar nichts.
Leere? Fülle? Es ist gut möglich, daß beim Betrachten der Gegensätze "Sein oder Nichtsein" hier die Frage ist; aber auf sehr praktische Weise faßte Laotse, der große Weise des Taoismus, das Ganze knapp zusammen, als er sagte:
Dreißig Speichen enden in einer Nabe;
doch erst das Loch in der Nabe
wirkt des Rades Brauchbarkeit.
Ton knetend bildet man Gefässe;
doch erst ihr Hohlraum
gibt ihnen Brauchbarkeit.
Mauern, von Fenstern und Türen durchbrochen,
bilden Räume;
doch erst die Leere des Raums
gibt ihnen Brauchbarkeit.
So gibt das Stoffliche zwar Eignung,
das Unstoffliche aber erst den Wert.1