Die Logik der mystischen Lehren des Jainismus – Jainismus, 3. Teil
- Sunrise 4/1979
Die Lehren des Jainismus werden in seinen Sûtras und den Kommentaren mit einer solchen mathematischen Exaktheit und Logik dargeboten, daß man nur immer wieder ausrufen kann: wie wahr, wie klar, wie vernünftig! Gleichzeitig spürt man, wie eine höhere Fähigkeit stimuliert wird. Intuition und Imagination werden rege und verstehen Bedeutungen, die für die Überlegungen des Gehirndenkens zu fein und zu metaphysisch sind.
So könnte man zum Beispiel sagen, das philosophische Denken der Jainisten sei dreiteilig, mit positiven und negativen Gesichtspunkten, die durch ein dehnbares "vielleicht" miteinander verbunden sind - syâdvâda.1 Zum Beispiel nimmt das Leben vom Augenblick der Geburt an immer mehr zu; man wächst beständig an Erfahrung und Weisheit. Doch ebenso wahr ist, daß vom Augenblick der Geburt an der Tod immer näher und näher rückt. Wie können wir also mit Gewißheit sagen, daß das Leben zunimmt oder abnimmt? Da diese zwei entgegengesetzten Auffassungen nicht gleichzeitig ausgedrückt werden können, ist es da nicht vernünftig, ein vielleicht gelten zu lassen? Vielleicht wächst man und vielleicht stirbt man jeden Augenblick. Beide Vorstellungen stimmen, beide tragen zum vollen Verständnis bei. Außerdem ist es dieser vielleicht-Begriff, der die Berücksichtigung anderer Perspektiven notwendig macht und durch die unvermeidlichen Gegensätze und Vergleiche intellektuelle Unausgewogenheit, Starrheit oder Dogmatismus verhindert.
Metaphysisch ist eine solche dreiseitige Betrachtung wichtig, sobald man versucht, das Relative, das Vielleicht, die Identität und Permanenz zu begreifen, wie sie zeitweilig inmitten von Vielfalt und Wechsel bestehen. Und jainistische Logiker zögern nie, in jeder Situation des Lebens die vielfältigen Aspekte der Wirklichkeit sowohl von ihrer ewigen und absoluten, wesentlichen Natur aus als auch von ihren veränderlichen und illusorischen Aspekten her zu prüfen. Dieser Methode entsprechend betrachten sie das Selbst (Âtma) als endlich, wenn es in Körpern mit begrenzter Lebensdauer manifestiert ist; jedoch als beständig und unendlich, wenn es in seiner wahren Natur gesehen wird, substanzfrei, unkörperlich und ewig von Körper zu Körper, von Leben zu Leben wandernd.
Wenn man diesen "bejahenden-verneinenden-vielleicht"-Begriff etwas weiter ausführt, so findet man bei den Jainisten ein fünffaches und dann ein siebenfaches System. Die fünf Wege oder Stufen des Verstehens2 sind: 1.) Wahrnehmen mit Hilfe der fünf Sinne; 2.) indirekt durch Lesen heiliger Schriften und Anhören der Lehrer; 3.) durch unmittelbares Erkennen oder durch Hellsehen, jene latent in allen vorhandene anomale Fähigkeit der Sinneswahrnehmung, durch die man Ereignisse 'sieht', die sich an weit entfernten Orten ereignen oder sich irgendwann in der Vergangenheit ereigneten oder sich in der Zukunft ereignen werden; 4.) durch Gedankenübertragung, mentale Telepathie, so, wie eine Mutter die Not ihres Kindes fühlt oder ein Lehrer mit seinem Schüler in der Stille wortlos Gedanken austauscht; und auch 5.) durch unbegrenztes Wissen oder Erleuchtung.
Zur Erklärung des siebenfachen Systems führen sie die bekannte Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten an und geben sieben verschiedene Erklärungen, von denen jede von einem Gesichtspunkt aus wahr, aber von einem anderen Gesichtspunkt aus fragwürdig ist. Sechs blinde Menschen beschreiben einen Elefanten nach dem Teil des Tieres, den sie berühren, und nach dem, was sie im Augenblick empfinden. Auf diese Weise wird das Bein zu einer Säule in einem Tempel; das Ohr zu einem wedelnden Fächer etc. Nur der siebente, der sehen kann, sieht den ganzen Elefanten, doch blitzartig erkennt er, daß auch seine Vorstellung begrenzt und unvollkommen ist, und er ruft: "Wer kann etwas bestimmt behaupten oder ableugnen, besonders wenn es sich um subjektive philosophische Dinge handelt?"
Darüber hinaus prüfen die Jainisten noch jeden Gegenstand in seiner dreifachen, fünffachen oder siebenfachen Natur von seinen realistischen, komplexen und subtilen Aspekten aus. Ernsthaft Studierende haben ihre Beiträge auf diesem Gebiet stets für inhaltsreich befunden und ihre erläuternden Parabeln faszinierend - wie z. B. die Parabel von den fünf Männern, die nach der Wahrheit suchen, wie sie im Sûtrakritânga (II, I) auf zwanzig Seiten erzählt wird.
Kurz zusammengefaßt: Es waren einmal fünf kluge Männer, die aufbrachen, um die Wahrheit zu finden. Nach einiger Zeit kam jeder in einem stillen Wald an einen Lotusteich, in dessen Mitte eine große weiße Lotusblume von außergewöhnlicher Schönheit wuchs. Vier der Männer fanden ihren Reiz unwiderstehlich. Sie wateten in den Teich, um sie zu pflücken, doch jeder blieb nach wenigen Schritten hoffnungslos im Schlamme stecken. Der fünfte Mann, ein Mönch, näherte sich mit ruhigen Schritten dem Teich, er blieb am Ufer stehen und bewunderte den Lotus. Dann flog auf sein Geheiß diese überaus wundervolle Blume aus dem Teich in seine Hand!
In der Erklärung heißt es, der Lotusteich sei die Welt; das Wasser Karma; der Schlamm bedeutet Lust und Vergnügen. Mit den vier erfolglosen Männern sind vier Irrlehren gemeint, die zu jener Zeit im Umlauf waren, wobei jede gebührend beschrieben wird. Der Mönch mit dem ruhigen Schritt ist das Gesetz, und der vollkommene Lotus Nirvâna.
Karma und Ahimsâ, "Gewaltlosigkeit", sind grundlegende Lehren des asiatischen Denkens, aber der Jainismus legt sie in einzigartiger Weise aus. Karma, gewöhnlich als Handlung und als die Konsequenzen des Handelns betrachtet, ist für die Jainisten das Fließen subtiler atomarer Materie, die die Seele einhüllt wie der Kokon die Seidenraupe - vorübergehend oder äonenlang, je nach der Intensität des Denkens und Fühlens, die ihn zusammenhalten und ihn weiterhin nähren.
Ahimsâ, Gewaltlosigkeit - ein wesentlicher Aspekt von Karunâ oder Mitleid -, ist die ruhige, klare Überzeugung des Herzens, des Verstandes und der Seele, daß alle Dinge geistig und in ihrer Essenz identisch, gleichwertig und heilig sind. Größe, Rang, Entwicklung - Erscheinungen - sind nicht von Bedeutung. In der höchsten Ausdrucksform ist es die Einheit des Lebens, die die Mystiker, die sich mit Gott vereint fühlen, erfahren.
Ahimsâ ist der positive und harmonische Lauf des Lebens, der den karmischen Körper auflöst, der die Wahrnehmung der Seele trübt. Wenn Gedanken, Glaube und Handlung eines Menschen darauf abgestimmt sind, Mitleid zu haben und niemanden zu schädigen, dann fließen die Kräfte der Liebe durch sein Leben und bereichern alle anderen. Er ist arglos wie ein zahmes Reh, wohltuend wie die Herbstsonne. Kein neues Karma auf sich ladend, geht er ohne Furcht und in Frieden durch das Dickicht der Hölle. Wenn die Jainisten diesem Pfade folgen, fühlen sie, daß sie dadurch jenen, die in Not sind, unmittelbar durch ihr Dasein und ihr Beispiel helfen. Sie mischen sich niemals in die Entwicklung eines anderen ein, denn das würde nach ihrer Anschauung grausam sein und das Denkvermögen und die Seele des anderen ebenso lähmen wie eine Zwangsjacke oder der Befehl eines Hypnotiseurs.
Diese scheinbare Gleichgültigkeit ließ jene, die mit ihrem Urteil zu schnell sind, behaupten, der Jainismus sei völlig egoistisch und seine Schüler würden eher dem Pfad der Pratyeka-Buddhas als dem der Buddhas des Mitleids folgen. Das bestreiten die Jainisten. Sie erklären, daß die Pratyekas, obgleich sie heilige Menschen sind, die durch ihre eigenen Anstrengungen eine erhabene Stufe des Wissens erreicht haben und niemandem ein Leid antun, so sehr um ihre eigene Erlösung besorgt gewesen sind, daß sie sich keinem Orden angeschlossen haben und keinem Lehrer gefolgt sind. Deshalb sind ihre Lehren begrenzt, einseitig und nicht das wahre Gesetz der Tîrthankaras. Sie haben auch nicht die hohe Stufe von Nirvâna erreicht wie die Buddhas des Mitleids.
Weitere Einblicke in die mystischen Lehren des Jainismus können durch das Studium ihrer komplizierten Lehren gewonnen werden. Sie glauben zum Beispiel, daß das allumfassende Leben aus einer unendlichen Anzahl sich gegenseitig beeinflussender Partikel zusammengesetzt ist. Jede Partikel ist essentiell ein jîva oder ein "Leben" - ein ewiges und individuelles Bewußtsein-Leben, das sich in von ihm selbst geschaffenen karmischen Vehikeln verkörpert. Während die jîvas von einem Atom, einem Menschen oder von einem Gott zwar fundamental rein, allwissend und harmonisch sind, sind sie dennoch sowohl durch ihre eigenen karmischen Beschränkungen als auch durch die karmischen Begrenzungen der Partikelgruppe graduell begrenzt, die die Körper aufbauen, in denen sie sich und durch die sie sich zu irgendeiner Zeit manifestieren.
Bildtext: In Stein gehauene Kolossal-Statue von Gommata, Sohn des (1. Tîrthankara) Rishabhadeva.
Die Jainisten vergleichen das Selbst oft mit dem Gold, das in hundert Formen geformt, geschmolzen und wieder geformt werden kann, ohne daß sein Glanz und seine Formbarkeit dadurch verlieren. Ebenso verliert das Selbst keines seiner charakteristischen Merkmale, während es sich in einer beständigen Aufeinanderfolge in und durch Myriaden sich fortwährend weiterentwickelnden Körperformen manifestiert.
Die größte Gruppe dieser sich gegenseitig beeinflussenden Seelen-Partikel wird von jîvas gebildet, die sich auf einer so niederen Bewußtseinsebene manifestieren, daß wir glauben, sie seien entweder unbeweglich und unbewußt oder unsichtbar. Aber es sind hauptsächlich diese unsichtbaren jîvas und jene Mikroorganismen - die Partikel der Erde, des fließenden Wassers (kochen tötet jîvas), die Partikel des Windes oder der Luft und des Feuers -, die uns befähigen, die Farben des Sonnenaufgangs zu sehen, die vom Genie eingefangene Musik zu hören und uns am Wohlgeruch der Blumen zu erfreuen.
Die Uttarâdhyayana Sûtra teilt diese Gruppe von Partikeln zuerst in sichtbare und unsichtbare, feine und grobe, entwickelte und unentwickelte; dann unterteilt sie dieselben weiter nach charakteristischen Merkmalen, nach ihrer Lebensdauer, dem Ort, an dem sie existieren etc. etc. - Man muß sich wundern über die wissenschaftliche Genauigkeit der frühen Jainisten und über den Reichtum an Information, den sie anhäuften.
Die nächste Partikel-Gruppe besteht aus den Pflanzen; Bäume und Pflanzen haben den Tastsinn entwickelt. Das ist eine interessante Klassifizierung, wenn man die gegenwärtige Erforschung des Empfindungsvermögens der Pflanzen und ihre Reaktion auf Gedanken, Worte und Berührungen verfolgt. Würmer, Austern, Wespen und Schmetterlinge gehören zu einer höheren Gruppierung. Sie haben den Berührungssinn und den Geschmackssinn entwickelt. Dann kommen die Ameisen, die Tausendfüßler und alle Insekten, die dazu noch den Gesichtssinn entwickelt haben. Die Lebenserwartung dieser Klasse reicht von einem Augenblick bis zu neunundvierzig Tagen! Fliegen, Bienen, Motten, Skorpione, Grillen etc. können hören. Sie gehören deshalb zu einer höherstehenden Klasse. Zuletzt, "von Wesen mit fünf Sinnesorganen gibt es vier Arten: Bewohner der Hölle, Tiere, Menschen und Götter"3 - jede Art wird ausführlich beschrieben.
Alle jîvas wachsen letzten Endes in die Stufe der Menschheit hinein, wo sie dann, da sie nun Verstand besitzen, das Gesetz kennen lernen, und indem sie zwischen dem, was gut, und dem, was nicht gut ist, zwischen dem, was nützlich, und dem, was schädlich ist, unterscheiden, beginnen sie die Ansammlung karmischer Haftungen abzustreifen und erlangen wieder Göttlichkeit. Hier kann kein äußerer Gott helfen, der in irgendeiner erhabenen Welt lebt und wirkt. "Erlösung" kommt nur durch das Selbst im Innern und durch die Lehren und Beispiele der vierundzwanzig Tîrthankaras oder der Buddhas und Bodhisattvas. Bis dahin werden alle Wesen, die riesenhaft großen wie die unendlich kleinen, im Strom ihrer Handlungen dahingetragen und immer wieder geboren, um "die Frucht ihrer eigenen Handlungen zu ernten."4
In alten Zeiten ist gesagt worden: alle Arten lebender Wesen, von mannigfaltiger Geburt, von mannigfaltigem Ursprung und Wachstum, in Körpern geboren, in Körpern ins Leben gerufen, in Körpern wachsend, von Körpern sich nährend, erfahren ihr Karman, werden von Karman angetrieben, in ihrer Form und Lebensdauer von Karman bestimmt und erfahren Veränderungen durch den Einfluß von Karman. Das solltest du wissen, und wenn du es weißt, wirst du achtsam und umsichtig sein ...
- Sûtrakritânga, II, 3, 37
Wie geht der Aufbau des Karma-Körpers vor sich? Wenn der Geist tätig ist, wenn er denkt und wenn der Wille angewendet wird oder der Körper Handlungen ausübt, das alles erzeugt Bedingungen, die bewirken, daß der Seele durch Karma Moleküle zufließen. Wenn der Zustand des Gemüts, des Willens oder des Körpers durch Genußsucht oder durch starke Wünsche nach Besitz bestimmt wird, oder durch Gefühle der Angst, des Zornes oder der persönlichen Liebe, dann wachsen die Partikel dieses karmischen Zuflusses zusammen und bilden eine Ablagerung oder eine Hülle um das Selbst. Und diese Hülle verbleibt, bis sie durch eine entsprechende ausgleichende Reaktion aufgelöst wird. Die Dauer und die Beschaffenheit dieser Reaktion wird hauptsächlich durch die Qualität des ursprünglichen Motivs bestimmt.
In der jainistischen Literatur werden acht Arten von Karma erörtert, jede mit 144 Unterteilungen. Es wird gezeigt, wie jede Art unter anderen Aspekten angezogen wird; wie es die gesamte Natur und auch jeden Teil eines Menschen beeinflußt; das Denken des Menschen, seine Psyche, seine Umgebung, sein Benehmen, seine vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Verhältnisse und wie alles verändert, vermehrt oder aufgelöst werden kann. Der Umfang dieser Lehre wird im Uttarâdhyayana, XXXIII, 1-3, gezeigt.
Der Prozeß der Auflösung des Karma-Körpers ist der Weg zur Vollkommenheit: der Pfad der spirituellen Entwicklung. Ein Fortschritt in dieser Entwicklung wird durch eine beharrliche Konzentration auf die edelsten Aspekte des Lebens erreicht. Richtiges, bestes oder spirituelles Denken ist: in das Gemüt nur aufnehmen, was hoch und erhebend ist, und alles Unedle, Unschöne und Gemeine ausschließen. Richtiges, bestes und spirituelles Handeln ist: zu jeder Zeit sorgfältig, gerecht und mitleidsvoll handeln; auf alle mentalen, emotionalen und physischen Tätigkeiten verzichten, deren Motiv niederer Egoismus ist; auf Verknüpfungen mit dieser Welt verzichten.
Das ist der Weg, auf dem die karmischen Knoten gelöst werden, so daß das Selbst nicht länger gefesselt ist und vom menschlichen zum göttlichen Bewußtsein fortschreitet. Das wird erreicht, indem man die fünf einfachen, aber mächtigen veredelnden Gelübde befolgt, die von den vierundzwanzig Großen, die die Dunkelheit erleuchten, "der Ort des Friedens" genannt wurden.
Der Jainismus hat diesem nuklearen Zeitalter mit seinen Spannungen und seiner in Unordnung geratenen Moral viel zu bieten, vieles, das vielleicht in einem Wort ausgedrückt werden kann: Güte. Ob die Jainisten Insekten aus ihrem Wege räumen oder die umfassende Weisheit der Tîrthankaras studieren, ihre Sorge gilt in erster Linie und immer dem Wohlergehen aller anderen.