Die zwei Lauten
- Sunrise 3/1979
Ein chinesischer Weiser sagte einmal: Wenn zwei Lauten auf die gleiche Tonhöhe eingestimmt sind, dann wird, wenn die erste gespielt wird, die zweite, auch wenn sie in einem anderen, jedoch nicht zu weit entfernten Zimmer untergebracht ist, im Gleichklang schwingen. Dieser schöne Gedanke veranschaulicht eine wichtige Tatsache bezüglich des innersten Wesens der Menschlichkeit und der Wechselbeziehungen in der Natur. Wir reagieren unserer inneren Veranlagung entsprechend und sehen in anderen Menschen zum Beispiel die Eigenschaften, die bereits in uns liegen. Was wir bei einem anderen sehen, ist vielleicht richtig und stimmt auch; aber meist ist es ein Spiegelbild - seitenverkehrt, übertrieben oder abgeschwächt, so daß wir unsere Reflexion nicht sofort als solche erkennen. Wie viele von uns bemerken in einem Arbeitskollegen oder Bekannten zuerst die niedere Seite einer Eigenschaft, ohne darauf zu warten, daß sich ihre edlere Seite zeigt; beide sind doch genauso in uns vorhanden!
Außer den Chinesen übermittelten uns auch die Griechen viele Erkenntnisse - besonders in ihrem Mythos von der Leier des Orpheus, die in Wirklichkeit die Laute Apollos war und ihm, seinem Sohn, übergeben wurde. Es wurde erzählt: Wenn Orpheus diese Laute schlug, dann bewegten sich die Steine, die Pflanzen begannen zu blühen und alle anderen lebenden Wesen wurden beeinflußt. Ich vermute, die Ursache dafür, daß das Instrument in dieser Weise Widerhall fand, war seine Fähigkeit, den Gesang des Lebens zu singen.
Die Laute-Lyra gab es in Griechenland in zwei verschiedenen Formen; die eine als viersaitiges Instrument, die andere - besonders in Verbindung mit Apollo, dem Gott des Lichtes und der Musik - mit sieben Saiten. Ein Bild in den Ruinen des Herculaneum in Italien zeigt die Lyra in der Form eines Triangels. Vier Saiten über einen Triangel gespannt ergeben die Zahl sieben, und das Symbol der siebensaitigen Variante des Instruments würde einen weiteren Aspekt einer tiefgründigen Vorstellung über die Beschaffenheit des Menschen und des Kosmos liefern.
Einige Erzählungen bezeichnen Orpheus als den Erfinder der siebensaitigen Lyra, andere schreiben diese Erfindung Pythagoras zu. Da beide zu ihrer Zeit Gründer einer bestimmten Schulungsmethode nach den Richtlinien der sogenannten Mysterienschulen1 waren, ist es wahrscheinlicher, daß es die innere Bedeutung war, die den Mythos aufrecht erhielt und ihm die Möglichkeit gab, die "felsige" oder materielle Erscheinung der menschlichen Natur in eine gottähnliche umzuwandeln. Welche innere Bedeutung konnte das wohl gewesen sein?
Wir wissen, daß die Pythagoräer der Meinung waren, die viersaitige Leier sei den vier Elementen nachgebildet, aus denen die Erde und ihre Bewohner gemacht waren. Diese Elemente waren Feuer, Luft, Wasser und Erde - nicht ihre körperlichen Formen, die wir im täglichen Leben kennen, sondern ihre Essenzen. Könnte man nicht sagen, sie seien durch die vier Saiten dargestellt worden, die zusammen mit den drei Zwischenräumen die Zahl sieben ergeben - das allgemein benützte Symbol für jedes manifestierte Wesen, sei es zum Beispiel Mensch oder Planet. Doch sollte die Betonung hierbei auf die harmonischen Verhältnisse des Ganzen gelegt werden.
Das siebensaitige Instrument war die vortreffliche Hieroglyphe für die sogenannte Harmonie der Sphären; die Griechen glaubten nämlich, daß jeder bei seinen Bewegungen sich drehende Himmelskörper einen Ton erklingen läßt; einen bestimmten Ton mit seinen entsprechenden Obertönen. Eine Mythe behauptet, daß Pythagoras diese Musik der Sphären tatsächlich hörte, wenn er sich "außerhalb des Körpers" befand. Das bedeutet ein Erlebnis der Seele, während der Körper unter der Obhut anderer Eingeweihter im Trancezustand lag.
Pythagoras soll Einzelheiten über die Harmonie der Sphären geäußert haben, wonach zwischen den Planeten und der Sonne Töne und Halbtöne hin und her schwingen. Diese Vorstellung bezog sich sicherlich nicht nur auf die Musik und die Töne, sondern auch auf die Zahlenverhältnisse und andere Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des Sonnensystems.
Alle diese Dinge haben Bezug auf die "Weltseele", oder eigentlich sollte erklärt werden, daß man sich im Altertum den gesamten Kosmos als mit Bewußtsein beseelt vorstellte, das sich in verschiedenen Graden manifestierte. In diesem Zusammenhang kehren wir wieder zu Orpheus, dem göttlich inspirierten Musiker zurück, der in Thrakien als Sohn von Apollo und Kalliope, der Muse der epischen Dichtung, geboren worden war. Orpheus übernahm die bestehenden Mysterien des Dionysios, dem Gott der "Mitternachtssonne", und erneuerte sie; und wenn er auf der Lyra spielte, die er von Apollo, seinem Vater, erhalten hatte, brachte er "die ausgeglichene Harmonie der Sphären" in ihrer Evolution zum Ausdruck.
Wenn wir den Sinn dieses griechischen Mythos auf uns selbst anwenden, dann können wir durch beständiges Streben dieselbe Tonhöhe wie Apollos Laute erreichen und für ihre Musik empfänglich sein. Mit anderen Worten, alle Teile unserer Natur werden dann miteinander harmonieren und die Wirkung wird sich segensreich auf unsere Beziehungen zu anderen auswirken. Die Grausamkeiten, Kriege und die vielen Formen von Ausbeutung, die unser gegenwärtiges Leben entstellen, würden verschwinden wie Nebel in der Morgensonne. Es genügt nicht, ein Ideal in unserem Herzen zu haben, wir müssen versuchen, ihm ähnlich zu werden.
Fußnoten
1. Schon lange vor Pythagoras und Plato gab es die Mysterienschulen. Vielleicht kann man sagen, sie waren die 'Universitäten' jener Zeit. Es wurden dort die Wissenschaften gelehrt, es gab aber auch praktische Unterweisungen zur Entwicklung des Charakters und zur Erweckung der besten Fähigkeiten eines Menschen. Während die Schulen in Griechenland bekannt waren, waren die Schulen einiger anderer Länder nicht bekannt; mystische Ausdrucksformen in ihren erhalten gebliebenen Schriften deuten jedoch darauf hin, daß es sie gab. [back]