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Die richtige Frage im richtigen Geist

Alte Weisheit in Afrika

 

Seit der Mensch Selbstbewußtsein erlangt hat und damit auch die Fähigkeit, sachlich über sich nachzudenken, hat er sich bemüht, das Rätsel seines Daseins zu lösen. Da er nur ein Durchreisender von der Pforte der Geburt bis zum Torweg des Todes ist und in die Mitte des Weges zwischen die unschätzbaren Mengen mikroskopischer Lebensformen und sternenbesäte Unermeßlichkeit des Kosmos gestellt ist, mußte er sich ja verlassen und verloren vorkommen. Das Universum ist jedoch auf Mitleid gegründet, und die Helfer der menschlichen Rasse versahen den Menschen, das schwache, aber denkende Schilfrohr, mit einem Wissen über den göttlichen Ursprung und den heiligen Zweck aller Schöpfung, damit er während seiner langen Evolution fähig sei, den Prüfungen mutig entgegenzutreten. Diese Wahrheiten wurden tief in das werdende Gemüt eingeätzt, und in den folgenden Äonen wurden sie ihm immer wieder dargeboten, damit der Mensch sie nicht vergesse. Und obwohl sie jedesmal wie eine neue Offenbarung zu sein schienen, waren sie in ihrem Kern immerwährend die gleichen.

Reste dieser uranfänglichen Weisheit sind in den meisten alten Überlieferungen zu finden, und da sie alle aus derselben Quelle stammen, ist es nicht überraschend, daß wir, ungeachtet der geographischen Herkunft, eine gewisse Ähnlichkeit feststellen können. So lange der Westen so fest von seinen eigenen, alles andere ausschließenden Dogmen gefangen gehalten wurde, befaßte er sich größtenteils mit den äußerlichen Unterschieden der Form, während diese, allen gemeinsame Weisheit größtenteils unbeachtet blieb. Am Ende des vorigen Jahrhunderts war jedoch die Zeit für eine weiterreichendere Anschauung gekommen, und H. P. Blavatsky zeigte in ihrer Geheimlehre deutlich die esoterische Einheit, die den verschiedenen Glaubensbekenntnissen aller Zeiten und Länder zu Grunde liegt. Sie bezog sich in ihren visionären Auslegungen auf die Philosophien des Orients, auf die Religionen Griechenlands und Roms, Ägyptens und Babylons, auf die Megalithbauten und auf die in Felsen gehauenen Symbole - die stummen und doch beredten Zeugnisse archaischen spirituellen Wissens.

Seit ihrer Zeit sind in allen Teilen der Welt viele weitere Informationen über Religionen gesammelt worden, die ohne Zweifel von ihr in ihre Erläuterungen mit aufgenommen worden wären, wenn sie davon gewußt hätte. Verhältnismäßig wenig wurde zum Beispiel über Afrika gesagt, dessen weite Gebiete im Inneren damals die weißen Menschen erst anfingen eingehend zu erforschen. Mit den in den letzten hundert Jahren erlangten Unterlagen sind wir heute besser in der Lage, auch in diesem Territorium nach Spuren der universalen Weisheit zu suchen. Es besteht kein Zweifel, daß diese gefunden werden können, denn es wäre unlogisch anzunehmen, daß irgendwelche Völker 'ausgelassen' worden wären.

Das Suchen ist aus mehreren Gründen keineswegs einfach. Einige dieser Gründe entstammen mehr unseren eigenen vorgefaßten Meinungen als den wirklichen Tatsachen. Ich muß vorausschicken, der heutige Schauplatz ist recht undurchsichtig. Dieser sonnengetränkte Kontinent (gelegentlich immer noch fälschlich 'Dunkles' Afrika genannt), die Heimat von mehr als 800 verschiedenen Völkern, befindet sich in einem Zustand beständigen Wechsels: moderne Städte wuchsen wie die Pilze empor und ziehen die Landbevölkerung magnetisch an. Durch die Verstädterung und die Verbreitung des Christentums und des Islams wurde die Befolgung der von den Vorvätern übernommenen Lebensformen abgeschwächt, und der plötzliche Wechsel vom traditionsgebundenen zum technischen Zeitalter hat viele der lange bestehenden Wurzeln abgeschnitten. Ist der einzelne Mensch erst einmal von der geschlossenen und eng vereinten Stammesgemeinschaft losgelöst, dann genießt er nicht länger den Vorteil, von den Stammesälteren die altbewährten Sitten gelehrt zu bekommen, und, was noch wichtiger ist, er erfährt nicht mehr, warum sie befolgt werden sollen. Neue Götter verdrängen die alten oder werden zu den bereits angebeteten Göttern hinzugefügt. In diesem Zustand des Wechsels und der Unsicherheit ist die Zauberei oft zu einem Ersatz für die wahre Religion geworden: wie Parasiten eine vernachlässigte Pflanze oft vermehrt überfallen, so kann das pilzartige Wachstum von Magie und Aberglauben leichter die verdrängte Psyche befallen. Obgleich das Dorfleben mehr oder weniger unverändert abläuft, gibt es auch hier immer weniger Leute als früher, die den esoterischen Hintergrund ihres Glaubens verstehen, weil die älteren Generationen allmählich aussterben.

Was Afrikas Vergangenheit anbetrifft, so liegt das Haupthindernis darin, daß wir geneigt sind, spirituelle Blüte mit den äußeren Anzeichen von Zivilisation gleichzustellen: wer nach einer Akropolis ausschaut, kann für einen offensichtlichen Beweis höherer Weisheit blind sein. Auch der Parthenon mit all seiner Pracht bildete nur den kleinsten Teil von Athen, während die gewöhnlichen Bürger in ärmlichen Behausungen aus Holz und von der Sonne getrocknetem Lehm wohnten und die Müllhaufen am Rande der Stadt eine offene Einladung an die Pest darstellten.

Überdies, wenn wir mit der Kultur Afrikas1 nicht vertraut sind, so kaum deshalb, weil sie nicht existiert hat. Im Sudan gab es zum Beispiel etwa seit 500 n. Chr. nacheinander die mächtigen Königreiche von Ghana, Mali, Kanem-Bornu und Songhay. Reisende jener Zeit waren tief beeindruckt von der Zurschaustellung von Reichtum und Gold, wie sie sie im damaligen Europa nie gesehen hatten. In Timbuktu baute Mansa (Sultan oder Kaiser) Kankan Musa, der 1307 Herrscher über Mali wurde, Moscheen, die so prächtig waren wie die von Granada. Die Stadt wurde ein Mittelpunkt der Gelehrsamkeit und eine Stätte für Gelehrte. Leo Africanus2 schrieb 1526: "Es besteht eine große Nachfrage nach handgeschriebenen Büchern, die aus der Berberei eingeführt werden. Im Buchhandel wird mehr Profit gemacht als in irgendeinem anderen Geschäftszweig."3 Doch ungefähr hundert Jahre später wurden die langsamen Handelsrouten durch die Sahara durch schnellere Transporte auf dem Seeweg ersetzt, und marokkanische Eindringlinge hatten Songhay beinahe das Rückgrat gebrochen. Zu der Zeit, als der Kontakt mit europäischen Handelsleuten und Missionaren immer mehr zunahm, befand sich Westafrika in einem Zustand der Demoralisierung und der Degeneration: die Reisenden des späteren achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts berichten daher fast nur von Barbarei und Elend.

Ein verwirrender Umstand ist für den Erforscher afrikanischer Religionen auch, daß keinerlei geschriebene Texte heiliger Schriften aus der Vergangenheit oder der Gegenwart vorhanden sind. Es fehlen auch irgendwelche Propheten oder Avataras, deren Namen für die Nachwelt erhalten geblieben wären. Aus Mangel an solchen 'Bibeln' ist man auf die ziemlich umfangreichen Berichte aus zweiter Hand angewiesen, auf die Chroniken früher Forscher, Ethnographen (Erforscher der Völkerkunde), Missionare und Regierungsbeamte, denen später die Soziologen und die Anthropologen folgten, die die mündlichen Überlieferungen aufzeichneten, wobei sie meist ihre eigenen Beobachtungen mitteilten. Während der letzten Jahrzehnte wurden auch von Afrikanern wertvolle Beiträge geliefert. Man denke an Namen wie Danquah und Mbiti.

Wie die Indianer in Amerika, so haben auch die Eingeborenen in Afrika kein Wort für Religion, denn Religion und das tägliche Leben sind untrennbar. Um das bis zu einem gewissen Grade verstehen zu können, müssen wir daher die Gesamtheit ihrer Lebenserfahrung in Betracht ziehen. Sogleich stehen wir einer verwirrenden Vielzahl von Bräuchen, Symbolen und Ritualen gegenüber. Es gibt verschiedene Formen von Magie, Geisteranbetung, Ahnenverehrung und hier und da auch ganze Götterhimmel. Unsere Kultur hat uns dazu erzogen, diese Dinge als barbarisch und heidnisch zu betrachten, und mit einer fast instinktiven Abneigung haben wir sie meistens als Aberglauben, Animismus und Fetischismus eingestuft. Nur selten hatte ein Mensch das Einfühlungsvermögen, zu prüfen und zu erforschen, welche Bedeutung solche Begriffe für die Afrikaner haben könnten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß unsere eigene Kultur in Gedankenvorstellungen verwurzelt ist, die von den afrikanischen nicht allzu verschieden sind. Wir bewundern so gerne die platonische Philosophie, eine verhältnismäßig späte Denkart, die nach Griechenland kam, als dieses eigentlich bereits im Verfall war. Doch wir ignorieren die Tatsache, daß noch im zweiten Jahrhundert vor Chr. dem Zeus Menschenopfer dargebracht wurden.4 Die Römer waren große Administratoren, deren Rechtssystem die Grundlage für unsere eigenen Gesetze bildete. Sie hatten Priester, die vor allen wichtigen Entscheidungen im Staatswesen nach einem Zeichen der Götter im Vogelflug oder in der Leber geopferter Tiere suchten. Diese Praktiken wurden wahrscheinlich von 'Chaldäern' und von den an 'Dämonen' glaubenden Babyloniern übernommen, die für jede Unpäßlichkeit eine Zauberformel und ein geeignetes Amulett hatten. Alle Völker rund um das Mittelmeer hatten (wie die germanischen Völker) eine zahlreiche Götterwelt. Im mittelalterlichen Europa führte die Furcht vor Hexen und Zauberei oft zu Massenhysterie und zu Verfolgungen, und die Blätter der Geschichte jener Zeit sind getränkt mit dem Blut von Unschuldigen. Bis heute noch hat der Aberglaube einen deutlichen Einfluß auch in rückständigen Gegenden der weißen Welt. Die Kirchen konnten ihn nie ausrotten, sie zogen ihm nur ein christliches Mäntelchen an. Schließlich verschwanden die alten Gespenster im kühlen Licht der empirischen Naturwissenschaften oder zogen sich in die schlecht beleuchteten Winkel des Unterbewußtseins zurück.

In dem gleichen Geiste des wissenschaftlichen Rationalismus haben viele westliche Gelehrte in den vergangenen hundert Jahren die einheimischen afrikanischen Glaubensvorstellungen erforscht. Sie haben aber in der animistischen äußeren Form nur wenig vom Wesentlichen wahrgenommen. In der ganzen Welt betrachten jedoch die Völker, die an ihrer Tradition festhalten, den Menschen als untrennbar von der Natur und haben daher immer die Existenz ihrer verborgenen Kräfte anerkannt; manche Menschen haben die angeborene Fähigkeit, sie anzuwenden. Wenn Männer und Frauen von hoher Spiritualität die universalen Gesetze kannten und gewillt waren, sie zu beachten, dann war ein solches Wissen nicht von Übel, während jene, die auf niedrigerer moralischer Entwicklungsstufe standen, es mißbrauchen konnten. Der Afrikaner hat zwischen diesen beiden Kategorien immer einen scharfen Unterschied gemacht. Regenmacher und Heiler (die selten aus ihren Gaben einen Vorteil hatten) waren immer gesucht und geschätzt, während jemand, der im Verdacht stand, einem anderen Menschen oder einer Gemeinschaft Böses anzutun, oft verfolgt und als des Lebens unwürdig beseitigt wurde.

Was aber kann man - innerhalb und jenseits der magischen Aspekte - finden, das das Herz der afrikanischen Religionen genannt werden könnte, und kann man es mit der Überlieferung der universalen Weisheit verbinden?

Der Kontinent beherbergt eine Menge verschiedenartiger Völker, die von den großen Tutsi bis zu den ganz kleinen Pygmäen reichen. Es gibt 'Primitive' wie die Dinka und die Buschmänner, die außer dem Allernotwendigsten keinerlei materiellen Besitz haben, während zum Beispiel die Yorubas oder die Ashanti Werke in Stein, Metall und Holz schufen, die heute von Kunstsammlern in der ganzen Welt sehr gesucht sind. Obgleich wir kein allgemeines Bild geben können, kann doch gesagt werden, daß die meisten Völker in Afrika an einen höchsten Gott, an einen Allvater glauben, der oft von einer großen Mutter Natur begleitet wird, die sich mehr um ihre lebenden Geschöpfe liebevoll kümmert. Diese Eltern werden zuweilen mit einem Sohn dargestellt, der gleichzeitig Kind und Gemahl der Muttergestalt ist. Man sieht hier deutlich eine Parallele zu den vielen bekannten Dreieinigkeiten wie Brahma-Vishnu-Siva, Osiris-Isis-Horus oder zu der ursprünglichen christlichen Dreieinigkeit von Vater-Heiliger Geist-Sohn, in der der Heilige Geist weiblich war.

Was den Menschen anbetrifft, so identifiziert sich kein Afrikaner mit seinem Körper, auch nicht mit seinem "Schatten" oder seiner astralen Form. Er erkennt vielmehr in seinem Herzen ein mit Gott verbundenes göttliches Prinzip, das bei Gott bleibt und sich nicht in das materielle Dasein verstrickt, sondern das menschliche Bewußtsein überschattet, das sich in der Seele oder in den "Seelen" manifestiert. In manchen Fällen sind sie charaktermäßig mit den verschiedenen ägyptischen "Seelen" eng verwandt oder auch mit den Lebenselementen, die in den orientalischen Philosophien beschrieben sind.

Es besteht fast allgemein der Glaube an eine Art Wiedergeburt oder Metamorphose - wenn man diesen Glauben auch nicht mit der von uns vertretenen Idee der Reinkarnation vergleichen kann. Aber auch hier ist es ein langer Weg bis zu dem bleibenden Wissen, das die scheinbaren Ungerechtigkeiten im Leben erklärt. Doch fast immer ist der Afrikaner überzeugt, daß die Natur gerecht ist; und wenn die Dinge schiefgehen, so ist die Ursache dafür wahrscheinlich das fehlerhafte Verhalten irgendeines Individuums. Wenn jedenfalls die Ursache festgestellt ist (vielleicht durch Methoden, die für den Westen unannehmbar wären), dann müssen bestimmte Schritte unternommen werden, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Ist das im wesentlichen nicht das Prinzip von Karma?

bild_sunrise_21979_s121_1Wenn man sich weiter umsieht, so stößt man auf alte Sagen von versunkenen Kontinenten, von Zivilisationen, die von Riesen zerstört wurden, die die Erde unter ihren donnernden Schritten erzittern ließen, und von "früheren" Völkern, die nur Zwerge waren. Wir hören auch von Reisen in die Unterwelt, die an die Fahrten der Helden in anderen Teilen des Globus erinnern.

Bildtext: Mpongwe-Maske, Kongo; Weiblicher Vorfahr.

Einige Mythen scheinen bis in die Zeiten des grauen Altertums zurückzugehen, in denen die geschlechtliche Fortpflanzung, wie wir sie heute kennen, für die menschliche Rasse noch neu war. Sie mußte erst von den Göttern und Göttinnen belehrt werden. Damals waren die Frauen das stärkere Geschlecht, nicht nur, weil sie sich fortpflanzen konnten, sondern auch weil "die Mysterien der Götter und die geheimen Dinge nur ihnen bekanntgegeben wurden."5 In alledem hören wir wieder das Echo der universalen Weisheitsüberlieferungen, die von verschiedenen Menschenrassen berichten, die den Planeten bewohnten. Es gab verschiedene Fortpflanzungsmethoden; in einem Stadium der Entwicklung war der Mensch androgyn, bevor er sich in zwei Geschlechter trennte.

So wie die alten Mittelmeervölker glauben auch die Afrikaner, daß jeder Stein oder sprudelnde Bach einen ihm innewohnenden Geist besitzt. Die Theosophie schreibt sie dem Elementalreich zu.

Überall, wo wir Spuren der wahren Weisheitsreligion finden, ist das Wissen 'abgestuft' - das heißt, es gibt ein oberflächliches Wissen für jedermann, das genügt, um eine Grundlage zur Führung eines moralischen Lebens zu bilden und eine Stütze in schwierigen Zeiten zu sein. Doch in diesen exoterischen Lehren ist das innere Geheimnis, der esoterische Aspekt, enthalten, der nur für diejenigen zugänglich ist, die sich aufgrund der Entwicklung ihrer geistigen Aufnahmefähigkeit und ihrer einwandfreien Lebensführung dafür eignen. Dies gilt auch in Afrika.

Eine interessante Bestätigung dafür finden wir im zweiten Teil der Autobiographie des verstorbenen Louis S. B. Leakey6, der durch die archäologischen Entdeckungen bekannt wurde, die er zusammen mit seiner Frau Mary Leakey in der Olduwai-Schlucht in Ostafrika machte. Wahrscheinlich weniger bekannt ist die Tatsache, daß er, als er in Kenia aufwuchs, in den Kikuyu-Stamm aufgenommen wurde und sich immer als Kikuyu betrachtete, auch wenn er ein Weißer war. Da er ein vielseitig interessierter Mann war, ging er 1937 daran, eine ausführliche Studie über die Bräuche seines Stammes zu schreiben. Dabei stand er unter der ziemlich zermürbenden Beaufsichtigung von etwa hundert Ältesten, von denen zwei beauftragt waren, beständig bei ihm zu bleiben, wenn er arbeitete. Obgleich er durch seine Aufnahme in den Stamm mit gewissen Aspekten der religiösen Lehren der Kikuyu vertraut war, gibt er freimütig zu, daß es viel zu lernen gab, worüber seine Generation nicht unterrichtet worden war. Und selbst unter den Ältesten bestand ein hierarchisches Gefüge. Leakey war ein Älterer des zweiten Grades.

Ein noch beredteres Beispiel finden wir in den Studien von Marcel Griaule und seiner Mitarbeiter unter den Dogon von Mali. Von 1931 an hat dieser französische Ethnograph das Leben dieser bemerkenswerten Menschen erforscht, die seine Fragen geduldig vom exoterischen Standpunkt aus beantworteten. Erst nachdem sie ihn sechzehn Jahre lang beobachtet hatten und seine Fragen immer eindringlicher wurden, so daß man sie nicht länger mit "einfachem Wissen" beantworten konnte, beschlossen sie, ihm ihr "tiefes Wissen" anzuvertrauen. Obgleich dieses Wissen esoterisch ist, ist es dennoch, streng genommen, nicht geheim, denn es steht allen offen, die meinen, es aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihrer moralischen Lebensführung zu verdienen. So kommt es, daß viele, die die eine oder andere Verantwortung in der Gemeinschaft tragen, "an der Seite der zuständigen Älteren sitzen", um dieses Wissen zu erlangen - ein Prozeß, der sich langsam entwickelt, ja in der Tat lebenslang dauert. Es ist wiederum bemerkenswert, die Analogie mit dem Sanskritwort upanishad festzustellen, das übersetzt wird mit "niederzusitzen in der Nähe von" und bedeutet, daß jemand zu Füßen eines anderen sitzt, so daß auf diese Weise geheimes Wissen übermittelt werden kann; mit der Zeit kam es dann, daß dieses Wort die esoterischen Lehren selbst bedeutete. Ebenso bemerkenswert ist es, daß die Sammlung der überlieferten Lehren, die als die Upanishaden bekannt wurden, ungezählte Generationen hindurch von Mund zu Ohr mitgeteilt wurden, bevor sie etwa 600 v. Chr. niedergeschrieben wurden. Es war genauso wie bei den Dogon, wo das "tiefe Wissen" von dem Jünger, der bereit war, in der richtigen Gemütshaltung an den Knien der Älteren niederzusitzen, mündlich empfangen wird.

Als Griaule und seine Mitarbeiter die exoterischen und die esoterischen Mythen erforschten, fanden sie schließlich, daß diese

ein logisches System von Symbolen zu sein schienen, das ein Gedankengebäude ausdrückt, welches man nicht einfach als Mythe bezeichnen kann. Denn dieses Gefüge von Begriffen offenbart, wenn man sie studiert, einen inneren Zusammenhang, ein geheimes Wissen und ein Erfassen grundlegender Realitäten, gleich jenen, von denen wir Europäer überzeugt sind, daß wir sie erlangt haben.7

Erstaunlich ist, daß dieses "tiefe Wissen" ganz offensichtlich schon immer da war, aber auch Griaule, dessen Motiv keinesfalls oberflächliches Interesse war, mußte erst seinen Wert beweisen und die richtigen Fragen stellen. Germaine Dieterlen, die viele Jahre mit ihm zusammenarbeitete, berichtet, daß sie die Erfahrung gemacht hat, daß es dem Initiator, ganz gleich welchen Grad an Wissen er besitzt, nicht erlaubt ist, dem Einzuweihenden von sich aus irgend etwas zu enthüllen, wenn er nicht danach gefragt hat. Sie veranschaulicht das mit einem kleinen Vorfall, der sich während ihrer Forschungen ereignete: Tag für Tag ging sie an den gleichen aufrechtstehenden Steinen vorüber, die ihre Neugier erregt hatten, aber ihr Gewährsmann, mit dem sie 25 Jahre zusammengearbeitet hatte, gab ihr von sich aus keinerlei Erklärung. Schließlich, als sie wieder einmal an diesen Steinen vorübergegangen waren - so erzählte Madame Dieterlen -, "sagte ich lachend zu ihm - denn in Afrika sind die Menschen sehr heiter -: 'Damit hat es irgendeine Bewandtnis, und Sie haben mir nichts darüber gesagt!'" Er erwiderte: "Sie haben mich nicht gefragt."8 Darauf erklärte er ihr die symbolische Bedeutung der Steine. Diese Hüter ihrer alten Überlieferungen befolgen genau die Regeln, die von den echten Okkultisten jederzeit befolgt wurden: Wahrheiten werden nur mitgeteilt, wenn danach gefragt wird, und es wird nicht mehr davon mitgeteilt, als der Empfänger verstehen kann; wenn jemand nur ein paar Tropfen braucht, ist alles weitere nutzlos, denn es wird nicht aufgenommen werden.

Wenn wir über die spirituellen Schätze Afrikas so wenig wissen, könnte das wohl deshalb sein, weil wir, was die Kultur anbetrifft, peinlich genau auf äußere Einzelheiten achten; wenn es sich aber um das Herz und um die Seele dessen handelt, was die Menschen glauben, wir so selten die richtigen Fragen in der richtigen und innerlich aufnahmefähigen Haltung gestellt haben?

Fußnoten

1. Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchten wir darauf hinweisen, daß wir uns hier, wenn wir von Kulturen und Religionen Afrikas sprechen, nicht mit dem am Mittelmeer gelegenen Afrika befassen, weder mit dem modernen noch mit dem alten. [back]

2. Dieser arabische Gelehrte, der etwa 1485 in Granada geboren wurde, ist auch als Al-Hasan Ibn Muhammad Al-Wazzan Al-Zaiyati bekannt. Bei einer seiner häufigen diplomatischen und Handelsmissionen in Nordafrika wurde er von Piraten gefangen genommen und Papst Leo X. als Sklave übergeben. Nach einem Jahr Gefangenschaft trat er zum Christentum über und nahm den Namen Leo an. Er lebte in Rom, wo er mehrere gelehrte Werke schrieb, aber vor 1530 kehrte er nach Afrika zurück, wo er etwa 1554 in Tunis als Moslem starb. [back]

3. The Lost Cities of Africa, von Basil Davidson, Little, Brown and Company, Boston/Toronto, revidierte Ausgabe 1970, S. 93. [back]

4. Das Leben Griechenlands, von Will Durant, S. 237, Bern, o. J. [back]

5. Woman's Mysteries of a Primitive People, von D. Amoury Talbot, 1915, S. 196. [back]

6. By the Evidence, Harcourt Brace Jovanovich, Inc., New York und London, 1974, 276 Seiten. [back]

7. African Worlds, Studies in the Cosmological Ideas and Social Values of African Peoples, herausgegeben bei Daryll Forde, Oxford University Press, 1954, S. 83. [back]

8. Réincarnation et Vie Mystique en Afrique Noire, Presses Universitaires de France, Paris, 1965, Seite 185-186. [back]