Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Der Geschichtenerzähler von Samos

Ich fand das kleine Buch des berühmten Geschichtenerzählers in der Kinderabteilung der öffentlichen Bibliothek. Es muß sehr viel gelesen worden sein, denn manche Blätter waren sorgfältig repariert, weil die Kinder das Buch beim Lesen sehr abgenützt hatten. Es handelte sich um Äsops Fabeln. Äsop hat diese Fabeln ursprünglich nicht Kindern erzählt, sondern hatte sie bei den Bürgern Griechenlands als politische Argumente benützt. Wie dem auch sei, anscheinend sind es heute die Kinder, die diese kurzen Geschichten von sprechenden Tieren lieben und schätzen, die in uns das Gefühl erwecken, eine nützliche moralische Lektion gelernt zu haben.

Äsop soll vor etwa 2600 Jahren geboren worden sein, und obgleich viele Städte ihn für sich beanspruchen, scheint er doch auf der schönen griechischen Insel Samos gelebt zu haben - derselben Insel, auf der Pythagoras, der berühmteste der alten Philosophen Griechenlands, zwei Generationen später geboren werden sollte. Es wird auch erzählt, daß Äsop ein Sklave von Iadmon gewesen sein soll, einem auf Samos wohnenden Griechen. Die Geschichte sagt nicht, warum oder wie Äsop ein Sklave wurde; wir wissen aber, daß zu jener Zeit in Griechenland viele zu Sklaven wurden, weil sie in Schulden gerieten. Möglicherweise hat Äsops Vater den Knaben Iadmon gegeben, um damit eine Schuld zu bezahlen. Iadmon war gut zu Äsop. Er muß erkannt haben, daß der Knabe ungewöhnlich intelligent, zuverlässig, begierig zu lernen und imstande war, philosophische Schlüsse zu ziehen. Anscheinend hat Äsop schon gleich in der ersten Zeit seiner Unfreiheit die Zuneigung seines Herrn und dessen Familie durch seine geistigen Fähigkeiten und durch sein Geschichtenerzählen gewonnen. "Hört auf die Tiere", sagte er zu seinen Zuhörern, "denn ihr könnt viele Dinge von ihnen lernen. Hört auf das Schwein und auf die Kuh, denn sie sind auf ihre Art weise."

Man erzählt, Äsop sei nach seiner Freilassung in Staatsdiensten tätig gewesen. Man sagt auch, er sei in jener Zeit nach Athen gegangen, als das Volk gegen Pisistratus, den Tyrannen, rebellierte, der zwar angesehen, aber unrechtmäßig an die Macht gekommen war. Pisistratus hatte unmittelbar nach den weitgehenden Verfassungsänderungen, die sein Verwandter und Vorgänger Solon, der große athenische Weise und Gesetzgeber, vorgenommen hatte, die Macht ergriffen. Der Überlieferung nach hat Äsop die Bewohner Athens erfolgreich davon abgehalten, Pisistratus zu stürzen, indem er ihnen die folgende Fabel erzählte:

Die Frösche hatten Zeus gebeten, ihnen einen König herabzusenden. Zeus warf einen Holzklotz in ihren Teich, der ihnen als Regent dienen sollte. Anfangs fürchteten die Frösche den Klotz - er sah so groß aus und rollte hin und her. Dann fingen sie an ihn zu verachten, weil er so still dalag. Schließlich verloren sie allen Respekt und setzten sich darauf. Sie beschlossen, Zeus um einen tatkräftigeren König zu bitten. Daraufhin warf ihnen Zeus einen Aal in den Teich. Den Aal fanden die Frösche genügend tatkräftig, und außerdem war er ein gutmütiger, unbekümmerter Gefährte - doch als Regent war er unbrauchbar. So baten sie Zeus ein drittes Mal: "Wir möchten einen richtigen König, einen König, der uns wirklich regiert." Zeus war ungeduldig geworden, weil sie so quakten und klagten. Deshalb sandte er einen Storch. Der Storch war weder untätig noch gutmütig. Er verschlang jeden Tag einen oder zwei Frösche. So dauerte es gar nicht lange, und es waren keine Frösche mehr da, die quaken konnten.

Nur ein ganz dummer Staatsbürger hätte nicht begreifen können, was Äsop damit sagen wollte.

Äsop schrieb seine Fabeln nicht nieder, und die Geschichten, die er erzählte, stammen auch nicht alle von ihm. Oft übernahm er sie aus den vorhandenen völkischen Überlieferungen. Die Fabeln enthalten eine ganz besondere Art von Weisheit. Es ist die Weisheit aus den kollektiven Volkserfahrungen, die man meistens Tiere sagen und tun ließ. Obgleich es möglich ist, daß die Tierfabeln von einer gemeinsamen indo-europäischen Quelle stammen und von Auswanderern in West und Ost verbreitet wurden, tauchten sie doch, schriftlich niedergelegt, unabhängig in Indien und Griechenland auf. Joseph Campbell1 berichtet uns, daß die buddhistischen und die jainistischen Fabeln religiöses Wissen lehren, während Äsop und das brahmanische Panchatantra Lebensweisheiten bringen. Die Fabel enthüllt nicht wie die Mythe transzendentale Mysterien; sie ist vielmehr eine kluge Erläuterung politischer oder ethischer Dinge. Fabeln muß man nicht glauben, sondern verstehen.

Einige moderne Gelehrte behaupten, daß Äsop überhaupt nicht gelebt habe und daß die Griechen ihn erfunden hätten. Es ist wahr, das, was wir über ihn "wissen", ist unvollständig. Ohne Zweifel ist vieles davon Legende. Doch selbst wenn Äsop nie gelebt hätte, so verbleibt dennoch die Tatsache, daß die alten Griechen glaubten, daß er gelebt habe. So haben die Ereignisse und Umstände, die in bezug auf sein Leben behauptet werden, eine symbolische Bedeutung, ganz gleich, ob sie wahr oder erfunden sind - so wie das Leben aller Menschen in der Mythe übertrieben dargestellt wird.

Der Überlieferung nach gehörte er zu einer sehr gelehrten Gruppe, zu den sieben Weisen, den weisesten Männern Griechenlands, die es zu Äsops Zeiten gab. Obgleich dazu mehr als sieben Namen genannt werden könnten, so würden doch bestimmt die berühmtesten, wie der Athener Solon und Thales von Milet, dazu gehören. Es wäre schwer zu beurteilen, welcher von den beiden Männern der Menschheit bei der Suche nach Wahrheit mehr geholfen hat. Thales war Philosoph und Naturwissenschaftler, Mathematiker, Techniker - und, wie die anderen Weisen, ein Mann, der gleichzeitig Praktiker und Gelehrter war. Vor allem war er der erste große bekannte Denker in der Geschichte, der den Menschen und die Natur studiert hat, so wie sie sind, frei von Dogma und religiösen Vorurteilen.

Solon dagegen war in erster Linie Staatsmann, der als Herrscher von Athen dort seine umgestaltenden demokratischen Vorstellungen einführte. Sein System, gleiche Freiheit vor dem Gesetz, zeigte den zukünftigen Demokratien, einschließlich der unseren in der heutigen Zeit, den Weg. Solon, der beständig sein Wissen zu erweitern suchte, war es auch, der auf einer Reise durch Ägypten von einem Priester zu Sais die Geschichte von dem versunkenen Kontinent Atlantis hörte. Diese Geschichte wurde seinen Nachkommen überliefert. Einer davon war Plato, durch dessen Schriften wir davon erfuhren.

Gegen Ende seines Lebens ging Äsop an den Hof von Krösus, dem sagenhaft reichen König von Lydien, dessen Hauptstadt Sardes im Inneren des Landes Ionien lag. Die Legende berichtet, daß Krösus als Gastgeber Solon und andere von den sieben Weisen zu einem Gastmahl einlud, bei dem auch Äsop anwesend war. Dabei verblüffte Kleobulos von Lindos durch seine berühmten Rätsel, und Bias von Priene trug die neuesten Sentenzen vor, während Chilon aus Sparta bedeutungsvolle Aussprüche wie "Erkenne dich selbst" und "Nichts im Übermaß", die ihm zugeschrieben werden, hören ließ. Welche Fabeln hat Äsop da wohl erzählt?

Wenn diese Szene auch legendär ist, so ist sie dennoch nicht ohne Bedeutung. Sie zeigt, daß weise Männer mit Königen zusammensitzen, daß Weisheit so viel wert ist wie Macht und Reichtum. Man sieht auch, daß Äsop derselben Bruderschaft angehörte, die alle wahren Philosophen und Weisen die Jahrhunderte hindurch vereinigt. So konnten die weisesten auch mit ihm darüber scherzen, daß er ein Sklave gewesen war, denn jetzt war er in seinen intellektuellen Errungenschaften ihresgleichen. Als etwa zweihundert Jahre später der Bildhauer Lysippos beauftragt wurde, für Athen Statuen der größten Männer Griechenlands zu schaffen, war auch die Statue von Äsop zusammen mit denjenigen der sieben Weisen aufgestellt worden.

Man könnte sich fragen, warum die Griechen Äsop den Schöpfer der Fabeln nannten, wo doch alles, was er getan hat, nur darin bestand, sie von überallher zusammenzutragen. Die Antwort ist, daß er natürlich viel mehr getan hat. Seine hohe Intelligenz, seine rednerische Begabung, die Auswahl der Geschichten beim Erzählen und die neuartige Geschicklichkeit, sie zu erzählen, müssen ihn von anderen Geschichtenerzählern seiner Zeit unterschieden haben. Und die Zeit war reif. Griechenland war im Begriff, urbaner (gebildeter) zu werden. In einem Zeitalter der Tyrannen, in dem freie Sprache gefährlich war, benützte Äsop die Fabeln, um politische Ideen zu verbreiten und auch um seine eigene philosophische Ansicht über das Leben zu veranschaulichen. Was er nicht vorbehaltlos zu sagen wagte, konnte er Tieren in den Mund legen, deren Charakterzüge besondere menschliche Eigenarten bekamen und die durch das, was sie taten, grundlegende moralische Wahrheiten zum Ausdruck brachten. Die Fabel war in der politischen Debatte so wirkungsvoll, daß sie später in Griechenland (und auch in Rom) von den Rednern in ihre Rede mit eingebaut wurde, wie man heute eine Ansprache nach dem Festessen mit einem passenden Scherz abschließt. Viele Wahrheiten werden auch heute noch am wirkungsvollsten zum Ausdruck gebracht, indem man eine von Äsops treffenden symbolischen Darstellungen wiedergibt: die Gans, die die goldenen Eier legte; die Schildkröte und der Hase; der Junge, der zu oft "Wolf" schrie und damit blinden Alarm schlug; der Wolf im Schafspelz; der Fuchs und die "sauren" Trauben; die Heuschrecke und die Ameise; das Bellen der Katze; die Stadtmaus und die Landmaus.

Äsops Fabeln sind auf vielen Wegen und in ebenso vielen Übersetzungen zu uns gekommen. Der erste Sammler, von dem man weiß, daß er sie in Prosa niedergeschrieben hat, scheint Demetrius Phalereus gewesen zu sein, ehemaliger Verweser von Athen und Gründer der Alexandrinischen Bibliothek um 300 v. Chr. Seine Sammlung von etwa zweihundert Fabeln wurde von Phädrus, einem griechischen Freigelassenen des Kaisers Augustus, in lateinische Verse übersetzt. Von dieser Übersetzung stammt vorwiegend der moderne Äsop.

In der Zwischenzeit sind Tiergeschichten aus Indien über Alexandrien in die römische Welt eingedrungen, wo in der christlichen Ära schon sehr früh eine Sammlung davon zusammengestellt wurde. Mit der als "lybische Fabeln" bekannten Sammlung wurde es Brauch, die Fabeln allgemein als "Moral" lehrend zu betrachten. Um 230 n. Chr. wurden diese von Äsop und aus alten indischen Quellen stammenden Fabeln von Valerius Babrius in die griechische Versform mit lateinischem Versmaß übertragen und dem jungen Sohn von Alexander Severus gewidmet.

Während des Mittelalters wurde das Netz der Übertragungen aus dem Griechischen und Lateinischen in europäische Sprachen zu verwirrt, so daß es hier nur flüchtig beschrieben werden kann. Es gab sogar hebräisch-aramäische und arabische Fassungen. Die letzteren waren zum großen Teil indischen Ursprungs, aber unter Äsops Namen im Umlauf. Die Kreuzzügler - Normannen, Franzosen und Engländer - brachten die Fabeln mit in die Heimat und erzählten sie dort in ihrer jeweiligen Landessprache, obgleich die lateinische Ausgabe von Phädrus die ursprüngliche Quelle für die Gelehrten bildete. Mit der Erfindung der Buchdruckerkunst wurde um 1480 eine deutsche Ausgabe des Buches von Äsop herausgegeben und bald in alle anderen Hauptsprachen Europas übersetzt, einschließlich einer englischen Ausgabe, herausgegeben von Caxton 1484. Diese enthielt eine geschmacklos illustrierte "Lebensbeschreibung" Äsops.

Für das von dogmatischem Christentum durchtränkte mittelalterliche Europa war Äsop ein Heide; auch haftete ihm das Brandmal an, ein Sklave gewesen zu sein. Diese Vorurteile sind vielleicht schuld an der erfundenen Geschichte, er sei häßlich und mißgestaltet gewesen. Dafür gibt es überhaupt keinen Beweis aus alter Zeit. In Wirklichkeit ist das Gegenteil wahr. Obgleich die Statue, die Lysippos hergestellt hatte, nicht mehr existiert, wissen wir, daß sie eine edle Figur darstellte und nicht die bucklige Gestalt, die ein italienischer Bildhauer in Marmor gehauen hatte und die in der Villa Albani in Rom aufgestellt war. Diesem Märchen widerspricht auf jeden Fall eine griechische Keramik, die im Museum des Vatikan zu besichtigen ist. Sie stellt einen dunkelbärtigen, scharfblickenden Äsop dar, der einen Fuchs beobachtet. Beide haben einen normalen Körperbau.

Die besten Fabeln enthalten eine gewisse Schärfe. Ihre Ironie ist jedoch nicht böswillig. Alle großen Menschheitslehrer haben in ihren Lehren Allegorien, Mythen oder Fabeln angewandt; und es war der beliebte griechische Philosoph Apollonius von Tyana, der im ersten Jahrhundert n. Chr. den Wert der Fabel am besten erklärte. Die Gelegenheit dazu bot sich bei einer der vielen Versammlungen, als die Jünger auf seine weisen Reden warteten. Apollonius fragte, was sie für wertvoller hielten, die griechischen Mythen, wie sie in homerischer Dichtkunst erzählt werden, oder eine von Äsops Fabeln?

Menippus, ein Jünger, antwortete spöttisch, "die Mythen."

"Und was denkst du über die Geschichten von Äsop?" fragte Apollonius.

"Frösche", sagte Menippus, "und Esel und Unsinn, nur tauglich, von alten Frauen und Kindern begierig aufgenommen zu werden."

"Und doch, ich für meinen Teil", erwiderte Apollonius, "ich finde sie zum Erlangen von Weisheit förderlicher als die Mythen des Dichters, die sich mit Helden in einer solchen Weise befassen, daß sie damit bestimmt die Seelen ihrer Hörer zerstören, denn der Dichter erzählt Geschichten über ausgefallene Leidenschaften, blutschänderische Vermählungen und verleumdet wiederholt die Götter, indem er schildert, wie sie ihre Kinder verschlingen, gemeine Verbrechen verüben und miteinander streiten. Das Vorgeben und der Anschein der Wirklichkeit führen die schwächeren Menschen dazu, die Geschichten nachzuahmen. Äsop dagegen brauchte sich erstens nie mit jenen zu identifizieren, die solche Geschichten in Verse kleideten - er hatte seine eigene Methode -, und zweitens benützte er gleich jenen, die an den bescheidensten Tischen gut zu speisen verstehen, einfache Ereignisse, um große Wahrheiten zu lehren. Nachdem er die Geschichte erzählt hatte, fügte er gute Ratschläge hinzu. Er war der Wahrheit näher als die Dichter."

Vielleicht haben die Fabeln deshalb so lange überlebt - über 2500 Jahre! Und darum ist wahrscheinlich das kleine Buch in der Kinderbibliothek so abgenützt.

Fußnoten

1. The Flight of the Wild Gander, Viking Press, New York, 1969, S. 19. [back]