Der Weg der Stoiker
- Sunrise 1/1978
Die Philosophie der Stoiker kam in einer Zeit auf, in der die Menschen ihre Ideale nicht in der Zukunft suchten, sie gehörten vielmehr der Vergangenheit an. Von der Zukunft erwarteten sie nicht viel mehr als Langeweile und Leere. Die Sklaverei war das schlechte soziale Fundament, auf dem die gesamte herrliche griechische Zivilisation ruhte. Das gewöhnliche Volk litt unter schrecklicher Armut; das Wirtschaftssystem stand hoffnungslosen Problemen gegenüber; die politischen Verhältnisse waren offenbar ganz aussichtslos. Es war ein müdes Zeitalter, das inmitten der herrlichsten Bauwerke, die die Welt je gesehen hat, verlief, und dennoch hatte die ererbte Herrlichkeit keine Beziehung zu den bestehenden menschlichen Verhältnissen. Das alles war der Nährboden für das Christentum, dessen Hoffnung auf ein besseres Leben außerhalb dieser Welt gerichtet war, und die Matrix für die edelste dem Leben zugewandte Philosophie des Altertums, der Lehre der Stoa.
Gilbert Murray, dessen gelehrte Abhandlungen uns über diese weit zurückliegenden Jahrhunderte aufklären, nennt den Stoizismus
... das größte System organisierten Denkens, das sich der menschliche Verstand in der griechisch-römischen Welt aufgebaut hatte, bevor das Christentum kam... Der Stoizismus kann entweder als eine Philosophie oder als eine Religion bezeichnet werden... Ich glaube, daß er eine Möglichkeit für die Betrachtung der Welt und der praktischen Probleme des Lebens bietet, die für die menschliche Rasse noch immer von ständigem Interesse ist und eine dauernde Quelle der Inspiration darstellt.
Wie kann eine Lebensbetrachtung, die in einem Zeitalter der Mutlosigkeit und der schwachen Nerven geboren wurde, für Menschen späterer Zeitalter immer noch anziehend sein? Warum verschwand sie nicht, als die speziellen Verhältnisse, aus denen sie geboren war, vorbei waren?
Eine der Eigentümlichkeiten in der menschlichen Geschichte ist es, daß, wenn sich die Verhältnisse ändern, eine Philosophie oder eine religiöse Glaubensrichtung, die mit diesen zusammenhängt, nicht immer verschwinden muß. Dafür ist das Christentum ein sichtbares Beispiel und die Philosophie der Stoiker ebenfalls. Beide überlebten lange die Verhältnisse, aus denen sie ursprünglich entstanden waren und zur Entfaltung und Reife kamen. Dennoch waren beide auch weiterhin in den seitdem verflossenen Jahrhunderten anziehend und inspirierend. Die Lebensanschauung der Stoiker ist mehr als nur eine emotionale Reaktion auf ein entmutigendes Zeitalter. Teilweise war sie es, aber sie war auch eine auf Realität begründete Lebensphilosophie, die von nachdenkenden Menschen länger respektiert wurde, als wenn sie nichts weiter als eine andere philosophische Verteidigung gegen eine versagende Zivilisation gewesen wäre.
Die Philosophie der Stoiker ist auf Metaphysik aufgebaut, auf eine Theorie der grundlegenden Natur der Dinge, auf das, was das Universum in seiner Essenz ist. Sie machte die westliche Welt mit der alten orientalischen Anschauung bekannt, die noch immer das religiöse Denken beherrscht, daß die Welt eine Seele, einen Geist hat, eine Einheit ist. Die Stoiker sahen das Weltall als einen lebenden Organismus, wobei jeder Teil in das Gesamtschema genau paßt.
Die Welt bestand für sie nicht aus einer Ansammlung getrennter Atome, was man damals weit und breit annahm; sie war vielmehr ein zu einer Einheit integrierter Organismus, ja sogar mit einem eigenen Leben. Daher kann nichts lediglich durch Zufall eintreten, denn alles steht mit dem Ganzen in Verbindung. Alles, was geschieht, im großen oder kleinen, im Universum oder in unserem persönlichen Leben, ist das Resultat der Kette von Ursache und Wirkung; es ist eine Verkettung, von der niemand weiß, wo oder wann sie begann, und die endlos weitergeht, in alle Zeit.
Zenon, der Gründer der Stoa (altathenische Philosophenschule), äußerte sich etwa 300 v. Chr. folgendermaßen:
Der gedankenlose Mensch nimmt an, er sei ein unabhängiges Ganzes in dieser Welt, vollständig für sich selbst. Sein eigenes persönliches Wohl ist das Kriterium für jede Wahl, die er zu treffen hat. Wahre Weisheit beginnt jedoch dann, wenn der einzelne sich selbst als ein Fragment, als ein Teil eines perfekten Ganzen, des Weltalls, erkennt. Er ist verpflichtet, die allen Dingen zugrundeliegende gesetzmäßige Ordnung der Naturgesetze zu seinem eigenen Maßstab zu machen, nach dem er sich richtet.
Das ist die Grundlage einer der bestfundierten Philosophien, die jemals aus der menschlichen Erfahrung mit den Unberechenbarkeiten und Enttäuschungen des Lebens entwickelt wurden: der Mensch ist ein Teil der universalen Ordnung, ein untrennbarer Teil der Natur, und alles, was in seinem Leben geschieht, ist unter dieser größeren Perspektive zu verstehen.
Was wir heute gewöhnlich als stoische Haltung ansehen, enthält etwas von der Wahrheit der klassischen stoischen Philosophie, aber nur einen Teil. Bei dem Wort Stoizismus denken wir an Mut, Unbeugsamkeit, Standhaftigkeit angesichts widriger Umstände. Der Stoiker nimmt alles auf sich, ganz gleich was kommt, indem er sein Leben weiterführt, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Auflehnung. Diese fundamentale Lebensphilosophie hilft den Menschen, nicht durch Selbstbemitleidung zermalmt zu werden. Sie half Robert E. Lee1, die schwere Prüfung seiner Niederlage mit Würde und Vornehmheit zu bestehen. Mark Aurel, der römische Kaiser des 2. Jahrhunderts, der berühmteste aller Stoiker, drückte die Philosophie so aus:
Alles harmonisiert mit mir, was mit dir harmonisch ist, oh Universum! Nichts ist für mich zu früh oder zu spät... Alles ist Frucht für mich, was deine Jahreszeiten bringen. Oh Natur, von dir sind alle Dinge, in dir sind alle Dinge, zu dir kehren alle Dinge zurück.
Die stoische Philosophie, ein Import aus dem alten Griechenland, verschmolz mit den hohen alten römischen Tugenden der Ehrfurcht, Rechtschaffenheit und Pflicht. Im Zeitalter des römischen Verfalls hielt sie die bürgerliche und soziale Ordnung aufrecht und lehrte denkende Menschen, was wahre Freiheit ist; daß sie letzten Endes nicht von den Gesetzen und dem Schwert abhängt, sondern vom inneren Leben des einzelnen. "Nichts ist wert, gelebt zu werden, außer Rechtschaffenheit!" war eine stoische Grundmaxime. Alle gewöhnlichen Maßstäbe, denen die Menschen Wert beimessen - was sind diese im Endeffekt? Was sind Rang, Reichtum, gesellschaftliche Anerkennung, Vergnügen, rassische oder nationale Schranken? - Nichts als Äußerlichkeiten! Nichts ist gut außer Rechtschaffenheit.
Welch außerordentlichen Mut eine solche Haltung hervorbringen kann, wird durch den Stoiker Stilpo veranschaulicht. Nachdem seine Stadt durch die Mazedonier geplündert worden war, wurde er gefragt, was er durch diese Katastrophe verloren habe. Bei der Feststellung, daß sein Haus abgebrannt war, sein Geld verschwunden, seine Frau und seine Kinder Gott weiß wohin zerstreut waren, war er dennoch heiter und gelassen. "Meine Gerechtigkeit, mein Mut, meine Mäßigung, meine Klugheit gehören mir immer noch." Sokrates, der, lange bevor die Stoische Philosophie entstand, stoisch gestorben war, wurde später durch die Stoiker dieser Haltung wegen, die er während seines Prozesses gezeigt hatte, verehrt. Er hatte sich geweigert, die Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen, und angesichts des Todes seine Ruhe bewahrt. Sie bewunderten seine Gleichgültigkeit, die er gegen sein persönliches Unglück, gegen die allgemein üblichen Konventionen, gegen körperliche Beschwerden und Beschimpfungen besaß. Epiktet, der freigelassene Sklave, bestätigte diese Haltung, die durch diese Philosophie den Schlägen des täglichen Lebens gegenüber gestärkt wird:
Ich muß sterben, aber muß ich wehklagend sterben? Ich muß eingekerkert sein, aber muß ich deshalb auch jammern? Ich muß die Verbannung erleiden, aber kann mich jemand daran hindern, mit Anstand bereitwillig und in Frieden zu gehen? Das liegt in meiner Macht. "Aber ich werde dich in Ketten legen!" Was sagst du, mein Lieber? Mich in Ketten legen? Du kannst mein Bein anketten, ja, aber meinen Willen nicht, den kann nicht einmal Zeus überwältigen. "Ich werde dich einkerkern." Mein bißchen Körper meinst du wohl.
So sah die praktische Haltung aus, die die Stoiker einnahmen, wenn sie davon sprachen, "das ewige Leben der Natur zu teilen." In Übereinstimmung mit ihrem Glauben an die allem zugrundeliegende Weltseele, von der alles Existierende ein unzertrennlicher Teil ist, waren sie der Meinung, daß Vernunft im Herzen der Dinge zu finden ist, die alles im Leben belebt und kontrolliert, der Mensch und dessen Belange eingeschlossen - nicht Intellekt, sondern Vernunft. Nichts geschieht, was der Wahrheit im Herzen aller Dinge entgegensteht, und wenn du weise bist, wirst du dich nicht im Trotz dagegen auflehnen, sondern mit Anstand annehmen, was auch immer das Leben bietet; auch die unangenehmen und sogar die schmerzlichen Erfahrungen, so wie sie kommen. Diese wurden nicht für dich persönlich ersonnen, sondern sind ein Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, in der alles in gegenseitiger Beziehung steht und in Harmonie mit der universalen Vernunft ist - welche die Christen Gott nannten.
Es gibt eine interessante Ähnlichkeit zwischen dem Stoizismus und dem Christentum, das erst etwas später begann. Epiktet sagt: "Sage auf jeden Fall niemals, ich habe dieses oder jenes Ding verloren, sondern vielmehr, ich habe es zurückgegeben. Ist dein Kind tot? Es ist zum Universum zurückgekehrt; es ist zur Natur zurückgekehrt, von der es dir für eine Zeitlang gegeben wurde." Will Durant sagt dazu: "In einem solchen Ausspruch spüren wir die Nähe des Christentums und der unerschrockenen Märtyrer. Sind in Wirklichkeit die christliche Ethik der Selbstverleugnung und das christliche völkische Ideal der Bruderschaft nicht so zu verstehen, daß sie nur Bruchteile der Lehre darstellen, wie sie von den Stoikern vertreten wird, bzw. in dem Gedankenstrom enthalten ist?" Das grundlegendste, gemeinsame Element im Stoizismus und im Christentum war dieser Glaube an die Einheit, an den Geist, der das Weltall belebt.
Der Stoizismus hat der Menschheit einige der vernünftigsten Köpfe geschenkt, die die Welt je kannte. Jedoch auch diese veranschaulichen manchmal gerade die besonderen Schwächen, die diese Philosophie als Lebensführung für die Menschheit im allgemeinen hatte. Zenon hielt zum Beispiel nichts von Sklaverei. Doch eines Tages schlug er seinen Sklaven wegen irgendeines Vergehens. Als der Sklave daraufhin protestierte und meinte, daß doch nach Zenons Philosophie alles, was geschieht, ein Teil der natürlichen Ordnung sei und somit der Sklave dazu bestimmt wäre, jenen Fehler zu begehen, antwortete Zenon, daß zufolge der gleichen Philosophie aber auch er dazu bestimmt sei, den Sklaven dafür zu schlagen.
Ein solcher Determinismus (Überzeugung von der Unfreiheit des Willens) stellte eines der schwierigsten Probleme des Stoizismus dar: Wie konnte man die menschliche Freiheit mit dieser Anschauung in Einklang bringen? Wenn die Kette von Ursache und Wirkung sowieso alle Dinge bestimmt, warum sollte dann der Mensch sich überhaupt den Kopf darüber zerbrechen, welche Haltung er den Ereignissen des Lebens gegenüber einnehmen soll, denn ist nicht bereits seine Einstellung, die er dazu einnimmt, ebenfalls vorherbestimmt? Den gleichen Schwierigkeiten begegnet man bei jeder Philosophie und Religion, die den Glauben an einen Gott, der über das Weltall und über das menschliche Leben herrscht, enthalten: Die Macht Gottes ist geeignet, alles, was im Leben eintritt, zu erklären und dazu beizutragen, sich damit abzufinden. Wird man jedoch nicht durch eine solche herrschende Macht der Freiheit beraubt, frei zu handeln, zu denken und ein Individuum zu sein?
Auch hier war es Seneca, der im ersten Jahrhundert eine Anzahl bedeutender Epigramme prägte, die Lebensführung, Tod und Ergebenheit zum Inhalt hatten: "Niemand kann glücklich leben, der nur sich selbst sieht und alle Dinge zu seinem eigenen Vorteil wendet. Ihr müßt für andere leben, wenn ihr für euch leben wollt." "Wenn euch das, was ihr habt, nicht genügt, dann werdet ihr unzufrieden sein, auch wenn ihr die ganze Welt besitzt." Enttäuschend ist nur, wenn man feststellt, daß Seneca, der Verfechter von Uneigennützigkeit, Zufriedenheit und Genügsamkeit, selbst ein Millionenvermögen anhäufte, indem er während der römischen Herrschaft in Britannien Geld auslieh. Es heißt, die ungeheuren Zinsen, die er forderte, waren einer der Gründe, weshalb sich Königin Boadicea gegen Rom auflehnte. Oft versagten Stoiker, wenn sie sich entschließen mußten, ihre hervorragende Weisheit in die Praxis umzusetzen. Ihr intellektueller Scharfsinn schien nicht immer die erforderliche Überzeugungskraft zur Durchführung eines selbstlosen Lebens zu haben.
Doch es gab auch Epiktet, den verkrüppelten Sklaven aus dem ersten Jahrhundert, der als innerlich freier Mensch lebte und starb, während Kaiser Nero, der Herr seines Herrn, als elender Sklave seiner Lüste lebte und starb; seine Leidenschaften bildeten die Fesseln. Epiktets Schriften sind durchdrungen von orientalischer Resignation, mit beinahe christlichem Geist der Entsagung. "Erwarte nicht, daß sich die Dinge so ereignen, wie du es möchtest, wünsche vielmehr, daß diese so eintreten sollen, wie sie es tun, und du wirst glücklich leben."
Einer der besten Männer der amerikanischen Kirche, Harry Emerson Fosdick, schrieb am Ende seines Lebens, daß der beste Rat, den er je erhalten hatte, ihm in seiner Jugend von seinem Vater gegeben wurde. Als dieser eines Morgens das Haus verließ, sagte er zu seiner Frau: "Sage Harry, daß er heute Gras schneiden kann, wenn er es möchte." Er ging einige Schritte die Straße entlang und rief dann zurück: "Und sage Harry, es wäre besser, wenn er es möchte." Das Echo dieses Vorschlags von seinem Vater war lange Zeit danach noch immer im Ohr von Dr. Fosdick: "Wenn du die Aufgaben, die dir gefallen, nicht erhältst, so entschließe dich zu versuchen, daß die Aufgaben, die du bekommst, dir gefallen!"
Natürlich gibt es auch Grenzen für eine derartige Einstellung. Epiktets Gebieter verdrehte eines Tages aus Zeitvertreib das Bein seines Sklaven. Epiktet sagte ruhig: "Wenn Sie das weiter tun, so werden Sie mein Bein brechen." Das Drehen ging weiter, und das Bein brach. Epiktet bemerkte milde: "Sagte ich Ihnen nicht, daß Sie mein Bein brechen werden?" Geduld haben, Leiden ertragen, ja, aber müssen Menschen mit Charakter und Rückgrat alles akzeptieren, was auf sie zukommt? Oder nur die unvermeidlichen Dinge, die durch menschliche Intelligenz und Bemühung unmöglich geändert werden können?
Mark Aurel war ein vollendetes Beispiel für das stoische Ideal. Seine Selbstbetrachtungen zeigen, wie dieses Ideal für einen Menschen zur Religion werden konnte, indem es ihn ermutigte, der Hoffnungslosigkeit gewisser menschlicher Situationen entgegenzutreten - und er brauchte gewiß Stärke, um mit dem fertig werden zu können, was auf ihn als Kaiser zukam. Während seiner Regierung gab es viel Unglück, viele Erdbeben, viele Seuchen, lange und schwierige Kriege und revolutionäre Aufstände. Er schlug die Barbaren zurück, die aus dem Norden eindrangen, und gab der römischen Kultur vielleicht weitere zweihundert Jahre Leben. Mark Aurel ist jedoch eine beklagenswerte Figur in der menschlichen Geschichte. Dieser intelligente und gewissenhafte Mann, der weiseste und beste aus dem Geschlecht des Antonius, zeugte einen Sohn, Commodus, der sich als einer der korruptesten der römischen Kaiser entwickelte - was bei dieser Konkurrenz gar kein leichter Rekord war.
Die geistige Höhe der dem Stoizismus zugrundeliegenden Weisheit und die oft bescheidenen persönlichen und sozialen Leistungen, die dieser bei Geringeren als Markus hervorbrachte, führen zu ernüchternden Vorstellungen. Es schien etwas in den Lebensgewohnheiten und Gedankengängen der Stoiker vorhanden zu sein, das den Antrieb für eine positive Lebenseinstellung beeinträchtigte. Vielleicht haben diese guten und weisen Menschen sich derart mit den Übeln des Lebens abgefunden, daß sie gegenüber den Grundursachen dieser Übel apathisch und gleichgültig wurden und unfähig waren zu handeln, um diese zu beheben. Vielleicht hat sie aber auch die Betonung der universalen Vernunft dem emotionellen Fluß und Puls des Lebens gegenüber so gefühllos werden lassen, so daß menschliche Sympathie relativ wenig Platz in ihrer Lebensweise finden konnte.
Der Stoizismus hat jedoch dem Leben und Denken eine Bedeutung hinzugefügt, wofür die Menschen auch später noch dankbar waren. "Ein kurzes Leben ist am besten. Lebe, als wärest du auf dem Gipfel eines Berges. Es ist gleich, ob dein Platz hier oder dort ist. Wo immer du bist, sei ein Weltenbürger." Dieses von Mark Aurel aufgestellte Ideal ist nicht so leicht zu vergessen, und es wurde auch nicht vergessen. Das bleibende Verdienst der Stoiker ist ihre großartige Auffassung von der menschlichen Einheit auf Erden, ihr kosmopolitischer Sinn für die menschlichen Beziehungen, die dem Christentum eine beträchtliche Zeit vorausgingen. "Wenn Gott und die Menschheit verwandt sind", schreibt Epiktet, "so gibt es für uns nur einen Weg: antworte niemandem, der nach deinem Land fragt, 'Ich bin ein Athener, ich bin ein Korinther.' Warum sollten wir uns nicht Bewohner des Universums, Söhne Gottes nennen?" Und Mark Aurel sagte: "Insofern als ich Antonius bin, ist meine Stadt, mein Land Rom; aber insofern als ich ein Mensch bin, ist es die Welt."
Die Stoiker haben zum spirituellen Leben der Menschheit eine klare und großartige Philosophie beigesteuert. Sie zeigt, wie man lernen kann, dem Unglück mit Würde und Mut zu begegnen, und da das Menschenleben Leiden und Unglück als Teil seines normalen Inhaltes mit sich bringt, so wird die Menschheit immer diesen Geist benötigen, der zeigt, daß das Leben als untrennbarer Teil einer größeren Wirklichkeit anzusehen ist. Diese Weisheit trägt die Zeichen einer Reife, die viele unserer heutigen Philosophen und Religionen noch erreichen müssen.