Eingang zum Licht
- Sunrise 1/1978
Jedes Jahr, wenn die ersten Krokusse sich ihren Weg zum Licht bahnen, wissen wir, daß der Frühling da ist. Immer wieder ist man von der zeitlichen Genauigkeit der Natur überrascht, denn sei es früh oder spät, der Frühling mit all seinen Wundern kommt immer wieder. Die Zyklen des Werdens und Vergehens, von Flut und Ebbe, von Geburt und Tod scheinen sich ständig zu wiederholen, und zwar immer in einer spiralförmigen Kurve. Wo die eine endet und die andere anfängt, ist schwierig zu sagen, so sehr sind sie miteinander verwoben, denn schon mit der Blüte setzt der Verfall ein, und es gibt keinen Tod ohne eine Erneuerung, die mit Bestimmtheit eintritt.
Nehmen wir zum Beispiel unseren eigenen körperlichen Tod; wie wenig verstehen wir seine Bedeutung, beziehungsweise dessen absolute Notwendigkeit, wenn wir uns weiter entfalten wollen. Ohne Tod gäbe es keinen Fortschritt, kein Wachstum, kein Leben: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" (Johannes 12:24). In den religiösen Schriften des Ostens wie auch des Westens ist viel über Himmel und Hölle und die Riten geschrieben worden, die durchzuführen sind, wenn die Seele sicher zu dem "anderen Ufer" geleitet werden soll. Aber wer ist je aus den jenseitigen Welten zurückgekommen, um diese Ansprüche zu rechtfertigen? Eine Frage, die in jedem Zeitalter gestellt worden ist, und dennoch haben wir noch viel zu lernen.
Die Ägypter hatten zum Beispiel ihr "Totenbuch" - Pert em Hru, Verse mit Anweisungen über "das Heraustreten ins Tageslicht"1 -, in denen der Abgeschiedene Stufe für Stufe durchläuft: seinen "Eingang zum Licht", seine Prüfung in der "Feuerprobe" und, wenn er dem letzten göttlichen Gericht unterworfen wird, wenn das Herz mit dem Zünglein an der Waage ausgewogen wird, seine Erleuchtung mit dem Wissen über die geheimen Wege des Todes - und des Lebens. Um zu wissen, wie man weise leben muß, muß man wissen, wie man sterben muß.
Auch die Tibeter haben ein "Totenbuch" - Bardo Thödol -, das die drei Phasen der Zustände nach dem Tode genau beschreibt und Anweisungen gibt, wie man auf den "karmischen Pfaden" wandern muß, wenn die Seele sich von ihrem Gedankenkörper befreit und schließlich in das "klare Licht des Nichts" eingeht. Und auch Plato hat viele Hinweise auf die Rückkehr der Seele zur Erde gegeben, der Seele, die nach dem Tode durch nichts als durch sich selbst gerichtet wird. In Indien finden wir die Upanishaden, die das gesetzmäßige Zurückziehen der prânas oder Lebensenergien umreißen, so daß die Seele und der Geist, von den Ketten des Körperlichen befreit, in jene Bereiche eintreten können, von denen sie angezogen werden. Was die ureingesessenen Völker anbetrifft, haben sie nicht auch etwas, von dem wir lernen können? Manche von ihnen wissen intuitiv, wenn ihre Zeit gekommen ist und bereiten sich bewußt auf dieses Ereignis vor. Sie heißen den Tod als einen Freund, nicht als einen Feind willkommen. Dasselbe gilt für die Indianer, die den Geist ihrer tapferen Krieger begrüßen, wenn er "der Sonne entgegengeht", zum Vater, dem Großen Geist.
Wir im Westen haben die Verbindung mit der Weisheit unserer Vorfahren verloren. Wir haben die innige Verbindung mit der Natur verloren, die uns helfen würde zu empfinden, daß unser Leben hier auf der Erde nur aufeinanderfolgende Szenen in einem zeitlosen Drama der Erfüllung der Seele darstellt: unser vielfaches Sterben ist so natürlich wie das Fallen der Blätter im Herbst; unsere vielen Geburten sind so willkommen wie das Grünwerden der Bäume im Frühling. Es ist so einfach, doch wir haben diese Dinge dadurch kompliziert, daß wir uns zu sehr mit äußeren Dingen befaßt haben, und zwar auf Kosten der intuitiven Wahrnehmung, die wir haben könnten. Demzufolge ist unser Verständnis für die "Kunst des Sterbens", um den treffenden Ausspruch eines mittelalterlichen Autors zu verwenden, wie auch für die Kunst des Lebens nur äußerst gering.
Heute ist jedoch eine recht erfolgversprechende Änderung zu verzeichnen, die durch das intensive Eindringen in die Mysterien der vielfachen Bewußtseinszustände des Menschen veranlaßt wird, besonders in jene, die gegebenenfalls den Tod überdauern. Eine wachsende Anzahl von Forschern ist überzeugt, daß eine Form des Lebens den Tod des Körpers überlebt. Dieses Thema wird in volkstümlichen Büchern und Zeitschriften, in Vorträgen, in Universitätskursen und in Seminaren intern und extern behandelt. Für diese neue Welle des Interesses ist vielleicht die in der Schweiz geborene Psychiaterin Dr. Elizabeth Kübler-Ross am meisten verantwortlich. Sie hat in den letzten zwanzig Jahren in Europa und in den Vereinigten Staaten mit unheilbaren Kranken sehr eng zusammengearbeitet, um vor allem bei den Betroffenen ein größeres Verständnis für ihre inneren Bedürfnisse zu schaffen und ihnen und ihren Lieben besonders darin zu helfen, den Tod als einen natürlichen Teil des Lebens anzusehen. Wie zu erwarten war, kam es zu einer beträchtlichen Opposition, nicht nur unter den Kollegen; aber diese hat sie nur in ihrem Entschluß bestärkt, den Weg für die zahllosen Männer und Frauen zu erleichtern, die unmittelbar dem Tod entgegensehen, entweder ihrem eigenen oder dem eines lieben Verwandten oder Bekannten.
Als wir im vergangenen Februar den Vortrag von Frau Dr. Ross in einem vollbesetzten Auditorium im California Institute of Technology hörten, empfanden wir ihr furchtloses Mitleid, das durch ein freimütiges, diszipliniertes Denken gekennzeichnet war. Für sie sind Patienten keine "Fälle", es sind Menschen, Seelen, die sich in einer Krise befinden, die das Bedürfnis haben, ihre Befürchtungen und auch Hoffnungen anderen mitzuteilen, und die oft auch intuitiv ihren tatsächlichen Zustand erfassen und dadurch in Frieden und ohne Gegenwehr in die Phase des Sterbens eingehen können.
Ohne Gegenwehr - ist das nicht ein wesentlicher Faktor, um dem Karma des Leidens seelisch, geistig und körperlich positiv entgegentreten zu können? Wir sollten uns dabei nicht passiv dem Schicksal unterwerfen und nichts tun, was konstruktiv mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften eine Linderung herbeiführen könnte. Jedes menschliche Wesen macht in seinem Leben Krisen durch und muß sie bestehen. Einige dieser Krisen lassen dauernde Narben zurück, andere lassen sich nur teilweise lösen, aber es werden immer Herausforderungen kommen; alte Krisen müssen bewältigt werden, neue treten auf. Es gibt jedoch Zeiten, wenn der Ansturm alles zu erdrücken scheint, wenn ein liebenswerter Bekannter oder Verwandter eine ernsthafte Krankheit, die gemütsmäßig oder körperlich unheilbar ist, durchstehen muß. Dann bekommt das Gebet von Jesus am Ölberg zum Passahfest erst die wirkliche Bedeutung: "Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe."
Wie sehnen wir uns danach, den Becher der Bitterkeit von den Lippen eines anderen oder von unseren eigenen Lippen zu nehmen, jedoch läßt sich dies oft nicht bewerkstelligen. Der nächste Vers jedoch gibt die verschlüsselte Antwort: "Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn" (Lukas 22:43). Sobald wir wie Jesus erkennen, daß das Gesetz erfüllt werden muß, akzeptieren wir unser Schicksal, und wenn wir dann unseren persönlichen Willen dem Größeren Willen unterordnen, erfahren wir vielleicht die Berührung eines "Engels", durchdringt uns Mut, Geduld und Liebe.
Der Vortrag an jenem Abend und die einfachen, klaren Antworten von Frau Dr. Ross auf Fragen aus der Zuhörerschaft brachten die Gewißheit, daß "die Erfahrung über den Tod und nicht so sehr die Abschirmung vor dem Tod" dem Sterbenden und dem Lebenden das so ersehnte Verständnis und das gewünschte Einfühlungsvermögen vermittelt. Wie ganz anders ist diese Auffassung! Der Tod wird nicht als Unheil, sondern als "ein erwarteter und unerläßlicher Teil des Lebens" angesehen. Frau Dr. Ross hat aus eigener Kenntnis die Berichte von Hunderten von Männern und Frauen jeden Lebensalters und jedweder Lebensumstände nachgeprüft, die "von den Toten zurückgekehrt sind." Es ist erstaunlich, wie genau die Berichte in mehreren Einzelheiten übereinstimmen. Viele sprechen davon, daß sie gesehen haben, wie ihr Körper tot dalag, wobei sie sich genau all der Dinge bewußt waren, die um sie herum vorgingen, und daß sie sich kurz in einem dunklen Tunnel oder Tal befanden, im Begriff in herrlichstes Licht einzutreten, als sie plötzlich zurückgerissen wurden. Einige glaubten, daß, wenn sie die unsichtbare Trennlinie zwischen der Dunkelheit und dem Licht überschritten hätten, der Tod vollständig gewesen wäre. Einige kehrten nur widerwillig zurück. Alle sprachen ausführlich von dem unglaublichen Frieden, der sie irgendwie erfüllte, und von dem Licht - einige waren in Licht getaucht, andere fühlten sich durch ein "Lichtwesen" geleitet. Beinahe alle sahen ihre lieben Angehörigen und Bekannten, die sie erwarteten.2
Kennzeichnend war auch, daß sie ihre Leben panoramaartig vorüberziehen sahen, wobei sie keine Atmosphäre der Mißbilligung, keinen strafenden oder belohnenden Gott wahrnahmen. Es war vielmehr, wie jemand gesagt hatte, wie eine "Lichtbildervorführung" seines gesamten Lebens bis zu dem betreffenden Augenblick und enthielt jeden Gedanken und jede Tat, sogar jedes Wort der jeweiligen Angelegenheit. Die meisten sagten, sie hätten sehen können, wie ihre Gedanken und Handlungen andere beeinflußt hatten, und dies war in manchen Fällen eine Art Hölle. Es wurde ihnen plötzlich bewußt, daß wir selbst uns verdammen oder für gut halten.
Frau Dr. Ross sagte uns weiterhin, daß, als sie gefragt hatte, was das Bedeutungsvollste dieses Erlebnisses gewesen sei, was nach ihrer Meinung der wirkliche Zweck des Lebens sei, praktisch alle erwiderten, daß sie nie wieder Angst vor dem Tode haben würden, denn sie wüßten jetzt, was er sei, sie seien dort gewesen. Auch ihr Leben sei dadurch radikal besser geworden. Alle hatten letztendlich dieselbe Botschaft: "Es gibt nur zwei Dinge im Leben, die wirklich von Wert sind - Dienen und Lieben."
Ich habe über die vielen Menschen nachgedacht, bei denen ich im Laufe vieler Jahre beim Sterben dabei sein durfte; wie heilig die letzten Stunden eines Lebens sein können, und welchen Segen sie bei denen hinterlassen, die ihre Aufgaben auf Erden noch etwas länger fortführen müssen. Die Inschrift auf einem alten ägyptischen Sarg kam mir wieder in Erinnerung:
Du bist nicht gestorben,
Du bist zu Osiris gegangen, um zu leben -
Lebend gehen wir, nicht in den Tod, sondern zur Geburt, in ein neues Leben mit seinen wundersamen Erfahrungen in den Planeten-Sphären und sogar zur Sonne selbst, bevor wir wieder mit gestärkter Seele zur Erde zurückkehren, um weiter an dem Gewebe des nicht beendeten Teppichs unserer Leben zu wirken.
Sicherlich gibt es in jedem Leben kritische Wendepunkte, Gelegenheiten für Tod und Geburt, die verlangen, daß wir uns von Dingen lösen, an denen wir hängen - möglicherweise von einem langgehegten Traum, von einer insgeheim gehegten Hoffnung -, und ohne Zweifel werden wir zuerst Widerstand leisten. Es braucht Zeit und immer wieder karmische Lektionen, bevor wir die Saaten der Selbstsucht bereitwillig ausjäten; aber das Leben wird uns ständig anspornen, gerade dies zu tun. Hinter den vorüberziehenden Ereignissen, ob sie nun schmerzlich oder freudig sind, einen höheren Zweck anzuerkennen ist der erste Schritt zur Selbsterneuerung. Es ist seltsam, wie wir in späteren Jahren zurückblicken und erkennen können, als welche Wohltat sich eine sehr schwierige, karmische Auswirkung erwiesen hat, was für Wege sie für uns eröffnet hat, die zu beschreiten wir sonst nicht den Mut oder die Voraussicht gehabt hätten: "Das, was sich am Anfang als Gift erwiesen hat und am Ende als Lebenselixier ..." (Bhagavad-Gîtâ, XVIII).
Ja, Leben für Leben wird unsere Stärke und Liebe in tausendfacher Weise auf die Probe gestellt, aber immer, wenn wir es am meisten nötig haben, kommt von dem Schutzengel im Innersten unseres Wesens die erforderliche Kraft. Das ist die mitleidsvolle Reaktion der Natur für unser Entgegennehmen, für die Auslieferung unseres begrenzten persönlichen Selbst an den "Willen des Vaters", an das Göttliche in uns, das, wenn das persönliche Selbst zum Dienen bereit ist, den Kanal der Seele zum Licht öffnet.
Fußnoten
1. Im Tibetanischen Totenbuch wird auf S. XXIV 'Ägyptisches Totenbuch' übersetzt mit "Das Weg-Kommen vom Tag". [back]
2. Im Jahre 1975 hat Raymond A. Moody, Jr., M. D., nachdem er von einem psychiatrischen Lehrstuhl am Universitätskrankenhaus von Virginia Urlaub genommen hatte, das Buch Leben nach dem Tod (186 Seiten, DM 18.50, Rowohlt-Verlag) veröffentlicht, das mit einem Vorwort von Frau Dr. Kübler-Ross versehen wurde. Er berichtet darin über die "Erfahrungen in der Nähe des Todes" bei sehr vielen Personen, die "klinisch tot" waren, jedoch ins Leben zurückkehrten. Dr. Moody versucht nicht, die Berichte zu deuten, die er nacheinander und unabhängig voneinander viele Jahre hindurch erhalten hat, er zeigt nur, wie ähnlich sie sind. Seiner Forschung ist deshalb größere Glaubwürdigkeit zuzumessen, weil er Parallelen aus der alten Literatur anführt. Zum Beispiel die Vision des Er im Buch X in Platos Republik und die rituellen Anweisungen, die der abgeschiedenen Seele gegeben werden und in Evans-Wentz's Übersetzung des Tibetanischen Totenbuchs enthalten sind. [back]