Die Theosophie des alten Amerika, Teil 1
- Sunrise 3/1977
Im alten Amerika gab es eine Theosophie, die genau so erhabene, tiefschürfende Vorstellungen über das Universum und den Menschen lehrte, wie sie die Griechen oder Hindus hatten. Diese göttliche Weisheit wurde jedoch oft in Worten und bildlicher Ausdrucksweise niedergelegt, die anschaulicher waren als jene, die bei den Griechen oder Hindus gefunden wurden. Wir fangen erst an, die wahre esoterische Perspektive der vielen indianischen Kulturen richtig zu verstehen, die sich einst über ganz Süd-, Mittel- und Nordamerika erstreckten und in einigen Teilen heute noch existieren. Je mehr wir darüber erfahren, desto klarer wird es, daß sie alle eine gemeinsame religiöse Überlieferung hatten. Diese war in der gesamten Neuen Welt bekannt und wurde von Eingeweihten an geweihter Stätte in der jeweiligen Sprache und in der bildlichen Darlegung, die den örtlichen Verhältnissen angepaßt waren, gelehrt.1 Denn wenn man allen diesen örtlichen Darstellungen den Aberglauben und den Formalismus nimmt, so enthalten sie größere Teile jener ursprünglichen, geheimen Lehre oder esoterischen Überlieferung, die auf dem ganzen Globus bekannt ist und die sowohl in der prähistorischen als auch in der historischen Zeit den Kern des menschlichen, spirituellen Dramas bildete.2
Die Verheerungen, die durch die Zeit, und die Zerstörungen, die von den Eroberern angerichtet wurden, haben uns nur unzusammenhängende Berichte über diese ursprüngliche Theosophie der Neuen Welt übriggelassen. Da die europäischen Eroberer erst kamen, als viele Stämme der Indianer schon sittlich und moralisch entartet waren und sich in einem materialistischen, blutdürstigen Zyklus befanden, während andere zu einem einfachen ländlichen Leben zurückgekehrt waren und Landwirtschaft betrieben, wurden sie alle von den Eroberern als tieferstehende Menschen, vielleicht sogar nicht einmal als richtige Menschen behandelt und dementsprechend hingeschlachtet; oder es wurde überhaupt keine Notiz von ihnen genommen. Durch die Blindheit der weißen Menschen und weil die Indianer in religiösen Dingen so verschwiegen waren, blieben die wahren inneren Werte dieser Religion im Dunkeln. Erst jetzt, nachdem die Folgen der rücksichtslosen Ausbeutung der menschlichen und der natürlichen Reichtümer unserer Länder unsere Augen für die Tatsache geöffnet haben, daß die Indianer in enger ökologischer Harmonie mit ihrer Umgebung leben und schon immer gelebt haben, wurden wir uns in höherem Maße bewußt, daß diese Dinge mehr Wert haben und sorgfältig gepflegt werden sollten.
Bildtext: Elf "Himmel" (Codex Vatican A).
Für die meisten unter den ureingesessenen Völkern Amerikas war jeder Aspekt des täglichen Lebens religiös. Sie erkannten, daß nicht nur die physischen, sondern auch die göttlichen und die spirituellen Kräfte des Sonnenuniversums in jedem Augenblick des irdischen Lebens eine Rolle spielten und im Denken des Menschen und in seiner Lebensführung beachtet werden mußten. Die vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht spiegelten die entsprechenden größeren Zyklen des universalen Sonnensystems bis in die kleinsten Einzelheiten wider. Das göttlich-spirituelle Herz dieses Sonnenuniversums, in dem sie lebten, war mit der physischen Sonne, die wir sehen, bekleidet. Diese war daher in unserem Sonnensystem der höchste Repräsentant einer noch erhabeneren kosmischen Gottheit. Sie lehrten, daß dieses Sonnensystem oder dieses Universum eine Zusammensetzung oder eine Hierarchie von Sphären, Ebenen oder Welten ("Himmeln und Höllen") ist, zu denen auch unsere Erdenwelt gehört, wobei manche höher und manche niedriger als die Erde sind; und daß dieses hierarchische Sternsystem aus einer sehr schwer zu beschreibenden himmlischen Quelle emanierte. Diese Quelle war der Ort, an dem die alles kennzeichnende Dualität geboren wurde oder ihren Anfang nahm, und jedes manifestierte Wesen war ein Funke oder ein Strahl davon. Der Mensch als Ganzes vereint in sich Elemente oder Entwicklungsstufen, die mit jeder Sphäre oder Welt allüberall im universalen Sonnensystem übereinstimmen.
Das Thema ist vielseitig, aber es kann gut erläutert werden, indem man aus den verbliebenen Resten der ursprünglichen Überlieferung einen einzelnen Begriff herausnimmt und Parallelen zieht. Betrachten wir zum Beispiel irgendeine dieser Ideen vom Gesichtspunkt der alten Mexikaner oder Nahuatl aus. Glücklicherweise besitzen wir authentische und sehr gute Informationen aus erhalten gebliebenen Manuskripten, von vielen Steinskulpturen in den Tempelruinen und aus Berichten früher spanischer Chronisten, die sie von eingeborenen Nahuatl, weisen Männern oder tlamatinime erfuhren. In den Aufzeichnungen der großen Mayavölker des vorgeschichtlichen Yukatan und Mittelamerika ist anscheinend ziemlich die gleiche Philosophie enthalten, aber es ist schwerer, sie zu erforschen, weil die Berichte der Mayamanuskripte und die Inschriften auf den Steinen nicht gelesen werden können.
Bildtext: Erde (oben) und acht "Höllen" (Codex Vatican A).
Die weisen Nahuatlmänner lehrten von neun, elf, zwölf oder dreizehn Sphären oder 'Himmel' über unserer irdischen Sphäre und von acht oder neun 'Höllen' oder Unterwelten unter der irdischen Ebene. Dreizehn und neun sind die Zahlen, die am meisten gefunden werden. Die höchste Gottheit wurde Ometéotl, 'der Gott der Dualität' genannt, und der Ort, an dem er wohnte, hieß Omeyocan, 'der Ort der Dualität'. Omeyocan war der Ort des kosmischen Ursprungs aller manifestierten Dinge und wurde verschiedentlich über die neun 'Himmel' gestellt, oder, wenn von mehr Himmeln gesprochen wurde, dann war er der dreizehnte oder höchste 'Himmel' oder die höchste Sphäre. Ometéotl schloß beide Hälften aller Zweiheiten, die die Manifestation kennzeichnen, wie männlich-weiblich, positiv-negativ, Geist-Materie, in sich ein. Beides wurde wunderbar beschrieben. Das Weibliche gehörte 'zu der Sternenwelt', und das Männliche war der 'Himmelskörper, welcher die Dinge erleuchtet'. Diese Vorstellung wird auf einem Fries in Teotihuacán, dem prächtigen Tempelzentrum vorgeschichtlicher Toltekenkultur, das im Nordosten der Stadt Mexiko liegt, deutlich dargestellt.3 Darauf ist Gott Ometéotl zu sehen, wie er die Welten der Form (die Ebenen oder Sphären), die unser Sonnenuniversum bilden, aus sich selbst erschafft.
Die Nahuatl-Hierarchie des Seins, die das Sonnensystem bildet, wurde oft in Zeichnungen dargestellt, wobei die Sphären übereinandergestellt wurden, in stufenartiger Weise, von der untersten bis zur höchsten Sphäre. Dabei wird Ometéotl auf jeder Stufe oder Ebene in einer männlich und in einer weiblich gekleideten Gestalt dargestellt, die sich, wie bei einer Unterhaltung, gegenübersitzen. Damit wurden in wunderbarer menschlicher Art die emanierten Veränderungen der einen Kraft in der dualen Manifestation in allen ätherischen und materiellen Sphären des Sonnensystems gezeigt.
Eine entsprechende Form dieser Vorstellung finden wir in den Hierarchien der lokas und talas, bipolaren Sphären der religiösen Philosophien der Hindus. Diese Vorstellung ist auch in den Darstellungen der verschiedenen Hindugottheiten ausgedrückt - jede ist ein Aspekt der einen göttlichen Kraft -, denn auch sie haben ihre entsprechenden saktis oder 'weiblichen' Aspekte oder 'Gefährten'. Der ursprüngliche Nahuatl-Begriff von Ometéotl entspricht in gewissem Sinne offensichtlich der philosophischen Lehre der Hindus von Parabrahman und Mûlaprakriti, der ursprünglichen göttlichen Kraft und ihres körperlichen Aspekts der Urmaterie als dem Ursprung der Dualität der Schöpfung oder Manifestation. Das Bild von Ometéotl als 'Schöpfer' oder als Ursprung der Welten der Form entspricht in der Tat der wohlbekannten Darstellung des Hindugottes Krishna, der in der Bhagavad-Gita sagt: "Ich errichte dieses ganze Universum mit einem einzigen Teil von mir, ohne meine selbständige Existenz dadurch aufzugeben." In dieser Skizzierung schließt Krishna deutlich beide Seiten der Dualität ein: männlich-weiblich, Licht-Dunkel, Geist-Materie; und es wird symbolisch gezeigt, wie aus seiner Hand, wie aus den Händen von Ometéotl alle Geschöpfe in der Welt der Formen hervorgehen. Krishna legt außerdem dar, daß in jedem Teil des Universums ein Teil von ihm existiert, obgleich er seine eigene Existenz nicht aufgibt.
Wir hoffen, in weiteren Artikeln mehr Einzelheiten aus dem wunderbaren Gebiet der kosmischen Philosophie, die in der Theosophie des alten Amerika verkörpert ist, bringen zu können.
Fußnoten
1. Einen besseren Eindruck gewinnt man hierüber durch das Studium und den Vergleich der geheimen Lehren der Winnebago-Stämme im mittleren Norden in The Road of Life and Death von Paul Radin (1945); der Prärie-Indianer - Sioux, Commanche und Cheyenne - in Seven Arrows von Hyemeyohsts Storm (1973); in den Nahuatl Kulturen von Mexiko in Burning Water von Laurette Séjourné (1956); und Aztec Thought and Culture von Miguel Léon-Portilla (1963); und auch der Pueblo-Indianer im Südwesten in Book of the Hopi von Frank Waters (1963); um einige der neuesten Studien über die ursprüngliche amerikanische Überlieferung aufzuzählen. [back]
2. Diese zeitlose und weltumfassende Überlieferung wird in folgenden Werken behandelt: Die Geheimlehre von H. P. Blavatsky (1888) und The Esoteric Tradition von G. de Purucker (1935). [back]
3. Das Wort Teotihuacán bedeutet in der Nahuatl-Sprache 'der Ort, an dem die Menschen Götter werden'. Offensichtlich war es ein großes Initiationszentrum. Das Wort Tolteke, ebenfalls aus dem Nahuatl, bedeutet 'Baumeister' oder 'Meisterkünstler'. Die meisten Sachverständigen glauben, daß die Tolteken eine besondere Volksrasse unter den prähistorischen Nahuatlstämmen waren. Andere wiederum bezweifeln diese Theorie. Der Schreiber dieses Artikels meint, daß sie eine Kaste von Initiierten gewesen sind, wahrscheinlich die Oberen aus einer Anzahl solcher Kasten, die in Schulen und Zentren an verschiedenen Orten des prähistorischen Amerika lehrten. [back]