Damit der Mensch auferstehe
- Sunrise 2/1977
Wie erstaunlich ist doch die Mannigfaltigkeit in der Einstellung des Menschen zu universalen und absoluten Ideen. In der ganzen Welt haben die Völker aller Zeiten versucht, das heilige Erbe des Menschen durch das Licht der Symbolik zum Ausdruck zu bringen, die ersonnen wurde, um auf die verschiedenen Bereiche der kulturellen Erfahrungen hinzuweisen. Der goldene Faden der Universalität, der mitten durch dieses gewaltige Panorama der Mythen, Erzählungen und Symbole hindurchgeht, kann leicht verlorengehen, wenn geduldet wird, daß die leise Stimme der Intuition verstummt, nur weil wir an Gedankenformen des eigenen Bildungs- und Kulturniveaus festhalten und es uns an Einfühlungsvermögen für unsere Brüder, die anderen Völker, mangelt.
Mir scheint, als hätten die sogenannten "primitiven Völker" der Welt schon lange versucht, sich ein eigenes Bild vom höhergeistigen Erbe des Menschen zu machen; aber wir haben durch unsere vielen eigenen Vorurteile, und weil wir den äußeren Formen - was wir unter "Zivilisation" verstehen - zuviel Gewicht gegeben haben, oft die Gelegenheit versäumt, unser eigenes Verständnis zu erweitern. Es gibt kein prägnanteres Beispiel hierfür, als die Kurzsichtigkeit, die von vielen westlichen Beobachtern vertreten wird, wenn sie sich mit den Mythen der einheimischen Völkerstämme Neuseelands - der Maori - befassen. Ihre wunderbaren Mythen über die Erschaffung der Welt und der Menschen könnten unser Verständnis für den spirituellen Ursprung der Menschheit gewaltig bereichern und vertiefen, wenn wir nur die Augen und die Ohren hätten, um die Stimme der tohunga (weise Männer) zu hören, die die altehrwürdigen karakia oder heiligen Mythen vortragen.
Diese weisen Männer sagen, daß es vor dem Anfang eine ungeheuere Zeitperiode des Nichts, Te Kore, gab. Dann kam die Ewigkeit von Te Po, als die Zeit in der großen Nacht eingehüllt war, in dem großen Unbekannten. Während dieser ungeheueren Periode der völligen Finsternis regten sich die Kräfte langsam und für uns unbegreiflich, um das Universum ins Dasein zu bringen. In einigen Maori-Überlieferungen werden diese universalen Kräfte als Teile eines großen Baumes beschrieben, wie bei den Chaldäern, den Skandinaviern und den Hindus, die Brahma als den ungeheueren, sich über alles ausbreitenden Baum des Universums darstellen. In anderen Fassungen gibt man ihnen Namen, die auf die verschiedenen Reiche der Schöpfer und Erbauer des manifestierten Universums hinweisen: Te Kune, das Empfangende; Te Pupuke, das Hervorfließende; Te Hihiri, das Bewahrende; Te Mahara, das Denkende; Te Hinengaro, das Gemüt; Te Manako, das Verlangen.
Von dieser großen Finsternis war und wird Io matuakore umgeben, wobei Io, das Elternlose - das höchste Wesen ist, das zu jeder Zeit existiert hat, das nichts geschaffen hat und doch der Ursprung des Universums und der Reiche der unteren Götter war.1 In der Zeit, als die Maori noch ihrem alten Glauben anhingen, war es schon eine Entweihung, seinen Namen auszusprechen, so verehrt wurde das höchste Symbol. Die Priesterschaft des Io setzte sich aus einer kleinen Anzahl Eingeweihter zusammen, die in der esoterischen Tradition und in den esoterischen Riten bestens geschult waren und zu deren Aufgaben es gehörte, die alten Überlieferungen des Maorivolkes im Gedächtnis zu bewahren und zu rezitieren.
Noch vor der Schöpfung der niederen Götter durchdrang mühevoll der erste schwache Lichtschimmer die Finsternis von Te Po. Allmählich wurde der Himmel hell, und Rangi nui, der Himmelsvater, erblickte die Erdmutter, Papa tu a nuku, weit unter sich und verlangte nach ihr. Die urzeitlichen Eltern vereinigten sich und hatten zahlreiche Abkömmlinge (nach einigen Überlieferungen 70) - übernatürliche Wesen, die alle männlich waren und die die verschiedenen Kräfte darstellen, die auf der Erde und in den verschiedenen empfindenden Lebensformen wirksam sind. Aber die Schöpfung war nicht vollkommen, denn Dunkelheit umhüllte die Erdmutter, als Rangi, der Himmelsvater, sie noch eng umarmt hielt. Ihre Söhne klammerten sich noch ein Zeitalter lang an die Seite von Papa und träumten vom Licht und von der Freiheit, die ihnen durch die Vereinigung von Himmel und Erde verwehrt waren.
Von der ersten Einteilung der Zeit bis zur zehnten und zur hundertsten und zur tausendsten war alles Finsternis. Der schwarze Himmel lag auf der Erde und machte sie öd und leer, und vergebens suchte sie nach ihrem Abkömmling in Form des Tages oder der Nacht.2
Schließlich waren sechs der übernatürlichen Wesen, die von Rangi und Papa in die Welt gesetzt worden waren, der Dunkelheit müde, und sie stritten sich erbittert, ob sie ihre Eltern mit Gewalt trennen sollten, "damit der Mensch auferstehe."
Der wildeste von ihnen, Tu-matauenga, der Gott des Krieges (der auch den Geist des Menschen darstellt), war der erste, der sprach und den Vorschlag machte, daß die Brüder ihre Eltern erschlagen sollten. Aber Tane-mahuta, der Gott der Wälder, des Wachstums und der Fruchtbarkeit, hatte einen anderen Plan: "Nein, nicht auf diese Weise. Es ist besser, sie auseinanderzureißen und den Himmel weit über uns stehen und die Erde unter unseren Füßen liegen zu lassen. Laßt den Himmel wie ein Fremdling für uns werden, aber die Erde soll uns als Pflegemutter nahe bleiben."3 Fünf Brüder stimmten diesem Plan zu, aber Tawhiri-matea, der Gott und Vater der Winde und Stürme, war aus Eifersucht auf seinen Bruder Tane, den "Urheber des Tages", als einziger anderer Ansicht, da er befürchtete, daß sein Reich überwältigt und die Erde zu schön werden würde; deshalb suchte er später bei seinem Vater, dem Himmel, Zuflucht und übte schreckliche Rache an seinen Brüdern.
Ein Zeitalter verging, während die Brüder Pläne ersannen, wie ihre Eltern endlich getrennt werden und der Mensch ins Dasein gerufen werden könnte. Dann erhob sich der Reihe nach jeder von ihnen, um diese furchteinflößende Aufgabe zu übernehmen. Aber selbst Tu, der Gott des Krieges, konnte sie mit all seiner wilden Kraft nicht auseinanderbringen. Dann kam die Reihe an Tane, den Gott und Vater der Wälder, der sich bedächtig, mit seiner ganzen Kraft - die Macht des Wachstums - einsetzte, und siehe! Himmel und Erde wurden getrennt, und die vielen mannigfaltigen Wesen, die auf dem Antlitz der Mutter Erde, Papa, herumkrabbelten, erblickten erstmals das Licht. Dies kommt in den alten Maori-Worten zum Ausdruck: "Es war der wilde Ansturm des Tane, der den Himmel von der Erde losriß, so daß sie auseinanderfielen und sich die Finsternis manifestierte, und so entstand das Licht."4 Die Kraft des Wachstums hatte den Geist und die Materie in die manifestierte Dualität auseinandergerissen, um den Abkömmlingen des EINEN, die sich jetzt frei an der Brust ihrer Nährmutter Papa, der Erde, bewegen konnten, Licht und Freiheit zu bringen.
Doch die Schöpfung war unvollständig, denn obgleich Tu, der Gott des Krieges, der den Geist des Menschen symbolisiert, frei umherstreifte, war kein Gefäß da, um dem Menschen in dieser neuen Lebenswelt Gestalt zu geben. Wieder fiel Tane die Aufgabe zu, dieses Mal in seiner Rolle als universaler Gatte, die Frau zu schaffen und dadurch den Zustand herbeizuführen - der von den Maori ira tangata, menschliches Leben, genannt wurde -, wo vorher nichts existiert hatte außer ira atua, der übernatürliche Zustand der Götter. In einer auffallenden Parallele zur biblischen Schöpfungsgeschichte formt Tane die Frau aus Erde "rot durch das Blut der Sehnen", die einst Rangi und Papa zusammengehalten hatten. In dieses leblose Bild aus Lehm blies Tane den Geist und die Kraft des Denkens ein, die er von Io, dem Höchsten Gott, erhielt; und auf diese Weise trat Hine-ahu-one, die aus Erde geformte Maid, die Vorläuferin des ira tangata, ins Dasein. Aus ihrer Verbindung mit Tane wurde Hine-titama, die Maid der Morgendämmerung, und daraus alle Rassen der Menschen geboren.
Viele frühere westliche Beobachter betrachteten diese bewundernswerte Symbolik mit Verlegenheit und Abneigung oder zitierten sie als das verwirrte Gestammel einer isolierten, primitiven Mentalität. Später haben Freud'sche Analytiker diese eindrucksvolle Darstellung universaler Wahrheiten im Sinne des sogenannten Ödipuskomplexes im Menschen gesehen. Wenn man jedoch kurz die Mythen anderer Rassen betrachtet und den Versuch macht, mit dieser Ausdrucksform das geistige Erbe des Menschen besonders hervorzuheben, kommt die großartige Universalität der Ideen zum Vorschein. In einer Version der ägyptischen Schöpfungsüberlieferungen werden die Gottheiten Nut, der Himmel, und Seb, die Erde, durch ihren Sohn Shu-Heka, den Gott der Luft, mit Gewalt voneinander getrennt. Im sumerischen Epos werden der Himmelsvater An und die Erdmutter Ki durch ihren Sohn Enlil getrennt, der wiederum den Gott der Luft verkörpert. Bei den alten Völkern Afrikas und Nordamerikas erzählten die weisen Männer ähnliche Legenden. Die Zuni-Indianer Neu-Mexikos berichten, daß in der weit zurückliegenden Vergangenheit mitleidsvolle Wesen, die danach trachteten, die Erde für das Leben geeigneter zu machen, den Himmelsvater mit ihrem "starken Wolkenbogen" emporhoben.5 Die alten Maori-tohungas (weise Männer) lehren uns in ihren wunderschönen Symbolen jedoch überzeugend, daß Rangi, der Himmel, und Papa, die Erde, immer noch um ihre verlorene Liebe trauern - die auseinandergerissen wurden, damit ihre Abkömmlinge sich im Hinblick auf ein selbstbewußtes Streben entwickeln können. Ganz bestimmt spiegelt sich innerlich im Herzen aller Söhne und Töchter von Rangi und Papa diese Sehnsucht nach bewußter Vereinigung von Materie und Geist wider.
Die zarten liebevollen Seufzer aus ihrer hingebungsvollen Brust [der Erde] erheben sich immer noch zu ihm empor. Sie steigen aus den waldreichen Gebirgen und Tälern, und die Menschen nennen sie Nebel. Der große Himmel aber, der während der langen Nächte über die Trennung von seiner Geliebten trauert, läßt häufig Tränen auf ihren Busen fallen, die die Menschen, wenn sie ihrer gewahr werden, Tautropfen nennen.6
Fußnoten
1. Vgl. Elsdon Best, Some Aspects of Maori Myth and Religion, Dominion Museum, Wellington, Neu Seeland, Monographie Nr. 1 ohne Datum; Seite 23-26. Siehe auch von demselben Autor Spiritual and Mental Concepts of the Maori, Dominion Museum, Monographie Nr. 2, Government Printer, 1922. [back]
2. Antony Alpers, Maori Myths and Tribal Legends, John Murray, 1964; Seite 16. [back]
3. Sir George Grey, Polynesian Mythology and Ancient Traditional History of the New Zealand Race, wie von ihren Priestern und Häuptlingen erzählt, 2. Ausgabe, H. Brett, Neu Seeland, 1885; Seite 2. [back]
4. Ebendort; Seite 3. [back]
5. Vgl. Philip Freund, Myths of Creation, Transatlantic Arts, New York, 1975; Seite 59. [back]
6. Grey, op. cit.; Seite 9. [back]