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Erneuerung folgt auf Erneuerung ohne Ende

Das Tao, das man zum Ausdruck bringen kann, ist nicht das ewige Tao. Der Name, der festgelegt werden kann, ist nicht der unveränderliche Name. Das Nichtsein nennt man den Vorgänger von Himmel und Erde. Das Sein ist die Mutter aller Dinge... Diese beiden sind gleichen Ursprungs und differenzieren sich in der Offenbarung.

Tao erzeugt Eins; eins erzeugt zwei; zwei erzeugt drei; drei erzeugt alle Dinge.

Alle Dinge sind mit einem Schatten versehen (yin) und sind dem Licht (yang) zugewandt und von dem immateriellen Atem (ch'i) aufeinander abgestimmt...

Groß fließt es (Tao) weiter (in ständigem Fluß). Im Weiterfließen entfernt es sich. Nachdem es sich entfernt hat, kehrt es zurück (zu dem, was am Anfang da war).

 

 

 

So beginnt und fährt das Tao-te-ching fort, das wohlbekannte taoistische klassische Werk des 6. Jahrhunderts v. Chr., das Lao-tse zugeschrieben wird. Einige Gelehrte bezweifeln, daß er je lebte; diese Ansicht entstand jedoch erst im 17. Jahrhundert unter den pedantischen Kritikern der Manchu-Dynastie in China. Der Historiker des 1. Jahrhunderts v. Chr., Ssema-ch'ien, erzählt uns, daß Lao-tse aus einer alten, hochgebildeten Familie stammte und mehrere Jahre lang als Archivar am Kaiserlichen Hof der Chou-Herrscher in ihrer Hauptstadt tätig war. Er war ein älterer Zeitgenosse von Konfuzius. Nachdem er sah, daß das Chou-Regime entartete, zog sich Lao-tse noch im mittleren Lebensalter zurück. Er erreichte wahrscheinlich ein hohes Alter, möglicherweise über neunzig Jahre, und hinterließ eine große Nachkommenschaft von Enkelkindern. Er wird gezeigt, wie er nach Westen wandert zu den großen Schneegipfeln im Hochland Zentralasiens. Am Grenzpaß zum Westen bat ihn der diensthabende Beamte, Yin Hsi, ebenfalls ein Tao-Anhänger, vor seiner Abreise ein Buch zu schreiben. Das knapp und bündig geschriebene Tao-te-ching, das wenig mehr als fünftausend Worte enthält, war das Ergebnis.

Dann verschwand Lao-tse, aber man glaubte, daß er periodisch in späteren Generationen in China wiedergeboren wurde. Der "Weg des Tao", der Gegenstand seines Buches, verliert sich mit seinen Anfängen im Nebel der chinesischen Vorgeschichte. Die Überlieferung behauptet, daß er von Fu Hsi und Huang Ti, zwei der fünf legendären "Wahren Menschen", die der ersten in China herrschenden Dynastie angehört haben, gelehrt worden war. Das Tao-te-ching, das mit "Die regenerierende Kraft des Weges" übersetzt werden kann, ist die am meisten übersetzte aller chinesischen Schriften. Nichtsdestoweniger enthält eine Sammlung taoistischer Studien, die bereits im Jahre 1445 n. Chr. veranlaßt wurde, allein 1464 einzelne Werke. Man sagt, daß kein Abendländer und wahrscheinlich auch kein Orientale jemals alle diese Werke gelesen hat. Der ganze Umfang der taoistischen Philosophie ist im Westen noch verhältnismäßig unbekannt.

Der Taoismus bringt zweifellos die für die chinesische Mentalität charakteristische geistige Vision zum Ausdruck. Alle großen Schulen und Kulte, die in diesem Lande florierten - Buddhismus, Mohismus1, Konfuzianismus und selbst der zeitgenössische Maoismus -, sind von taoistischem Gedankengut beeinflußt worden. Die chinesische Kunst und Ästhetik zeigen dies par excellence. Die Volksreligion des gemeinen Volkes, die sich um Wahrsagung, Medizin, Magie und um alltägliche Zeremonien dreht, war daraus abgeleitet. Sie bildet die Grundlage für die spezifisch chinesische Methode, Yoga oder die Vereinigung des menschlichen mit dem kosmischen Bewußtsein zu erlangen.2

Der Kern des taoistischen Gedankengutes umfaßt in Wahrheit die esoterische Tradition, die in Chinas langer kultureller Geschichte immer wieder zum Vorschein gekommen war. Sie war immer die nicht-offizielle Gedankenrichtung und Verhaltensweise, die von einer großen Anzahl chinesischer Denker und Gelehrter privat gepflegt wurden, trotz aller offiziellen Philosophien, die von den verschiedenen Königen oder Kaisern während der periodisch wiederkehrenden Zeiten der Unruhe in China verkündet oder aufgezwungen wurden. Die esoterische Tradition ist daher die authentischste Informationsquelle über die Kosmologie dieses großen Volkes im Osten, über ihre eigene Geschichte von den kosmischen Anfängen und der Schöpfung. Die Verse aus dem Tao-te-ching3 am Anfang dieses Artikels fassen die taoistische Vorstellung von diesen Anfängen und der fortschreitenden Entwicklung aller Dinge im Universum zusammen. Wie können wir ihre Bedeutung verstehen?

Zunächst sei gesagt, daß es zwei Taos gibt, zwei Begriffe. Sobald man dies erkennt und beachtet, wird vieles klarer, was die Leser des Tao-te-ching verwirrt hat. Das erste Tao ist jenes formlose, ruhige, keiner Änderung unterworfene, ewige, unerschöpfliche Große Etwas - das Nichtmanifestierte, aus dem alles Manifestierte entspringt. Es kann dem DAS gleichgesetzt werden, der ursprünglichen namenlosen Essenz der Hindu-Rishis. Einige Verfasser der Tao-Schriften nennen es "das Selbst-Existierende", die "Ursprünglichkeit", das "Selbst-so-Seiende". Hieraus wird das Tao, das benannt werden kann - das existierende oder offenbare Tao -, erzeugt. Dieses zweite Tao ist bekannt als "die Mutter der zehntausend Dinge", d. h. der gesamten Schöpfung. Aus diesem schöpferischen Tao entstehen die Zwei - yin und yang oder die "dunklen" und "hellen" Aspekte der Manifestation: Jene Bipolarität, die im gesamten Bereich des Seins beobachtet werden kann und die wir in unserer Zivilisation "Materie" und "Geist" oder - in einem anderen Zusammenhang - Substanz und Energie zu nennen pflegen. Diese Zwei werden Drei, indem sie ch'i erzeugen, Leben-Bewußtsein. Die wirkende Kraft des manifestierten Tao, ch'i, ist die mit Energie versehene Intelligenz, die die Entwicklung von yin-yang beherrscht und leitet. Sie wurde mit der abstrakten Menschheit identifiziert, im Sinne von Intellekt (da dieser die charakteristische menschliche Eigenschaft auf der Erde ist), der zwischen Materie und Geist vermittelt und in einer Hinsicht deren Kind ist. Yin-yang wird als göttliches Mutter-Vater-Symbol der Menschheit und aller empfindungsfähigen Geschöpfe betrachtet. Yang, dessen Symbol der Kreis ist, wird "Himmel" genannt und mit der Sonne in Verbindung gebracht. Yin, symbolisch durch das Quadrat dargestellt, wird mit "Erde" als Prinzip gleichgesetzt und mit dem Mond.

Im Taoismus ist diese Dualität von Geist und Materie (wir verwenden wieder unsere Begriffe) untrennbar. Keiner dieser Aspekte ist 'böse' oder 'gut', und keiner kann von dem anderen getrennt werden: Alle Gegensätze sind vermischt, alle Kontraste in Einklang. Das Ziel des taoistischen Philosophen war nicht die Erlangung eines "geistigen Zustandes", sondern die Herstellung eines völligen Gleichgewichts zwischen den beiden sich gegenseitig ergänzenden Prinzipien des Seins. Somit war im Denken des Philosophen kein Dualismus vorhanden. Für ihn war das Tao, das wir Göttlichkeit nennen würden, stets in jedem winzigen Teilchen oder Punkt des wechselnden bipolaren Stroms des manifestierten Universums gegenwärtig.

Das Große Tao fließt ständig in diese Manifestation und kehrt dann zu seinem ursprünglichen bedingungslosen Zustand oder seinem "Selbst-so" zurück. Daher enthält der Taoismus eine zyklische Vorstellung vom Universum, in dem ein Ausatmen aus dem Großen Tao die "Zehntausend Dinge" erzeugt. Wenn die Grenze einer solchen Entwicklung erreicht ist, sei es bei einem Einzelwesen oder selbst bei Welten oder Universen, dann erfolgt ein Einatmen dieser speziellen Schöpfung zurück in den nichtmanifestierten Zustand. Yang und Yin bedeuten in einer noch anderen Betrachtungsweise die ausdehnenden und zusammenziehenden Aspekte dieses ewigen Prozesses, dessen Diastole und Systole als in ständiger Tätigkeit betrachtet werden. Die ganze Dynamik dieser Philosophie geht aus dem I Ging oder Buch der Erneuerung4 hervor, in dem gesagt wird:

Erneuerung folgt auf Erneuerung, und Geburt folgt auf Geburt, ohne Ende ist Änderung... Erhaben ist die Änderung! ... Stets in wechselnder Bewegung zirkuliert sie in den sechs grenzenlosen Richtungen.5

Ein großer taoistischer Gelehrter, der Prinz Huai Nan, der gegen Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. schrieb, wandte diese Auffassung von der zyklischen Entwicklung auch auf die Menschheit selbst an:

Wenn der Mensch Myriaden von Umwandlungen ohne Ende durchmacht, indem er stirbt und wieder zu neuem Leben erwacht, ist dies eine Quelle der Freude, die unaussprechlich ist. Tod und Wiederauferstehung sind triumphierende Quellen der Freude.6

Wenn ein Mensch schließlich das Wissen über Tao aus erster Quelle erhalten hat, bewahrt er seine Einheit nach dem Tode "und wird nicht in sieben Teile zerstreut, wie man gemeinhin sagt."7 Er ist "zum Ursprung zurückgekehrt", oder er hat, wie ein westlicher Mystiker sagen würde, eine bewußte Vereinigung mit der Göttlichkeit im Herzen erreicht.

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Bildtext: Mit Genehmigung der Philosophical Library, Inc., New York.

Das beigefügte Diagramm8, veröffentlicht 1948 von Dr. Chen Li-Fu, dem früheren Erziehungsminister der Republik China, einem Gelehrten und ernsthaften Erforscher der klassischen chinesischen Philosophie, kann uns helfen, die kosmischen Anfänge, wie sie der Taoismus sieht, zu verstehen. Abgeleitet von der Philosophie des I Ging, ist diese Figur nur eine symbolische Anordnung und keineswegs eine direkte Darstellung der Tatsachen, die illustriert werden sollen. Es gibt andere ähnliche graphische Skizzen, die man hätte verwenden können, jedoch ist die von Dr. Chen vielleicht die übersichtlichste und einfachste, die zur Verfügung steht, um aufzuzeigen, wie die chinesische Mentalität diese tiefgründigen, schwer verständlichen Wahrheiten des Seins gesehen hat und wie die chinesische Betrachtungsweise in allen Kernpunkten mit allen anderen kulturellen Traditionen übereinstimmt, sie aber nicht nachahmt.

Die transzendentale, noumenale9 Dreieinigkeit ist offensichtlich (Das schöpferische Tao sowie Yin und Yang) und ebenfalls die daraus hervorgehende vierfache Emanation (die vier Phänomene). Zusammen ergeben diese eine Siebenfalt, die nach Auffassung der modernen Theosophie für die gesamte Manifestation charakteristisch ist, ob man als Einheiten Universen, Welten, Menschen oder Atome nimmt. Die taoistische Dreiheit, die hier dargestellt ist, kann mit der theosophischen Auffassung der drei höheren oder "formlosen" Welten des Seins und die "vier Phänomene" des Diagramms können mit den vier niederen Ebenen oder "Formenwelten"10 identifiziert werden. Die nachfolgende Auflösung des Schemas in acht und vierundsechzig Trigramme ist nur die besondere chinesische Methode, den Gegenstand der Umwandlung zeitlich durch die vier niederen oder Erscheinungsebenen des Seins zu analysieren. Jedes Trigramm stellte eine tiefe Verflechtung der den Änderungen unterworfenen Beziehungen zwischen yang und yin11 dar - d. h. der proportionalen Beziehungen zwischen Geist und Materie, die in jeder gegebenen Phase wirksam werden. Die Trigramme als solche beziehen sich dann auf der kosmologischen Ebene auf die Entwicklung der Energien und Stoffe (der "Zehntausend Dinge") durch die verschiedenen Ebenen oder Phasen der Manifestationszyklen. In der chinesischen Religionsphilosophie betrachtete und betrachtet man ja Raum und Zeit als wesentliche Faktoren für die Entwicklung des Schöpferischen Tao während seiner Perioden der Tätigkeit und Ausdehnung, bis es sich in die Formlosigkeit und die Stille des Nichtseins, in das Große Tao, zurückgezogen hat.

Fußnoten

1. Die 2. tonangebende Geistesströmung im altchinesischen Denken, der Mohismus, hat seinen Ausgang genommen von dem zwischen 500 und 396 v. Chr. lebenden Philosophen Mo-Tse, von dem er auch den Namen hat. [back]

2. Vergleiche Philip Rawson und Lazslo Legeza Tao, The Eastern Philosophy of Time and Change, Avon Books, 1973; passim. [back]

3. Unter den vielen vermerkten Übersetzungen dieses Werkes gehören die folgenden vier zu den besten:

Ch'u Ta-kao, Tao Te Ching, Vorwort von Dr. Lionel Giles, Vierte Ausgabe, The Buddhist Society London, 1945.

The Tao Te Ching of Lao Tzu, The Writings of Chuang Tzu, übersetzt von James Legge, Band XXXIX, The Sacred Books of the East, Dover Publications, 1962.

Arthur Waley, The Way and Its Power: A Study of the Tao Te Ching and Its Place in Chinese Thought, Grove Press, undatiert, aber wahrscheinlich 1948.

The Wisdom of Laotse, übersetzt und herausgegeben von Lin Yutang, The Modern Library, Random House, 1948. [back]

4. Siehe The I Ching - The Book of Changes, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von James Legge, Dover Publications, 1963; und The I Ching or Book of Changes, übersetzt von Richard Wilhelm, zwei Bände, Routledge and Kegan Paul, 1951.

I Ging - Das Buch der Wandlungen, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, 1972. Der Leser wird auf die Feststellung von Tan Tai aufmerksam gemacht (Übersetzer von Dr. Chens Werk), daß Legge und andere I Ging zwar das Buch der Wandlungen nennen, daß es jedoch das Buch der Erneuerung heißen sollte. Tan sagt, das Wort "i" oder "Yih" bedeutet etwas mehr als Wandlung, so wie dies auch an einer Stelle im Klassiker selbst zum Ausdruck kommt: "Die dauernde Vervielfältigung und Erneuerung aller Dinge." [back]

5. Wie in Philosophy of Life zitiert, Dr. Chen Li-Fu, Philosophical Library, 1948; Seiten 19, 22. [back]

6. Tao - The Great Luminant, Essays von Huai Nan Tzu mit einleitenden Artikeln, Anmerkungen, Analysen von Evan Morgan, Ch'eng-Wen Publishing Co., Taipei, 1966; Seite 33. [back]

7. Ibid., Seite 257, Anmerkung 31. [back]

8. Philosophy of Life, Seite 27. Wir haben dieses Diagramm etwas abgeändert, indem wir verschiedene Titel hinzufügten (z. B. das Größere Tao, das Schöpferische Tao und Yin und Yang), um eine größere Klarheit zu schaffen. [back]

9. rein mit dem Verstand aufgefaßte [back]

10. H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre, 1888; I. Seite 221. [back]

11. Vergleiche Tao, The Eastern Philosophy of Time and Change, Seite 15. [back]