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Auf Opfer folgt Regen

Im letzten Sommer war es uns möglich, einer der alljährlichen religiösen Veranstaltungen eines Pueblo-Indianerstammes in Arizona beizuwohnen, dem Schlangen-Antilopen-Tanz, bei dem einige Tänzer lebende Schlangen im Mund tragen. Während der vergangenen hundert Jahre haben zahlreiche Anthropologen und Laien dieses Ritual studiert (von dem angenommen wird, daß es ein Regentanz ist), das für den westlichen Menschen sehr fremdartig ist. Bis vor ungefähr zehn Jahren - die Hopis haben dann selbst teilweise den Schleier gelüftet - verstanden nur wenige Beobachter, was dieser Tanz tatsächlich bedeutet: eine symbolische Darstellung kosmologischer Wahrheiten. Die fesselnde und spektakuläre Zeremonie ist nur der sichtbare Höhepunkt einer vorhergehenden sechzehntägigen Periode, in der sich die Teilnehmer in völliger Abgeschiedenheit in ihren unterirdischen Kivas1 spirituell vorbereiten. Obgleich während dieser Zeit äußerlich sich wenig zu ereignen scheint, spürt man doch, daß auf einigen Ebenen des Bewußtseins intensive Tätigkeit herrscht, denn die Luft scheint buchstäblich zu vibrieren.

Einen Tag vor dem Tanz und dann wiederum am Tage des Tanzes selbst laufen die Initianten vor der Morgendämmerung vier oder fünf Meilen in die Wüste hinein. Einer von ihnen trägt ein Gefäß mit im Kiva geweihtem Wasser. Bei der Rückkehr kommt es dann bei den letzten zwei Meilen zu einem ungestümen Wettlauf, wobei der Wasserbehälter jeweils an denjenigen weitergegeben wird, der den vordersten Läufer überholt. Das alles geht während des ganzen Laufes mit außerordentlicher Schnelligkeit vor sich, die selbst dann eingehalten wird, wenn die Läufer am Ende des Rennens die steile Wand der Mesa hinaufklettern.

Die warmen Farben der Wüste waren noch nicht sichtbar, die Landschaft lag in grauen Schattierungen vor uns, als wir am Rande der Klippe standen und auf die Läufer warteten. Um die Mesa herrschte die Stille der Nacht, nur ein scharfer, pfeifender Wind blies so kalt, daß man, obwohl es August war, sich Decken oder Mäntel umhing. Von den Leuten, die einzeln oder in kleinen Gruppen auf dem Felsen Platz fanden, sprach kaum jemand; alle warteten auf das, was kommen sollte. Dann wurden in der Ferne kleine Punkte sichtbar, die beim Näherkommen menschliche Gestalt annahmen. Bald hörte man die Läufer bei ihrem Zickzacklauf rufen, und schließlich begannen die Vorläufer die Felswände mit unglaublicher Geschwindigkeit hinaufzusteigen. Nun verdoppelten sie unter den lautstarken Anfeuerungen durch die Menge ihre Bemühungen in einem anstrengenden Endlauf. Als der Gewinner jedoch das Ziel erreicht hatte, zog er sich schnell und still, ohne ein Zeichen des Triumphes zurück, und alle, die nach ihm kamen, taten das gleiche.

Man glaubte allgemein (und es wird noch immer angenommen), daß diese Zeremonie nur vorgenommen wird, um den Regen für die Maisernte herbeizuholen. Und tatsächlich entladen sich meist Wolken über dem Land, wenn der Tanz vorbei ist. Der wahre Grund liegt jedoch darin, daß die Hopi-Indianer überzeugt sind, daß der Kosmos, der Mensch und die Natur um ihn herum eine Einheit sind und voneinander abhängen. Mit Opfern ernährt der Mensch die Götter oder Kachinas. Diese verleihen ihm ihrerseits Segen in Form von Regen, der den Boden düngt und die Pflanzen wachsen läßt. Die Pflanzen wiederum geben ihr Leben, um als menschliche Nahrung zu dienen und schließen somit den Kreislauf. Auf den ersten Blick mag die Rolle des Menschen hierbei ziemlich unklar erscheinen, aber während der sechzehn Tage der Vorbereitung haben die Teilnehmer ihre besten physischen und psychischen Energien aufgeboten. Doch die Zeremonie dient auch anderen Zwecken; das Rennen zum Beispiel ist kein Wettbewerb, sondern ein selbstloses und bewußtes 'Geben' von Kraft, indem man sich bis zur äußersten Grenze der Belastung treibt. Daß dabei auch feinere Formen von Vitalität freigesetzt werden und in welcher Weise, bleibt der Intuition des Außenstehenden überlassen und gehört nicht speziell zu dieser Überlieferung.

Das rituelle Opfer ist von den Gepflogenheiten in unserer Sphäre so weit entfernt, daß wir nur wenig oder gar kein Verständnis dafür haben. Für gewöhnlich nehmen wir an, es sei eine Art geschäftlicher Transaktion: Der Bittsteller legt etwas Wertvolles aus seinem Besitz auf den Altar, und wenn die Gabe in den Augen der Gottheit Gnade findet, wird ihm dafür eine besondere Bitte erfüllt. Ursprünglich bedeutete es jedoch in jeder Kultur einen Prozeß des 'Gebens' ohne daran geknüpfte Erwartungen. Das rituelle Opfer war ein unerläßliches Glied in der langen Verkettung von Ursachen, die das ganze Universum in Bewegung hält. Es könnte nicht überzeugender und zugleich umfassender erklärt werden als in der Bhagavad-Gita, der heiligen Schrift eines Volkes, das wir Inder nennen. "Alle Kreatur wird durch Nahrung erhalten, Nahrung wird durch Regen hervorgebracht. Regen kommt vom Opfer, und Opfer wird durch die Tat vollbracht." So wie die Hopi-Indianer nicht an den lebenspendenden Regen denken, sondern an die Erfüllung ihrer Verantwortlichkeit in der kosmischen Ordnung, genauso schreibt auch Krishna, der Avatara der alten Hinduschriften, keine leeren Riten zur Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse vor. Er gibt vielmehr Arjuna - oder einem strebenden Menschen - die Weisung, seine eigenen Interessen zu vergessen und all seine Handlungen dem Wohl des größeren Ganzen zu widmen.

Obgleich in der jüdisch-christlichen Religion zeremonielles Opfern heute kein Ausdruck der Verehrung mehr ist, so ist und bleibt es doch ein spiritueller Begriff von vitaler Bedeutung, da es ein Grundstein für die Existenz ist. Wenn wir die Gültigkeit dieser Voraussetzung akzeptieren, haben wir dann nicht bei unseren Verpflichtungen versagt? Denn ist nicht das Verlangen nach Erwerb und Prestige das Hauptmotiv, das für die meisten Handlungen als richtig anerkannt und gutgeheißen wird? Als Zivilisation haben wir meist nur genommen, aber unendlich wenig gegeben und kaum etwas geopfert, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Lange Zeit haben wir angenommen, das sei richtig, wenn auch seit einiger Zeit vielerorts Zweifel aufgetreten sind. Denn sind mit all unserem materiellen Fortschritt nicht auch unsere Probleme im gleichen Verhältnis gewachsen?

Zu Hungersnöten, Krankheit, Armut, Kriegen und den zahlreichen anderen Geißeln, unter welchen die Menschheit schon immer zu leiden hatte, kommt noch hinzu, daß unser Planet mehr denn je durch hereinbrechende Katastrophen gefährdet zu sein scheint. Da sich die Stimmen der Angstmacher und derer, die sich wirkliche Sorgen machen, vermischen, ist es manchmal schwierig zu unterscheiden, wem man glauben soll. Dennoch gibt es genügend nüchterne Tatsachen, die uns zum Nachdenken veranlassen. Das Schreckgespenst weltweiten Mangels erhebt sich überall, ganz zu schweigen davon, daß in absehbarer Zeit es möglich ist, daß in manchen Gegenden die Luft nicht mehr geatmet und das Wasser nicht mehr getrunken werden kann. Es wird sogar befürchtet, daß wir den schützenden Van-Allen-Gürtel beschädigt haben, was, wenn das so weitergeht, weitreichende katastrophale Folgen haben könnte.

Mehr und mehr stellt sich heraus, daß der Fehler nicht im technischen Fortschritt als solchem liegt, nicht einmal daran, wenn dieser fehlt, denn an der Wurzel fast jeden beklagenswerten Zustandes liegt in irgendeiner Form menschlicher Frevel. Es ist offenkundig, daß die meisten unserer Schwierigkeiten, ganz gleich ob sie wirtschaftlicher, rassischer, ökologischer oder anderer Art sind, durch die Bereitschaft zum 'Opfer' durch einzelne, Gruppen oder sogar von der gesamten Menschheit gelöst werden könnten. Es stimmt, bedrückende Umstände haben sich oft historisch entwickelt, und nun ist das Gewebe in seinen Verästelungen so verschlungen, daß jedes Anziehen einer Faser noch zusätzliche Spannung für tausend Knoten verursacht. Aber mit einmütiger Entschlossenheit würden manche dieser Knoten verschwinden, weil sie hauptsächlich in den Vorurteilen der Menschen bestehen. Es liegt auf der Hand, daß selbstsüchtige Interessen aufgegeben werden müssen, wenn die Behandlung von materiellen Fragen von Nutzen sein soll. Doch das gleiche Prinzip gilt auch für das, was wir psychologische Krisen nennen, wobei Nationen oder Rassen in eine böse Sackgasse von Haß und Mißverständnis geraten sind. Wenn wir die Ansprüche auf unsere angenommene Überlegenheit aufgeben könnten und im Gegner unseren Bruder erkennen würden, dem wir vorwarfen, was wir bei uns selbst am meisten verabscheuen, dann kann dadurch vielleicht eine Grundlage für gegenseitige Toleranz und schließlich gegenseitige Achtung doch noch einmal geschaffen werden.

Es gibt viele, die tief beunruhigt sind und gern zur Linderung menschlicher Leiden beitragen würden, aber keine Ahnung haben, wie sie ihre konstruktiven Absichten in die Tat umsetzen können. Die Bemühungen der einzelnen Menschen erscheinen unbedeutend und unwirksam im Vergleich zu den Leistungen der Gesellschaft, die wie ein Koloß zu unbeholfen ist, um auf halbem Wege korrigiert werden zu können.

Zuerst sei gesagt, daß jeder Mensch, der guten Willens ist, jederzeit Gelegenheit hat, genau an der Stelle zu dienen, wo er steht: Was wir unternehmen, tun wir jederzeit für die gesamte Menschheit, auch wenn sie nur in der Gestalt eines einzelnen Mitmenschen, der sich in Not befindet, zu uns kommt. Dann käme noch, daß wir zugegebenermaßen zwar nicht globale Probleme mit einem Handstreich lösen können, doch haben wir schon jede Möglichkeit untersucht, um das wenige zu tun, das uns möglich ist, selbst wenn es nicht so leicht oder so naheliegend ist?

üb wir nun Wege finden oder nicht, um materiell zu helfen, so besitzen wir doch durchaus eine Möglichkeit, das Gleichgewicht der spirituellen Ökologie wieder herzustellen, indem jeder von uns etwas - einen Teil von uns selbst - für die Götter als Nahrung anbietet. In den Augenblicken, in denen wir ehrlich sind, wissen wir sehr gut, welchen Teil wir von uns aufgeben sollten; die scheinbar unwichtigen, aber unangenehmen Idiosynkrasien und Neigungen, Neid, schlechte Laune, Vorurteile, die Verehrung unserer Person. Wir können sie alle aufzählen. Sie würden uns wohl nicht zu Kriminellen machen, aber sie stehen gleichzeitig zwischen uns und unserem inneren Gott - und unserem Wunsch zu helfen.

Traditionsgemäß sollten wir etwas opfern, was wir besonders schätzen. Merkwürdigerweise würden wir genau dieser Regel entsprechen, wenn wir unsere Schwächen und Begrenzungen auf den Altar niederlegten, denn sie sind uns teurer, als wir uns dessen bewußt sind, da wir sie irrtümlicherweise als unser wahres Selbst betrachten. An diesem Punkt der menschlichen Entwicklung sind sie auch das einzige geeignete Geschenk, denn unsere Unkenntnis in bezug auf die höheren Reiche der Natur würde jedes zeremonielle Opfer ausschließen, das in alten Zeiten festgesetzt wurde und immer noch für jene Völker gültig ist, die in ihren Traditionen verwurzelt blieben.

Die Hinduschriften sagen, daß in Zeiten spiritueller Dunkelheit Krishna die Gerechtigkeit wieder herstellt, indem er sich verkörpert und in die Welt der Menschen herabsteigt - in die niederen Regionen für die Gottheit. Viele Mythen und Überlieferungen befassen sich mit dem Thema der Reise in die Unterwelt. Groß sind die Leiden des Helden, und obgleich der Sinn einiger Einzelheiten seiner Abenteuer für uns unverständlich sein mag, so wissen wir doch, daß der Zweck eines derartigen Aufenthalts zum Teil darin liegt, die Bewohner dieser Sphären zu bessern.

Nicht nur legendäre Helden oder Avataras haben die Fähigkeit, diese großen Taten auszuführen, sondern jeder, dessen Beweggrund Mitleid ist. Um den Hades zu erreichen, braucht man nicht weit zu reisen, denn man findet ihn in den Schlupfwinkeln der eigenen Natur, und wer einige der dort lauernden Drachen erschlägt, wird im Triumph zurückkehren, denn er hat seinen Beitrag zur Erhebung der ganzen Menschheit geleistet.

Im Kreislauf von Ursache und Wirkung ist der Einsatz des einzelnen von entscheidender Bedeutung, denn er enthält mehr Kraft als eine atomare Kettenreaktion. Der 'Regen', der auch nur durch einige verursacht wurde, wird seine Segnungen nicht nur auf jene ergießen, welche opfern, sondern ebenso auf alle in ihrer Umgebung, und noch viele mehr werden daraus Nutzen haben, weil sie "die richtige spirituelle Nahrung essen" können, die daraus wächst. Oder, wie Krishna zu Arjuna sagte: "Denn was immer von hervorragendsten guten Menschen geschieht, wird auch von anderen getan. Die Welt folgt dem ihr gegebenen Beispiel." Die Hopi-Indianer betrachten ihre Aufgabe noch viel unmittelbarer, denn sie glauben, daß nur dann, wenn sie weiterhin ihre überlieferten Bräuche im rechten Geist ausüben, das vitale Gleichgewicht zwischen der inneren und der äußeren Welt bewahrt werden kann. Sollten sie in ihrer Mission versagen, so wären Verheerungen, die den ganzen Kontinent in Mitleidenschaft ziehen würden, unvermeidlich. Daß sie dabei nicht mehr als eine verschwindend kleine Handvoll Menschen sind, scheint sie nicht zu entmutigen.

Wenn Opfern so deutlich ein Gesetz der Natur ist, wann werden wir es erfüllen?

Fußnoten

1. Kiva, ein großer Raum in einem indianischen Pueblo-Dorf, der sich oft ganz oder teilweise unter der Erde befindet und für religiöse Zeremonien und andere Zwecke benutzt wird. [back]